Epilog

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Man hatte gesagt, dies wäre der Krieg, der alle Kriege beendete. Das waren Präsident Woodrow Wilsons Worte gewesen. Ein Versprechen an die Menschheit. An all die, deren Leben der Krieg als Trümmerhaufen zurückgelassen hatte.
Dies wäre der letzte Paukenschlag, der eine grausame Kakophonie aus sinnlosem Leid, Schmerz und Tod endlich unter seiner geballten Macht ersticken sollte. Eine Mahnung so groß, dass niemand jemals wieder eine Waffe auf einen anderen richtete.

William wusste es besser. Hatte es irgendwo immer gewusst. Vielleicht sogar schon 1919, als er sich mit seinen jubelnden Kameraden billigen Brandy in die Kehle gestürzt hatte, gelacht und mit ihnen getanzt, während er doch nur schmachtend an diese eine Person denken konnte und daran, wie es jetzt keine Schützengräben mehr geben sollte, die sie trennten, keine silbernen Pokale,die sie sammelten, wenn sie sich gegenseitig vom Himmel schossen.

Aber schon damals, in diesem brütend heißen Spätfrühling, hatte der Alkohol fahl geschmeckt und etwas hatte nicht gestimmt. Vielleicht der Versailler Vertrag, der irgendwo im Spiegelsaal dieses Chateau de Versailles unterschrieben wurde und keinen Frieden zu sichern schien, sondern nur den nächsten Konflikt provozierte oder zumindest den Unmut entzündete, der viel zu schnell hochloderte, bis er zum Kokettieren mit der Rache entartete.

Vielleicht auch, dass seine Freunde, die nicht irgendwo in den endlosen Reihen an Kreuzen und Kriegsgräbern auf ewig ruhten, langsam und qualvoll der spanischen Grippe erlagen. Jetzt, wo das Sterben eigentlich enden sollte. Endlich enden musste.

Wahrscheinlich aber auch, dass die Person, mit der er wagte an etwas wie Zukunft zu denken, schillernd und glücklich, frei von all den Zwängen, irgendwo hinter Stacheldraht hockte. Mehr politische Geisel als Kriegsgefangener, bis der Vertrag von Versailles unterzeichnet wurde.

All dies hatte sich zu einem schweren Knoten in seinem Magen gesammelt, hatte den billigen Alkohol noch bitterer auf seiner Zunge schmecken lassen.

Und nun war er hier.

Einen weiterer Weltkrieg später, inmitten eines Krieges, der kalt war, wo sich Ost und West lauernd gegenüberstanden, durch einen Eisernen Vorhang getrennt, Kapitalismus gegen Kommunismus und Sozialismus. Und wer musste es ausbaden? Länder wie der Vietnam, Korea oder das geteilte Deutschland.

Zumindest in den ersten beiden tobten Stellvertreterkriege zweier Großmächte. Erneut Unschuldige, die unter dem Größenwahn hundert Kilometer entfernter Fanatiker litten. Sofort musste er an Abinash denken. Der Mann, der so viel unausprechliches ertragen hatte, als Inder in Europa, in einem Konflikt, der mit seinem Land nichts hätte zu tun haben müssen, wäre es nicht eine Kronkolonie.

Er musste schnauben.

Es war die alte Gestalt neben ihm, das Haar farblos und weiß, die Finger fast steif von der Gicht in ihnen, der das aussprach, was durch seinen Kopf geisterte.

"Die Geschichte ist wohl der weiseste Lehrer, den die Menschheit jemals haben konnte. Nur sind wir schrecklich unaufmerksame Schüler."

"Weißt du", begann William, während die morsche Bank unter ihm ein elendes Ächzen von sich gab und seine Mundwinkel sich in die Höhe kräuselten. "Hättest du die letzten Jahre nicht damit verbracht, deine Nase in Gesetzestexten und Plädoyers zu versenken, wäre aus dir vielleicht ein ganz passabler Philosoph geworden, Herr Staatsanwalt."

Sein gegenüber stieß ein Seufzen aus. Ein schwacher Ton, der fast nahtlos im Rauschen der Blätter über ihnen überging. Wenn man die braunen Fetzen, die von den knarzenden Ästen hingen, überhaupt noch als Blätter bezeichnen konnte.

"Manchmal bezweifle ich wirklich, ob dir klar ist, was ein Philosoph überhaupt ist will." Er schüttelte seinen Kopf. Doch irgendetwas daran war wohlwollend, eine Art unsichtbares Schmunzeln.

Ein braunes Blatt schwebte von den toten Ästen über ihnen, direkt auf seinen Schoß.

William wollte mit einem knochigen Finger über seine raue Oberfläche streichen, aber es zerbröselte zu grauem Staub, als er seine Fingerkuppen über die poröse Oberfläche gleiten ließ.

Er musste schlucken.
Beinahe hätte er ein freudloses Lachen ausgestoßen.
Trüb und tot, wie fast alles hier.
Der Himmel graue Schlieren, das Gras von einem matten Grün.

Allein weiße Pfeiler ragten wie stumme Wächter aus der feuchten Erde.
Reihe um Reihe, Stück für Stück, namenlos, allein mit einer einzelnen Jahreszahl beschriftet, reihte sich Kreuz um Kreuz nacheinander. Hunderte, wahrscheinlich tausende Leben, die hier unter der Erde ruhten. Fast vergessen, kaum mehr als stumme Mahnmale an alles, was kam. An jede Person, die Krieg auch nur erwog.

Sie waren hier. Inmitten des Soldatenfriedhof Mauvin. Einer der stummen Zeugen des ersten Weltkriegs inmitten Nordfrankreichs.
Junge Männer, gestorben in der Lorettoschlacht 1915, Schlacht bei Arras 1917 und der dritten Flandernschlacht. Ebenfalls 1917.

Deutsche, Russen, einige aus Österreich-Ungarn, selbst ein Portugiese- gemeinsam mit Adalbert, der für Konstantin mehr gewesen war, als nur ein bloßer Untergebener- alle vereint im Tod.

"Denkst du", begann der Jurist zögernd, seine Stimme schien jeden Moment wegbrechen zu wollen. "Denkst du, sie hätten uns hier auch begraben, wenn wir gestorben werden?"

"Vielleicht", erwiderte er leise, dann nachdrücklicher: "Aber das sind wir nicht. Wir leben. Unkraut vergeht nicht. Das einzige, was wir tun können, ist die Welt zu erinnern. An den Schmerz, an all das Leid und die Verzweiflung, die der Krieg bringt. Das ist nämlichdas einzige, was er produziert: Hoffnungslosigkeit."

Für einen Moment senkte sich Stille über sie.

"Ich denke an sie. An alle, jede Nacht. Die Männer, diese halben Kinder, die ich vom Himmel abgeschossen habe. Den Mann, den ich ermordete. All die Kameraden, die hier oder an ähnlichen Orten ruhen. Und auch all die, deren Namen ich nicht einmal kenne."

Am liebsten hätte William erwidert "Ich auch." Jede stille Sekunde. Besonders jetzt, wo sich zumindest Europa wieder erholte, von diesem aktiven Krieg, der mehr war als Säbelrasseln und Schüsse an der innerdeutschen Grenze. Jetzt,wo er sich dem stellen musste, was längst vergangen war.
Doch stattdessen nahm er Konstantins Hand in seine.

Hier, zwischen all dem Tod, waren sie die Lebenden- die Überlebenden- Hand in Hand.

Vom Himmel hochWhere stories live. Discover now