Kapitel 11

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Zuhause in Distrikt könnte man nun eine Stecknadel fallen hören, während sie im Kapitol wahrscheinlich bereits Wetten darüber abschließen, was als Nächstes passieren wird. Wenn zwei Tribute aus dem selben Distrikt aufeinander treffen, wird es erst so richtig spannend. Caesar Flickerman und Cornelius Templesmith, die zwei Kommentatoren der Hungerspiele, spekulieren sicher schon wild darüber, was als Nächstes passieren wird. In dieser Situation gibt es drei mögliche Ausgänge. Die Tribute schließen ein Bündnis ab, laufen weg als wäre nichts gewesen, oder versuchen sich umzubringen.

Weglaufen kann ich nicht, dazu bin ich zu erschöpft. Noch weniger kann ich Caleb umbringen, das würde Willow mir nie verzeihen und meine Kraft reicht ebenso wenig aus, also liegt es nun an Caleb, wie es weiter geht.
Eine Zeit lang starrt er mich nur an, wie ich vor ihm liege, so hilflos, wie ein verletztes Tier, dann breche ich das Schweigen und frage: „Bist du hier um mir den Rest zu geben?" Meine Stimme klingt brüchig, zittrig, rau, ganz anders als sonst. Doch zu meiner Verwunderung antwortet Caleb: „Ich hab meine Meinung geändert. Wir sollten uns verbünden." Ich bin zu krank um verwirrt zu sein, weshalb ich nur heiser lache. „Du kommst leider zu spät, ich werde nicht mehr lange leben." Achtlos reiße ich meinen Verband ab und die klaffende Wunde kommt zum Vorschein. Ich mache eine kurze Kopfbewegung zu ihr, wobei ich sie erneut sehe und rieche und würgen muss. „Säureregen.", erkläre ich. Caleb kniet sich neben mich. „Das sieht ja garnicht gut aus.", sagt er sarkastisch, aber tief unter seiner Kühnheit höre ich das Mitleid, welches er ausströmt. Ich lege meinen Kopf seitlich um ihn angucken zu können. Er nimmt meinen Arm in seine Hände, wobei ich vor Schmerz aufstöhne, und mustert meine Wunde genauer. „Sieht fast nach einer Blutvergiftung aus.", sagt er besorgt. Anscheinend ist im erst jetzt aufgefallen, wie ernst die Lage ist. Er legt mir seine Hand auf die Stirn, sie ist kalt im Gegensatz zu meiner glühend heißen Stirn. „Fieber.", bemerkt er. „Aber du musst dir keine Sorgen machen." Jetzt kommt wohl das, was einem gesagt wird, wenn man dem Tod ins Auge sieht. Du musst dir keine Sorgen machen, alles wird gut, gleich bist du erlöst. Doch Caleb tut etwas ganz anderes.
Im Augenwinkel sehe ich, dass er etwas aus seiner Jackentasche zieht. „Zum Glück.", beginnt er und hält mir eine kleine Dose und eine Spritze vors Gesicht. „Habe ich das hier." Das letzte was ich verspüre, ist die Nadel in meinem Arm, dann werde ich ohnmächtig.

Langsam öffne ich die Augen und Licht strömt mir entgegen. Der Schmerz ist aus meinem Arm gewichen und mir geht es besser, sehr viel besser. Ich fahre mit dem Finger über den harten Stein, auf dem ich liege, ich hatte Gras erwartet. Etwas verwirrt setze ich mich auf und gucke mich um. Ich bin nicht mehr im Wald, der mir Schutz geboten hat, ich bin in dem kahlen Gebirge, auf der anderen Seite der des Füllhorns. Um mich herum erheben sich dunkle Berge, vielleicht sogar Vulkane, und ich fühle mich kein bisschen wohl hier, ungeschützt und angreifbar. Nur der Felsvorsprung, unter dem ich sitze, bietet mir Schutz.
Ich brauche einen Moment Zeit, um mich zu erinnern, was passiert ist. Caleb, er muss mich hier hin gebracht haben und ich, ich lebe. Ich krempele meinen Ärmel hoch und sehe, dass die Wunde fast vollständig verheilt ist. Verwirrt muss ich mir eingestehen, dass Caleb mir das Leben gerettet hat.
Ich gucke mich nach meinen Sachen um und erblicke meinen Rucksack neben mir. Meine Messer liegen ebenfalls neben mir. Ich frage mich, was Caleb wohl dazu bewegt hat, mich hier her zubringen. Hier, wo keine Planzen wachsen, keine Tiere leben und kein Schutz geboten wird. Ich habe keine Zeit weiter darüber nachzudenken, da kommt Caleb humpelnd um die Ecke, sein linkes Bei scheint verletzt zu sein.
Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war ich zu verletzt und zu krank um ihn genauer zu mustern, doch jetzt kann ich es. Seine goldblonden Haare fallen ihm in Strähnen über die Stirn und sein Gesicht hat viele Schrammen. Ich richte mich auf und nehme eins meiner Messer in die Hand, aus irgendeinem Grund vertraue ich ihm immer noch nicht ganz, doch er sagt nur: „Gut, du bist endlich wach." Ich runzle die Stirn und kann nichts anderes tun, als zu fragen: „Wieso hast du mir das Leben gerettet?" Plötzlich spüre ich die tausenden Fragen in mir aufkommen. „Wie hast du mich hier hin gebracht? Wieso hast du mich hier her gebracht? Wieso" „Immer mit der Ruhe.", unterbricht mich Caleb mit einer beruhigenden Geste, die mich aber eher provoziert. „Es gibt so einiges was ich dir erklären sollte." „Deine Wunde ist fast verheilt.", beginnt er, als würde ich das nicht selbst wissen. Dann fährt er fort. „Die Medizin hab ich den Karrieros geklaut." Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Drei Karrieros einen so wichtigen Gegenstand zu klauen ist fast unmöglich.
„Sie waren alle mit einem anderen Tribut beschäftigt, allesamt schon geheilt, aber hatten noch viel Medizin übrig." Er macht eine kurze Pause. „Möchtest du etwas essen, Wisdom?", fragt er plötzlich, als wollte er vom Thema ablenken und obwohl ich regelrecht ein Loch im Bauch habe, lehne ich ab. „Ich will den Rest der Geschichte hören.", dränge ich also. Er atmet tief durch und fährt, fast ein bisschen wiederwillig, fort. „Ich habe mir meine Flasche aufgefüllt, als sie kam. Leise und unbewaffnet , aber schnell genug mir alle Waffen wegzunehmen. Meine Axt und.", er hält inne. „Und mein Schwert." Ein Schwert?, denke ich. Ist dies sein geheimes Talent? „Wer hat es dir weggenommen?", frage ich zögerlich. Es entsteht eine lange Pause, bevor er antwortet. „Das Mädchen aus Distrikt 7." Distrikt 7, dass kleine dreizehnjährige Mädchen, hat Caleb alle Waffen geklaut. Wahrscheinlich hatte sie bis jetzt noch gar keine Waffen, doch jetzt hat sie eine Axt, die Waffe, mit der sie so vertraut ist, wie mit ihrer rechten Hand. „Als ich sie bemerkt habe, war es schon zu spät. Sie hat nicht versucht mich zu töten, ist einfach weggelaufen. Wahrscheinlich weil ich sie hätte überwältigen können, selbst ohne Waffen." Ich nicke, doch insgeheim denke ich, dass sie ihn nur entwaffnen wollte. Sie konnte nicht kämpfen, wenn sie in der einen Hand sein Schwert hielt, es abzulegen wäre jedoch zu riskant gewesen, er hätte es sich zurück holen können und, wenn er tatsächlich gut mit ihm umgehen kann, wäre es gefährlich für sie geworden. Wahrscheinlich hat sie sein Schwert nun schon längst in einem der Bächen versenkt um es ein für alle mal aus der Welt zu schaffen. Hätte Caleb nur die Axt gehabt und sie hätte sie sich verschaffen, wäre er nun wahrscheinlich tot. In dem Moment räuspert er sich und fährt vor. „Nun ja, ich habe gedacht vielleicht wären noch ein paar Waffen am Füllhorn übrig. Aber es war leer. Als ich zurück in den Wald gegangen bin habe ich dich gefunden. Und deine Messer, aber mit Messern kann ich nicht kämpfen. Außerdem hätte Willow gewollt, dass wir uns verbünden." Benommen starre ich auf die Steine vor mir. Er will also, dass ich für ihn kämpfe, ihn verteidige. Deshalb hat er mich gerettet, nur deshalb. Ich spüre Wut in mir aufkommen, Wut und Abscheu, aber da ich mit ihm wohl ebenfalls sicherer bin, bleibe ich bei ihm. „Und wieso hast du mich hierher gebracht?", frage ich gereizt. „Solange du geschlafen hast, waren wir so angreifbar wie." Er hält inne und sieht sich nach etwas Passendem um. „Wie dieser Stein." Er hebt einen Kieselstein auf und pustet ihn weg. „Ich wusste, dass die Karrieros sich im Wald rumtreiben und da du sowieso nur ein paar hundert Meter vom Füllhorn entfernt warst habe ich uns hierhin verlagert." Verblüfft darüber, wie nah ich am Füllhorn war und überrumpelt von der Vorstellung, wie Caleb mich den langen Weg, bis hier hin trägt, reibe ich mir den Kopf. „Wie lange war ich weggetreten?", frage ich ihn. „Ungefähr zwei Tage.", antwortet er schnell. „Niemand ist gestorben, ich glaube bald werden sie uns zusammen treiben, weil ihnen zu langweilig wird." Ich nicke und Caleb reicht mir eine Wasserflasche, die ich austrinke. Zwar bin ich immer noch etwas sauer auf ihn, doch so etwas wie Nettigkeit gibt es in der Arena nun mal nicht und, dass er mich gerettet hat auch, wenn es nur zu seiner eigenen Sicherheit war, zeigt Großzügigkeit. Um mich ganz zu beruhigen, atme ich tief durch, bevor ich ihn weiter befrage.
Im Laufe der nächsten Stunde, erfahre ich, dass Caleb uns hier bloß von seinen Vorräten ernährt hat. Mir hat er, während ich weggetreten war bloß Wasser eingeflößt, dennoch gehen ihm jetzt die Vorräte aus und wir müssen zurück in den Wald, um zu jagen. Als ich ihn frage, wie viele Tribute noch leben, ich bin mir selbst nicht mehr ganz sicher, antwortet er: „Sieben." Die Top 7. Spätestens jetzt müssen alle Zuschauer verstanden haben, dass das hilflose Mädchen nur ein Ablenkungsmanöver war. Eine Masche, die die Karrieros von mir abhalten sollte, oder mich zumindest uninteressant erscheinen lassen sollte. Ich frage mich, ob die anderen Tribute dies auch schon verstanden haben. Ein paar vielleicht schon, doch wahrscheinlich denken die anderen, dass ich mich nur verstecke, schließlich hat noch niemand gesehen, wie ich einen Tribut getötet habe.

Die Tribute von Panem - Die 76. HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt