Kapitel 3: Karte und Stockkampf

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„Alina!"
Das Mädchen wendet sich überrascht zu mir. Ihre Augen sind müde, aber doch gleichzeitig wach. Es ist merkwürdig, ihr gegenüber zu stehen. In wenigen Monaten wird sie hier eine Heilige sein, aber davon weiß sie jetzt noch nichts. Davon weiß niemand hier etwas. Ich muss schlucken. Ich weiß eigentlich zu viel.
„Kennen wir uns?", fragt Alina irritiert, während ich ein Stück neben ihr herlaufe. Kurz schweifen ihre Augen über meine unglücklich zusammengefürfelte Kleidung.
Ich schüttele den Kopf. „Höchstens flüchtig." Schnell werfe ich noch einen Blick zurück zu Flo, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er steht noch am Wegesrand.
„Bist du Teil der Armee?"
Ich schüttele wieder den Kopf. „Ich brauche eine Karte. Von West-Ravka. Am besten vom Vy."
Ihr Blick wird noch verwirrter, aber zum Glück nicht abweisend. Vermutlich wäre es nicht gut für ihren Charakter, wenn sie einem fremden Mädchen einen Wunsch abschlagen würde.
„Warte." Sie rennt ein Stück zu einem Karren, der von einem dicken Pony gezogen wird und beginnt zu kramen.
Stumm sehe ich ihr zu. Ich sehe einem Mädchen zu, das die Kreation eines Menschen meiner Welt ist. Sie ist das Produkt einer Autorin und trotzdem kommt sie gerade auf mich zu, mit einer etwas ramponiert wirkenden Karte in der Hand.
„Hier. Ich hoffe das hilft." Sie drückt mir die Karte in die Hand und ich muss dem Drang widerstehen, sie in die Arme zu schließen.
„Danke. Viel Glück auf deiner Reise." Ich widerstehe dem Drang, sie vor dem Dunklen und allen anderen Gefahren ihres Weges zu warnen.
Ich schlängele mich wieder zurück zum Straßenrand und sprinte zu Flo. Irgendwie scheint er erleichtert, mich widerzusehen.

„Wer war das?", fragt er, während ich ihn in die entgegengesetzte Richtung des Zuges dränge.
„Die Protagonistin von 'Sadow and Bone'.", erkläre ich ihm leise.
Er bleibt wie angewurzelt stehen, sodass ich gegen seinen Rücken knalle. „Was?!" Zackig wendet er sich um. „Warum laufen wir dann in die andere Richtung?"
Ich nehme einen zittrigen Atemzug. „Weil ich keine Lust habe, den fleischfressenden Viechern in der Flur zu begegnen. Außerdem gehe ich stark davon aus, dass wir keine Plotamour haben und-"
„Was ist Plotamour?" Immerhin hat sich Flo wieder in Bewegung gesetzt. Wir lassen die Häuser von Kribirsk hinter uns.
Ich studiere die Karte, während wir langsam neben dem Weg laufen, der uns hoffentlich nach Os Alta führt. „Wenn du Plotamour hast, dann ist klar, dass du in einer Geschichte nicht stirbst. Wie Ron und Hermine oder so. Und das hier ist eine Welt, in der nur sehr wenige Menschen Plotamour haben."
Flo schweigt. Er packt die Riemen des Rucksacks fester.
Ein Pferd mit Reiter überholt uns im Galopp. Wenig später eine Kutsche im Trab.

„Meinst du, es sind noch andere hier gelandet? Außer uns?", frage ich leise, um die Stille zu brechen. Aber auch, um das Knurren meines Magens zu übertönen. Mittlerweile ist es sicher Nachmittag und seit heute Morgen habe ich nichts mehr gegessen.
Flo zuckt die Schultern. „Außer uns ist vermutlich keiner eingepennt."
Mein Magen wird schwer, als wir die nächste Hügelkuppe überqueren. Der Vy zieht sich wie eine Schlange durch Dörfer, Felder und Wälder bis zum Horizont. Das würde ein langer Weg werden.
„Was auch immer unsere Körper zuause gerade machen." Flo hebt die Hand, um seine Augen vor der untergehenden Sonne abzuschirmen.
„Vielleicht sind sie zu Zombies geworden." Ich muss grinsen. „Und jetzt wanken sie durch die Halle und terrorisieren alle mit Lyrik und Drama."
Flo lacht leise. „Was hast du geschrieben? Also im Abi?"
„Essay. Du?"
„Epik. Schade. Wenn wir das gleiche gehabt hätten, hätten wir jetzt schummeln können." Das Lächeln in seiner Stimme ist unüberhörbar.
Es hat etwas unwirkliches. Wie wir auf die untergehende Sonne zuwandern und uns über das Abi unterhalten. Als wäre es Meilen weit weg. Aber das war es ja irgendwie auch.

Die Wiesen am Wegesrand werden zu Wald. Die Sonne sinkt hinter den Horizont. Meine Füße brennen. Mein Hals auch. Irgendwo in der Nähe rauscht ein Bach. Meine Pfadfinderinstinkte erwachen wieder.
Ich nicke nach links. „Das nächste Dorf ist noch eine halbe Tagesreise entfernt. Am besten pennen wir für die Nacht im Wald."
Es ist offensichtlich, dass er widersprechen will, aber er lässt es. Stumm folgt er mir in den schon fast ganz dunklen Wald.
„Und du willst hier einfach so pennen?", fragt er skeptisch. „Auf dem Boden?"
Ich schüttele den Kopf. „Ich bin Pfadfinderin. Schon vergessen?"
Er seufzt. „Ach ja. Das Pferdemädchen."
Einen kurzen Moment fühle ich mich wieder wie in der Mittelstufe. Wie ein Opfer von Spott und Hohn. Zumindest, bis ich das schelmische Grinsen in seinem Gesicht bemerke.
Ein Grinsen schleicht sich auf mein eigenes Gesicht. Schnell ziehe ich mir einen Stock aus dem Unterholz und schlage spielerisch nach ihm. Er weicht zurück und beginnt ebenfalls nach einem Stock zu suchen.
„Na komm!", necke ich ihn, während er meinen Stock mich einem eigenen abblockt. „Hast du etwa Angst vor dem Pferdemädchen?"
„Angst?" Blitzschnell zieht er seinen Stock unter meinem weg und klopft mir im nächsten Moment damit gegen die Schulter.
Ich verdrehe die Augen und beginne, passende Äste für einen kleinen Unterschupf aufzubauen. Den einfachsten, den ich kenne. Wie ein Zelt, das nach hinten abfällt und gerade genug Platz für zwei Menschen bietet.
„Hast du heimlich Stockkämpfen geübt?", frage ich, während ich Reisig auf die Seiten des Unterschlups lege.
Flo schüttelt den Kopf. „Ich war mal beim Fechten."
„Du warst?" Ich deute auf einen kleinen, krüppeligen Strauch mit Blaubeeren, von dem ich die wenigen Beeren abzupfe, die er trägt.
„Ja. Ging irgendwann nicht mehr. Wegen der Schule und..."
Er unterbricht sich. Ich frage nicht nach. Eigentlich geht es mich auch nichts an.

Wenig später liegen wir im dunklen Wald unter dem Unterschlupf. Den Bauch halbwegs voll mit Wasser und ein paar Blaubeeren. Stumm starre ich in den dunklen Wald. Vielleicht wache ich morgen auf und bin wieder in meinem Bett. Vielleicht wird mir gesagt, dass heute erst das Abi ist. Vielleicht wache ich auch in der Prüfung wieder auf.
Die Kälte kriecht von unten in meinen Mantel, obwohl ich ihn fest um mich geschlungen habe.
„Wenn wir wieder in der Turnhalle aufwachen, woran will ich wissen, ob ich das alles nur geträumt habe?", frage ich leise.
„Wenn nicht, dann nicke ich dir zu.", murmelt Flo nur.
Wir liegen wirklich weit auseinander, aber trotzdem ist es bizarr. Bis vor zwei Jahren war er immer nur in meiner Stufe gewesen. Ich war ihm in den Pausen mal über den Weg gelaufen, aber mehr auch nicht. Seit zwei Jahren hatten wir Englisch, Deutsch und Bio zusammen, trotzdem hatten wir nur selten miteinander geredet. Mal in der Pause vor dem Klassenzimmer, oder in einer Gruppenarbeit, aber ich hätte mir nie träumen lassen, plötzlich ausgerechnet während des Deutschabis mit ihm mitten in der Welt von Shadow and Bone zu landen.
Die Karte in der Innentasche meines Mantels knistert leise, als ich mich auf die Seite drehe. Sie zeigt Westravka, mit den eingezeichneten Dörfern entlang des Vys. Hoffentlich würde sie uns gute Dienste erweisen.
Der ruhige Atem von Flo verrät mir, dass er mittlerweile eingenickt ist und auch ich dämmere langsam weg.

Der Weg durch Ravka || Shadow and Bone/Grishaverse FF (Pausiert)Where stories live. Discover now