Kapitel 12

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„Wisdom!", höre ich Caleb nach einer Weile leise rufen. „Wisdom komm wieder runter." Ich hoffe, dass er das auf den Baum bezieht, aber so oder so bleibe ich hier oben. Ich höre, wie er versucht auf den Baum zu klettern, doch auf mittlerer Höhe verliert er den Halt und fällt zurück auf den Boden. Ich ignoriere ihn weitestgehend, doch als er erneut versucht auf den Baum zu klettern, sage ich ihm, er solle aufhören, der Zustand seiner Wade soll sich nicht verschlimmern, und klettere wieder hinunter.

„Wir können dieses Bündnis gleich wieder auflösen, wenn du mir nicht genug vertraust um mir zu sagen, wie du diese 10 bekommen hast.", sage ich schroff. Er zuckt mit den Achseln und selbstgefällig antwortet er: „Hab sie wohl bekommen, weil ich alles kann." Schnaufend rolle ich mit den Augen. „Nein im Ernst.", fährt er fort. „Ich habe kein bestimmtes Talent und ich wusste auch nicht, was ich ihnen zeigen soll." Ich runzle die Stirn. Sie hätten ihm keine 10 gegeben, wenn er nichts besonders gut gekonnt hätte, oder? „Ich habe ein paar Speere und Messer geworfen, bin geklettert, hab ein paar Trainingspuppen mit einem Schwert enthauptet und ein Feuer entzündet. In allem war ich ganz gut, schätze ich." Ungläubig starre ich ihn an. Fünf Aktivitäten, die aller meisten Tribute zeigen nur eine. Doch ob das wirklich ausgereicht hat, um ihm eine 10 zu verschaffen?
Aber, da er groß und stark ist, ist es wahrscheinlich, dass er so oder so eine hohe Punktzahl bekommt. Trotzdem frage ich mich, ob Caleb wirklich einer dieser Alleskönner ist, die einfach jede Überlebens- und Kampftechnik beherrschen. Und da halte ich inne und denke an Calebs Worte.

„Als ich zurück kam, habe ich dich gefunden, und deine Messer, aber mit Messern kann ich nicht kämpfen."

Dies war doch der Grund, weshalb er mich gerettet hat. Er sagte er könne nicht mit Messern umgehen, also wieso sollte er in seiner Einzelstunde ausgerechnet Messer werfen? „Du sagtest doch, du kannst nicht mit Messern umgehen.", sage ich, meine Stimme zittert, obwohl ich nicht weiß wieso. „Nicht so, wie du es kannst.", antwortet er lässig. „Aber klar, ich kann mit ihnen kämpfen, ich habe wohl etwas übertrieben, als ich sagte, dass ich überhaupt nicht mit ihnen kämpfen kann." Plötzlich wird mir warm ums Herz, doch vorher muss ich ihn noch etwas fragen: „Als du mich gerettet hast, da hast du mehr riskiert, als es zu gewinnen gab.", beginne ich. „Wieso?" Ich breche ab, da ich befürchte, in Tränen auszubrechen. Wieder weiß ich nicht wieso, doch ich weiß es.
Wenn Caleb mich nicht gerettet hat, damit ich ihn verteidige, bis er selber wieder Waffen hat, sondern weil ich ihm wirklich etwas bedeute, dann ist das das erste Mal in der Arena, dass ich wirklich jemanden habe, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Vielleicht wäre es mit Falsy das selbe geworden, hätte sie nur länger gelebt.
Calebs Stimme reißt mich zurück in die Realität. „Ich hätte dich nicht sterben lassen können, Wisdom. Du bist wie eine kleine Schwester für mich."

Autsch. Ich weiß nicht wieso, aber diese Bemerkung trifft mich, wie ein Schlag ins Gesicht. Es liegt nicht an dem Grund, den man vielleicht annehmen könnte, sondern vielmehr daran, dass ich mich wie ein hilfloses Kind fühle, das nicht alleine klar kommt und einen Retter braucht, einen großen, starken Bruder, der sie beschützt.
Doch genau das war auch der Fall. Ohne Caleb wäre ich jetzt tot, das weiß ich und da ich gerade erfahren habe, dass Caleb mich nicht gerettet hat, damit ich ihn beschützte, sondern um meiner Willen, ist es nicht abwegig, dass er mich, so klein wie ich im Vergleich zu ihm bin, als kleine Schwester betrachtet.

Trotzdem stört es mich plötzlich, dass ich garnicht da bin um ihn, falls wir angegriffen werden, zu verteidigen. Fast unmerklich schüttle ich den Kopf. Vor wenigen Stunden habe ich Caleb genau aus diesem Grund verabscheut, und jetzt fuchst mich das Gegenteil.

„Nett von dir.", antworte ich, wenn auch etwas kühl. „Das hättest du auch getan.", antwortet er achselzuckend.
Etwas beschämt halte ich inne. Hätte ich das auch getan? Wäre ich nicht einfach weggerannt, womöglich sogar mit seinen Waffen und hätte ihn dem Tod überlassen. Nein, denke ich. Das hätte ich nicht geschafft. Nicht, wenn die ganze Welt mir zusieht, unter ihnen auch Willow, ihre kleinen Geschwister und ihre Mutter. Nein, dass hätte ich niemals übers Herz gebracht. Nur hätte ich ihn um Willows Willen verschont, nicht um seiner Willen.

Die Sonne ist schon fast untergegangen und Caleb wird es wohl kaum auf einen Baum schaffen, das hat er eben bewiesen, deshalb erzähle ich ihm von meinen Verstecken in den Büschen. Wir finden schnell einen geeigneten Busch und schlagen unser Lager auf.

Nun, da wir zu zweit sind, können wir es uns leisten Wache zu halten. Ich erkläre mich dazu bereit, die erste zu übernehmen, denn sicher hat Caleb in den letzten zwei Tagen nur wenig Schlaf abbekommen und nach einer kurzen Diskussion, gibt er nach und kriecht in seinen Schlafsack. Außerdem hat er noch eine Wasserflasche, ein Seil, eine große Packung Streichhölzer und eine leere Dose, wohl ein altes Sponsorengeschenk, doch ich nehme mir vor, ihn morgen genauer zu befragen, denn er sieht aus, als würde er jeden Moment einschlafen.

Mit einem Messer in jeder Hand sitze ich das und starre durch eine Lücke des Geästs, da kommt mir noch etwas in den Kopf.
„Caleb?", frage ich leise, falls er schon schläft will ich ihn nicht wecken. Er gibt einen Laut von sich, der bestätigt, dass er zuhört, also fahre ich fort. „Wen hast du umgebracht? Oder", ich halte inne, ehe ich fortfahre: „Hast du schon jemanden umgebracht?" Es entsteht eine lange Pause, dann antwortet er: „Ja." Das erste Mal höre ich so etwas wie Bedauern in seiner Stimm, tiefes Bedauern und ich frage nicht weiter nach, er klingt schon bedrückt genug.
„Ich auch.", antworte ich leise, denn auch, wenn es absurd klingt, habe ich das Gefühl, dass er sich so besser fühlen könnte. Wieder entsteht eine Pause, Calebs Atmung ist nun regelmäßiger geworden, da flüstere ich noch: „Oh und Caleb? Danke."
Durch das Licht des Mondscheins, dass durch die Blätter des Busches fällt, sehe ich ein Lächeln über sein Gesicht huschen, doch er scheint schon im Halbschlaf zu sein, denn er antwortet nicht.

Von der Hymne werde ich geweckt, ich muss wohl eingenickt sein, doch durch das Geäst des Busches sehe ich, dass der Himmel leer bleibt, der dritte Tag ohne Tote. Morgen wird es wieder Tote geben, das weiß ich schon jetzt.
Caleb scheint auch wach geworden zu sein, denn ich höre, wie er sich aufsetzt. „Wieder keine Toten, was?", fragt er gähnend. „Ja.", sage ich etwas betrübt, ich habe keine große Lust morgen gegen drei Karrieros zu kämpfen. „Morgen dann.", sagt Caleb als hätte er meine Gedanken gelesen, dann fügt er noch hinzu: „Leg dich schlafen, du musst morgen ausgeschlafen sein." Ich schüttele nur heftig den Kopf. „Nein, du bist der Verwundete, du braucht Ruhe.", antworte ich dringlich. „Ach, ich hab schon schlimmere Verletzungen gehabt, aber davon erzähle ich dir morgen früh."

Er kriecht aus seinem Schlagsack und setzt sich neben mich, in unserem Busch ist nur gerade genug Platz dafür. „Leg dich wieder hin.", befehle ich ihm streng, aber er schaut nur geradeaus, aus dem Busch und sieht plötzlich aus wie versteinert. Ich möchte ihn gerade mit Gewalt dazu bringen, sich wieder hinzulegen, da flüstert er, so ernst und ruhig, wie ich ihn noch nie gehört habe: „Da ist jemand."

Die Tribute von Panem - Die 76. HungerspieleWhere stories live. Discover now