𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟔

281 16 0
                                    


Noch bevor Haru die Augen öffnete, wusste sie, dass sie sich nicht mehr in der Halle befand. Die Luft hier war kälter und roch muffig und sie fühlte, wie sie mit dem Rücken auf einer durchgelegenen, aber weichen Matratze ruhte. Trotz der Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war, war Haru nicht nach aufstehen zu Mute. Der große Nen-Verbrauch zehrte noch immer an ihrer Energie und auch das emotionale Trauma, das sie erfahren hatte, war nicht zu verachten... Der Kampf, ihre Flucht... der Vater!

Mit einem Mal saß Haru kerzengerade im Bett und alles, was sie vor wenigen Minuten noch verdrängt hatte, schlug wie ein tosender Wasserfall auf sie ein. Haru fühlte sich schrecklich und die Last der Erinnerungen drückte ihr die Kehle zu. Sie keuchte, musste Husten und im nächsten Augenblick regten sich Geräusche hinter der Tür, die den kleinen Raum, in dem sie lag, von der Außenwelt abtrennte.

„Ah, ist wohl endlich wach."

Als sich die Tür öffnete, hatte sich Haru bis zum Kinn hinter ihrer dünnen Decke verschanzt. Nicht, dass ihr das im Ernstfall etwas gebracht hätte - aber je mehr Distanz sie zwischen sich und diese Menschen brachte, desto wohler war ihr. Im nächsten Moment betraten zwei Personen das Zimmer, Haru erkannte sie wieder: Es handelte sich um Phinks, den Mann im grünen Trainingsanzug und Aiko, der ihr vom Aussehen etwas jünger als Phinks erschien und ähnlich wie der, den sie Boss nannten, einen bodenlangen Mantel trug. Doch war dieser nicht schwarz, sondern grell bunt und besonders die Rot, Orange- und Gelbtöne stachen ihr ins Auge.

„Bist ja tatsächlich wach. Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr aufwachen. So wie der da, den du ja so elegant erledigt hast." Mit einem Kopfnicken deutete Phinks in die andere Ecke des Raums und jetzt erst entdeckte Haru Nobunaga, der dort tief am Schlummern war. „Da hast du ja echt was angerichtet, Mädchen. Sieht man dir gar nicht an. Ich mein, wir haben wirklich alles versucht, um ihn wieder aufzuwecken, aber zwecklos. Nicht mal ein gut gemeinter Schlag in die Magengegend hat ihn gekratzt."

Haru erinnerte sich an den Schlag, den Phinks dem Vater versetzt hatte und sie musste erst gar nicht mit seiner Faust in Berührung kommen, um zu fühlen, wie sich ihr eigener Magen umdrehte.

„Deswegen sind wir übrigens hier -" Aiko hatte sich zu Wort gemeldet und blendete sie nun mit einem strahlenden Lächeln: „- du musst doch sicher wissen, wie wir ihn wieder aufwecken können, oder? Dann kannst du auch gerne weiterschlafen, Haru. So heißt du doch, oder?" Die Frage war offensichtlich rhetorisch, denn Aiko wollte schon weitersprechen, doch Haru, die all ihren Mut zusammen genommen und die Decke vor ihrem Gesicht sinken gelassen hatte, unterbrach ihn: „Wo bin ich?"

„Ach das. Bist noch immer in Yorknew City, falls du das wissen wolltest. Dieses ranzige Apartment hab' ich schon länger und der Boss meinte, dass wir dich am besten hier hinbringen sollten. Ist wohl nicht so zugig wie im alten Unterschlupf, auch wenn's wohl die gleiche Anzahl an Ungeziefer gibt." Phinks zuckte mit den Schultern und sein Blick wanderte zu Nobunaga. „Und? Weißt du jetzt, wie wir ihn wieder aufwecken können?"

Haru konnte nur den Kopf schütteln, denn sie wusste es wirklich nicht.

„Aber du hast ihn doch erst in diesen Zustand versetzt! Wie kannst du da nicht- " Diesmal war es Aiko, der Phinks unterbrach.

„Gemach, gemach. Alles der Reihe nach. Du bist eine Anhängerin von Rising Sun, ist das richtig? Von denen hab' ich schon gehört. Eine Sekte, die Nen fürchtet, sich aber einige ihrer Nutzer als Wachhunde hält. Es kann also gut sein, dass sie nie vollständig gelernt hat, es zu kontrollieren." Diese Erklärung schien Phinks fürs erste zu beschwichtigen, obwohl er noch immer nicht glücklich aussah. „Aber vielleicht kann ich dir helfen, Haru."

Aiko ließ sich an ihrem Bett nieder und ein Duft stieg ihr in die Nase, der sie an einen Gewürzmarkt erinnerte: Anis, Safran, Gewürznelken, Zimt, Curry, Koriander... Gewiss war da noch mehr, doch ihr fehlendes Kräuterwissen machte es ihr unmöglich, noch mehr von dem, was sie an ihm roch, aufzuzählen. Als Aiko ihr überraschtes Gesicht sah, stieß er ein glockenklares Lachen aus: „Ach das! Ich hatte vergessen, wie die meisten am Anfang darauf reagieren." Aiko öffnete die Schnalle seines Mantels und schlug ihn zur Seite, um Haru die Innenseite zu präsentieren: an den Mantel genäht waren hunderte kleiner Innentaschen, die je mit einem kleinen, undeutlich beschrifteten Fläschchen befüllt waren.

„Das ist meine Kollektion an Düften und gleichzeitig meine Nen-Fähigkeit. Ich bin ein Manipulator, musst du wissen. Genauer, ich manipuliere Gerüche, die mit Emotionen versetzt sind. Atmest du auch nur ein bisschen was aus einem dieser Flakons ein, kann ich dich fühlen lassen, was ich will. Von blinder, rasender Wut bis hin zu blinder, unbändiger Liebe. Emotionen machen es einem wirklich schwer, klar zu sehen."

Mit einem Mal wusste Haru, was den Ausbruch des Kampfwahns in der Halle ausgelöst haben musste und sie wünschte, sie hätte Aiko deswegen hassen können, doch es war zu viel passiert, um die Schuld auf irgendjemanden abwälzen zu können. Dazu kam, dass er schon wieder so breit grinste, dass es Haru beinahe ihre Sorgen vergessen ließ.

„Wenn du möchtest, kann ich dir helfen, dich zu konzentrieren." Aiko fischte in einer seiner unzähligen Taschen herum und zog eines der Fläschchen hervor. Es war mit einer dunkelblauen Flüssigkeit gefüllt und oben darauf war eine Sprühkappe geschraubt. Noch bevor Haru Zeit hatte, sich vorzubereiten, drückte er darauf und ein feuchter Nebel umhüllte in der nächsten Sekunde ihr Gesicht. „Versuche, dich auf deine innere Kraft zu konzentrieren. Spüre sie, werde dich ihr bewusst. Und wenn du sie gefunden hast, greif nach ihr und lass sie nicht wieder los."

Haru spürte, wie ihre Umgebung immer weiter in den Hintergrund rückte und Aikos Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich ganz verstummte. Haru hatte nicht bemerkt, wie sie ihre Augen geschlossen hatte, doch als sie sie wieder öffnete, schien sich die Welt gewandelt zu haben. Alles war mit einem merkwürdigen Grauschleier überzogen, lediglich die Auren der im Raum anwesenden - und Haru konnte nur vermuten, dass es sich dabei darum handelte - schienen in unterschiedlichen Farben zu glühen. Da war Aikos, die die gleichen Rot/Orange Töne wie sein Mantel besaß. Phinks Nen hingegen strotzte vor Kraft und glühte passendermaßen golden. Als Haru ihren Blick zu Nobunaga wandern ließ, bemerkte sie jedoch etwas Seltsames: seine Aura schien längst nicht mehr so kräftig zu leuchten und, was wesentlich besorgniserregender war, sie befand sich nicht mehr in seinem Körper, sondern schwebte wie eine losgelöste Hülle ca. 50cm über ihm. Lediglich ein dünnes, silbernes Band schien beide Teile, Körper und Geist, noch miteinander zu verbinden.

Haru erhob sich, um zu ihm zu eilen, doch noch als sie die Beine aus dem Bett schwang, fühlte sie, dass etwas nicht stimmte. Ihr Körper schien auf der Matte zu bleiben, während sie selbst sich bewegte. Ein merkwürdiges Gefühl erfasste sie, als hätte sich ein Teil von ihr abgelöst und als sie zurückblickte, sah sie sich, die Augen geschlossen, noch immer unbewegt an derselben Stelle ruhen. Lediglich ein silbernes Band, das dem von Nobunaga ähnlich war, verband sie noch mit sich selbst. Dieses Erlebnis war ihr fremd und vertraut zugleich und anstatt deswegen in Panik zu verfallen, nahm sie es einfach hin. Es gab nun wichtigeres, über das sie nachdenken musste.

Als sie an Nobunagas Seite stand, griff sie vorsichtig und beinahe wie instinktiv nach der silbernen Schnur und zog daran, bis sich sein Nen langsam in Bewegung setzte und schließlich wieder ganz mit seinem Leib verschmolz.

Als es wieder hell zu glühen begann, kehrte auch Haru zu ihrem Körper zurück und beide fuhren in derselben Sekunde aus der Trance.




𝐀 𝐁𝐚𝐧𝐝𝐢𝐭𝐬 𝐒𝐞𝐜𝐫𝐞𝐭 | 𝐂𝐡𝐫𝐨𝐥𝐥𝐨Where stories live. Discover now