6. Kapitel📚

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Vorsichtig bewege ich mich durch die Gänge auf der Suche nach ihm. Anstatt auf meinen Bruder stoße ich jedoch zuerst auf Kyra. Sie studiert gerade intensiv das Inhaltsverzeichnis irgendeines dicken Schmökers und hat mich noch nicht bemerkt.

„Hey Kyra!", spreche ich sie von der Seite an. Kyra dreht sich erschrocken um, lässt dabei beinahe das Buch fallen und die Brille rutscht ihr ein wenig von der Nase. Hastig stellt sie das Werk an seinen Platz zurück und schiebt sich dann die Brille wieder zurecht.

„Hallo, Ayla", erwidert sie schüchtern, „lange nicht gesehen. Wie geht's dir?" Ich lächle und merke einmal mehr, wie sehr ich Kyra mag. Schon oft habe ich mir gewünscht, sie wäre nicht nur Mylans Bibliotheksgehilfin, sondern auch meine große Schwester. Schließlich gibt es Dinge, bei denen man seine drei großen Brüder nicht um Rat fragen kann und will.

„Es geht mir gut, danke. Wie geht es dir? Ich hoffe, mein Bruder lässt dich nicht den ganzen Tag schwere Bücher von einem Ende der Bibliothek zum anderen tragen."

Kyra lächelt zurück. „Nein, nein, keine Sorge, dein Bruder ist ganz nett zu mir. Und wenn er doch mal schlechte Laune hat, dann ist die Bibliothek ja zum Glück groß genug, um ihm aus dem Weg zu gehen."

„Aber er ist hoffentlich nicht oft schlecht gelaunt?"

„Normalerweise nicht, aber vorgestern muss ihm eine riesige Laus über die Leber gelaufen sein. So habe ich ihn noch nie erlebt. Den ganzen Tag über wirkte er zerstreut und fahrig, ließ Bücher fallen oder brachte Verzeichnisse durcheinander. Eine volle Stunde lang hat er medizinische Fachbücher in die historische Abteilung einsortiert. Als ich ihn auf seinen Zustand angesprochen habe, meinte er, er hätte beim Abendessen wohl etwas in den falschen Hals gekriegt. Dann ist er davongelaufen und hat mich mit dem ganzen Chaos alleine gelassen. Über drei Stunden habe ich gebraucht, bis alles wieder an der richtigen Stelle war."

Ihre ständig wie vor Schreck weit aufgerissenen Augen verschleiern sich. Mich beschleicht ein schlechtes Gewissen. Das war bestimmt, kurz nachdem ich ihm von der Begegnung mit Eliya erzählt habe.

„War das vielleicht am Donnerstag?"

„Ja genau! Ist es dir also auch aufgefallen? Weißt du, was mit ihm los war?"

Ich nicke. „Wir hatten beim Abendessen so etwas wie ... einen kleinen Streit. Eine Meinungsverschiedenheit besser gesagt. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung." Auch Kyra nickt stumm.

„Na dann bin ich ja beruhigt. Und ich bin ehrlich gesagt auch erleichtert, dass es nur um einen kleinen Streit unter Geschwistern ging. Ich dachte schon, ich hätte etwas falsch gemacht und er wäre meinetwegen wütend gewesen."

Kyra sieht mich unsicher aus ihren großen, brillenverzerrten Augen an. Wie könnte man einem solch zerbrechlichen Geschöpf je böse sein?

„Nein, mach dir da keine Gedanken", beruhige ich sie schnell. „Er hat nie etwas davon gesagt, dass er nicht zufrieden mit dir ist. Und wir sprechen eigentlich über alles miteinander."

Kyra sieht aus, als ob sie angestrengt nachdenkt, sich aber nicht sicher ist, ob sie ihre Gedanken laut aussprechen soll.

„Über alles, sagst du?"

Sie nimmt gedankenversunken ein Buch aus dem Regal, nur um es gleich darauf wieder zurückzustellen.

„Hat er vielleicht sonst mal etwas über mich gesagt, abgesehen von meiner Arbeit in der Bibliothek?"

Zuerst verstehe ich nicht, worauf Kyra hinaus will. „Wie meinst du das?"

Sie sieht aus, als ob ihr unbehaglich zumute ist. „Du weißt schon, hat er mich sonst mal erwähnt, hat er vielleicht mal gesagt, dass er mich ... Ach, nicht so wichtig."

Sie bricht ab und starrt auf die staubigen Buchrücken. Da geht mir ein Licht auf.

Mann oh Mann!

Meine Brüder finden ja ziemlich Anklang beim weiblichen Geschlecht! Schnell sage ich von der Seite her zu Kyra: „Ach so meinst du! Nun, ehrlich gesagt nein. Aber er hat mir gegenüber auch sonst nie jemanden besonders erwähnt. Ich könnte ihn ja in die Richtung mal ein wenig für dich aushorchen, wenn du magst."
Kyra nickt zaghaft.

„Und kannst du mir im Gegenzug dafür vielleicht verraten, wo mein liebes Brüderlein sich gerade aufhält, bevor ich jeden Gang einzeln absuchen muss?"

„Fünftes Regal links von hier, ganz am Ende des Raums", antwortet Kyra wie aus der Pistole geschossen und bringt mich damit zum Schmunzeln.

„Fünftes Regal links von hier, ganz am Ende des Raums", antwortet Kyra wie aus der Pistole geschossen und bringt mich damit zum Schmunzeln

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Ayla - Unsterbliche Liebe |abgeschlossen 📓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt