𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏

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⠀Wie funktioniert Religion in einer Welt, in der Menschen zu Göttern werden können?⠀
Die Antwort darauf ist, wie bei so vielem, Unwissen. Und Haru wusste es wirklich nicht besser. Es war natürlich nicht ihre Schuld, schließlich kann niemand etwas für die Umstände, in die er hinein geboren ist. Und doch war es ihre Unwissenheit, die sie erst in diese prekäre Lage brachte.⠀
Doch erzählen wir die Geschichte von Anfang an…⠀

Der Stapel Flugblätter in Harus Hand schien einfach nicht kleiner werden zu wollen. Schon seit Stunden standen sie hier, sie und die anderen Nen-Dämonen, und händigten Flyer an Passanten aus, die sie zu einer Messe der religiösen Vereinigung ‚The Rising Sun‘ einluden.
Es war der Abend des elften Augusts und trotz der Tatsache, dass die Sonne des Tages die Luft angenehm aufgewärmt hatte, fröstelte Haru. Das tat sie immer, wenn ihr Vater sie zwang, sich unter Menschen zu begeben. Nun, eigentlich war ihr Vater nicht ihr richtiger Vater – in ‚The Rising Sun‘ nannte ihn jeder so und Haru konnte sich nicht erinnern, dass er jemals seinen wahren Namen verraten hätte.
Er war ihr religiöser Anführer, Richter in allen Streitfragen und die entscheidende Kraft, wenn es darum ging, zu bestimmen, wohin die Sekte – denn das war wohl die treffendere Bezeichnung für ihre kleine Gemeinschaft – als nächstes ziehen würde. Dieses Mal hatte er Yorknew City auserwählt und das nicht ohne Grund: die Ereignisse rund um die Chimären-Ameisen hatten viele Menschen rat- und hilflos zurückgelassen und in dieser schwierigen Zeit war es, davon war er überzeugt, Aufgabe der Kirche, Ordnung und Sicherheit zurück in die Leben der Menschen zu bringen.

Und so stand Haru nun da – den Kopf demütig gesenkt, die Hand mit den Flugblättern von sich gestreckt, als tatsächlich jemand danach griff. Sie wagte es nicht aufzusehen, spürte lediglich den leichten Zug in ihrer Hand, als dieser das Schriftstück an sich nahm.

„Wir laden zur Hauptversammlung in einer krisenreichen Zeit. Finden sie Halt in der Hand Gottes, wenden sie sich ab von dem Übernatürlichen, dem Teufelswerk, dass das moderne Leben ist. Stellen wir uns vereint hinter Gott, sodass unsere Seelen nicht entarten und wir ins Paradies einfahren mögen.“⠀
Die Stimme des Fremden war seltsam melodisch, als er die wenigen Worte auf dem Papier verlas. Vorsichtig wagte Haru es, den Blick von ihren Schuhspitzen zu lösen und erhaschte einen kurzen Blick auf den Mann, der ihr gegenüberstand. Er trug einen langen, dunkel-violetten Mantel mit goldenen Knöpfen und einem recht auffälligen Kragen und – ihm fehlte ein ordentliches Oberteil? Beschämt wandte Haru sich ab, wenn der Vater ihren anmaßenden Blick gesehen hätte, hätte sie mächtig Ärger dafür bekommen.

„Huh?“ Das war wieder der Fremde. Den Zettel hatte er unachtsam in eine Tasche seines Mantels gestopft und nun sah er Haru und die anderen Fünf, die neben ihr Flugblätter verteilen, unverhohlen an: „Du hattest Recht, Nobunaga. Zetsu. Alle Fünf. Und so gründlich.“

Haru wagte nicht, noch einmal aufzusehen. Sie verstand nicht, wovon der Fremde sprach, aber bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, vernahm sie ihr das im Gegensatz dazu nur allzu bekannte, dämonische Wort: Nen.

„Warum unterdrückt ihr euer Nen hier am helllichten Tage? Auffälliger geht’s ja wohl kaum.“ Das war sein Freund, Nobunaga schien sein Name zu sein und Haru zuckte bei der Erwähnung sichtlich zusammen. Nen. Das war nichts, worüber man so offen sprach, dass hatte der Vater ihr oft genug eingebläut. Nen war böse, Nen stammte von den Dämonen, die diese Welt brennen sehen wollten und dass sie und ihre fünf Mitstreiter dazu in der Lage waren, es zu kontrollieren, war eigentlich Sünde. Die einzige Chance, die ihnen blieb, Erlösung im Leben nach dem Tod zu finden, war, ihr Nen lediglich für die Zwecke des Vaters und der Sekte anzuwenden. Und hier standen diese Fremden nun und sprachen so selbstverständlich darüber, als unterhielten sie sich darüber, was sie zum Frühstück gegessen hatten.

Haru wusste nicht, was sie tun, geschweige denn, was sie antworten sollte und ihren Freunden schien es ähnlich zu gehen.⠀
„Es ist Sünde...“ brachte sie schließlich beinahe flüsternd hervor, denn eine bessere Antwort fiel ihr nicht ein. Natürlich war Nen Sünde, und natürlich musste man es deswegen stets verbergen, doch hatte der Vater ihr einmal erzählt, dass es besonders in der Stadt Leute gäbe, die nicht so dachten. Diese zu bekehren wäre ihre wichtigste Aufgabe.

„Wenn es sie interessiert, dann kommen sie doch zu unserer jährlichen Hauptversammlung hier in der Stadt. Dort werden all ihre Fragen beantwortet werden, mein Herr.“ Harus Stimme schien gefestigt, als sie ein zweites Mal sprach. Ihn einzuladen schien ihr die beste Option zu sein, denn die wenigsten schlugen eine persönliche Einladung aus und der Vater betonte immer, wie wichtig es sei, gerade die schwarzen Schafe in die Gemeinde zu holen.

„Ich werde es mir überlegen,“ erwiderte der Fremde, und, als er schon im Begriff war, weiter zu gehen, fügte er noch ein „man sieht sich, Zetsu-Mädchen,“ hinzu.

Damit verschwanden er und seine beiden Begleiter und Haru blieb mit unsicherem Gefühl im Magen zurück.
Was war da gerade passiert?

𝐀 𝐁𝐚𝐧𝐝𝐢𝐭𝐬 𝐒𝐞𝐜𝐫𝐞𝐭 | 𝐂𝐡𝐫𝐨𝐥𝐥𝐨Where stories live. Discover now