𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟏𝟔

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     Die Nacht verbrachte Haru in einem kleinen Motel am Rande der Stadt.

Nach der Führung am gestrigen Tage hatte sie sich noch länger im Kloster umgesehen und versucht, weitere Hinweise zu entdecken, und obwohl ihr vieles dort bekannt vorgekommen war, hatte sie jedoch nichts Aussagekräftiges in Erfahrung bringen können.

Der Mönch in den Bergen war ihre letzte Chance.

Haru machte sich früh am nächsten Morgen auf den Weg. Da sie nichts für die Reise gepackt hatte, hatte sie kaum etwas, das sie nun mitnehmen konnte und der Großteil des Geldes, das sie noch in ihren Jackentaschen gefunden hatte, war für das Zimmer drauf gegangen. Lediglich eine Flasche mit Wasser und ein Sandwich hatte sie einstecken können; doch wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag und der Mönch da lebte, wo sie ihn vermutete, dann würde sie nicht allzu lange laufen müssen.

Eine Gewissheit, dass der Weg, den sie Einschlug, der Richtige war, hatte sie freilich nicht. Anita hatte ihr nicht sagen können, wo der Mönch kampierte und auch sonst keiner der Angestellten im Museum hatte es gewusst, doch je länger sich Haru in diesem Land aufhielt, desto sicherer wurde sie: sie kannte sich hier aus. Und auch, wenn es nicht direkt eine Erinnerung war, so war es doch eine Ahnung – dass der Ort, der vor zweitausend Jahren schon heilig war, auch heute noch besucht werden würde.

Ihr Weg führte sie einen schmalen Gebirgspfad hinauf, der sich in kleinen Windungen in immer höhere Gefilde schlängelte. Haru bemerkte bald, dass er nicht viel begangen war. Seit ihrer Abreise war sie keiner Menschenseele begegnet und an einigen Stellen war er schon so von Unkraut und Gras überwuchert, dass sie einige Male beinahe in die falsche Richtung abgebogen wäre.

Vier Stunden ging das so – Haru, außer Atem, schwitzend, mit Sonnenbrand auf den Armen und den Pfad wie ein Rohrspatz verfluchend, bis sie mit einem Mal den höchsten Punkt erreicht hatte: wie aus dem nichts fiel vor ihr ein grünes, dicht bewaldetes Tal ab, das von allen Seiten von hohen, scheinbar unüberwindbaren Felswänden eingekesselt war. In der Mitte dieses Tals lag ein See, und in diesem wiederum erhob sich eine kleine Insel mit einem einzelnen, großen Baum.

Obwohl Haru diesen Ort in ihren Träumen nie gesehen hatte, wusste sie sofort, dass sie hier richtig war. Das heilige Tal, die Insel der Götter... der Anblick kam ihr so vertraut vor, dass sie schauderte.

Ohne zu zögern machte sie sich an den Abstieg.

Es dauerte nochmals eine Stunde, bis Haru den Rauch eines Lagerfeuers wahrnahm. Sie hielt eilig darauf zu und erkannte bald zwischen den Baumstämmen am Rand des Sees ein kleines Lager. Dort, auf einer aus Baumbuszweigen gewebten Matte, saß ein Mann und schien gänzlich in Gedanken versunken zu sein.

Haru trat heran, bis er in Hörweite war. Dann räusperte sie sich: „Ein Mann, dessen Glaube den Tod bezwingt. Ein wenig eigenartig, finden sie nicht auch?"

Der Mann drehte sich zu Haru um. Wenn er überrascht war, eine fremde junge Frau in diesem heiligen Tal anzutreffen, dann zeigte er es nicht: „Unter dem Himmel und unter der Sonne gibt es viele Geschöpfe Gottes, die unserem Verstande nicht zugänglich sind. Eigenartig daran ist nur die menschliche Verwunderung darüber."

Haru dachte über seine Worte nach und setzte sich dann, ungefragt, ihm gegenüber. Obwohl sie erst kurze Zeit mit der Spinne in Verbindung stand, hatte sie bereits einige ihrer Eigenschaften übernommen. Nicht lange um den heißen Brei herum zu reden, war eine davon.

„Sie sind Anhänger eines Glaubens, der auf den Aufzeichnungen eines Mannes mit dem Namen Jacint basiert, habe ich recht?"

„Das, was Jacint gepredigt habt, ist nicht einzigartig. Doch ja, manche von uns richten sich auch heute noch nach seinen Lehren." Noch immer sah er nicht so aus, als würde ihn Harus Gegenwart großartig stören, im Gegenteil: auf sie wirkte er beinahe so, als würde er sich freuen, nach langer Zeit mal wieder ein Gespräch zu führen, wenn auch unter so merkwürdigen Umständen. Er lächelte, hatte die Hände im Schoß gefaltet und lediglich die feinen Fältchen um seine Augen verrieten ihr, dass er schon etwas älter sein musste.

„Dann haben sie seine Schriften gelesen." Haru sah den Mönch nun direkt an: „Sie wissen von Jacobe, sie wissen von der Kontemplation. Habe ich nicht recht?"

Der Mönch nickte.

„Sagen sie mir wie."

Zum ersten Mal schien sich der Mönch aus seiner starren Fassade zu lösen: „Es gibt vieles, das sich lohnt zu sagen und noch mehr, dass niemals gesagt werden sollte. Wovon genau soll ich sprechen?"

„Sagen sie mir, wie man den Tod überwindet." Haru sprach leise, doch schienen die Geräusche der Natur um sie herum mit einem Mal verstummt zu sein. Jedes ihrer Worte klang klar und deutlich und stach wie Splitter kalten Eises ihre Haut. Ihr war klar, was sie verlangte. Dies zählte nicht zu den Dingen, über die man jemals sprach, geschweige denn, mit einem Fremden.

Der Mönch erwiderte ihren Blick und Haru meinte, beinahe so etwas wie eine Ahnung daraus lesen zu können.

„Warum denkt ein junges Mädchen wie du an den Tod, wenn es doch eigentlich an das Leben denken sollte?"

„Wissen sie es nun, oder wissen sie es nicht? Diese Frage ist doch überhaupt der Grund, weshalb sie hier draußen in der Einsamkeit meditieren. Das weiß ich, ich habe es schließlich -"

Ich habe es schließlich auch so getan. Damals, vor zweitausend Jahren. Harus Satz brach ab. Es war unmöglich, dass sie das aussprach, was sie gerade gedacht hatte.

Der Mönch blickte sie noch immer an, kein einziges Mal hatte er die Augen abgewendet. Als Haru versuchte, in ihnen zu erkennen, was er dachte, stieß sie auf eine unüberwindbare Mauer.

„Ich bin nicht hier, um die Wege der Kontemplation eines anderen zu erlernen, denn jeder Mensch ist einzigartig in seinem Abbild Gottes. Was den einen in den Himmel erhebt, stößt den anderen in die Hölle. Doch wie es mir scheint, brauchst du meine Antwort gar nicht – du weißt es längst selbst. Oder... du hast es gewusst."

Haru knickte ein. Sie musste nichts erwidern. Der Mönch wusste längst, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.

„Jacobe?"

Haru nickte, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich meine... ich; ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber ich erinnere mich nicht. Nicht richtig."

Der Mönch nickte nachdenklich, doch noch immer zeigte er keine Anzeichen, dass er sonderlich überrascht gewesen wäre. Dass es sich bei Haru um einen zweitausend Jahre alten Mönch handeln könnte, schien ihn genauso wenig zu kümmern wie die kleine Spinne, die schon seit einiger Zeit über sein Gewand krabbelte.

„Sie wirken nicht überrascht."

„Das bin ich auch nicht. Überrascht vielleicht, dass gerade ich die Ehre habe, mit ihnen Bekanntschaft zu machen, doch nicht im Geringsten darüber, dass die Person aus Vater Jacints Texten existiert. Wir beschreiten alle unsere Wege – manche mögen dabei verworrener sein als andere."

„Und was soll ich nun tun?" Haru war der Verzweiflung nahe. So einfach wie der Mann vor ihr konnte sie ihre Situation nicht hinnehmen.

„Nun, vielleicht gibt es einen Grund, weshalb du dich nicht an deine Vergangenheit erinnerst. Du hast vielleicht hunderte Leben gelebt, doch kann niemand hinter die Entscheidungen blicken, die er selbst noch nicht versteht."

„Sie meinen, dass es einen guten Grund gibt, weshalb ich mich nicht erinnern kann? Dass ich mir selbst im Weg stehe?"

„Was kann ich schon sagen? Ich bin nichts als ein einfacher Mönch."




a/n

Ihr wisst gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe, diese Szene zu schreiben xD Ich hoffe, Harus Situation ist nun ein bisschen klarer geworden, aber alles verraten will ich natürlich noch nicht. Außerdem verspreche ich euch, dass Chrollo bald wieder vorkommt, immerhin ist diese Ff ja ihm gewidmet :') Ich mag es aber nun mal nicht, wenn der Oc so gar keine Hintergrundgeschichte hat, deswegen verzeiht mir bitte dieses ganze Drumherum.

over and out

Neo




𝐀 𝐁𝐚𝐧𝐝𝐢𝐭𝐬 𝐒𝐞𝐜𝐫𝐞𝐭 | 𝐂𝐡𝐫𝐨𝐥𝐥𝐨Where stories live. Discover now