Drei Kräcker, zwei Rindfleischstreifen, das ist alles was ich noch zu Essen habe. Calebs Vorräte sind mehr oder weniger aufgebraucht, die letzten zwei Tage hat er neben mir sitzend verbracht. Ich kann im kaum länger böse sein und entschließe mich dazu, ihm nun endgültig zu vertrauen. Ich verschlinge zwei Kräcker und einen Rindfleischstreifen, ich könnte noch sehr viel mehr essen, doch ein paar Vorräte möchte ich noch übrig haben, dann frage ich Caleb, was mit seinem Bein passiert ist. Er krempelt seine Hose hoch, und eine Brandwunde an seiner Wade kommt zum Vorschein. „Wieso hast du das nicht auch mit dem Mittel geheilt, mit dem du mich geheilt hast?", frage ich, schockiert davon, wie locker er diese schmerzhaft aussehende Wunde nimmt. „Es war nichts mehr übrig.", erklärt er. Kurz denke ich, dies sei eine normale Erklärung, da fällt mir auf, dass die Wunde noch frisch sein muss. „Du hast sie dir erst zugezogen, als du mich schon gerettet hattest?", frage ich leise. Als Antwort nickt er. „Die Gegend hier ist gefährlich.", beginnt er. „Glut, Feuer, es ist eine reine Vulkanlandschaft."
Ich betrachte die große Wunde, die sich über seine gesamte Wade erstreckt, stelle mir vor, wie er von flüssiger Glut bespritzt wird, während er versucht mich in Sicherheit zu bringen und bin selbst von mir überrascht, als ich ihn spontan umarme.
Jetzt bin ich mir sicher, dass er mich nicht nur zu seinem eigenen Schutz gerettet hat. Hätte er das gewollt, hätte er mich niemals bis hierhin gebracht. Er erwidert die Umarmung, wenn auch zurückhaltend und flüstert mir ein kurzes: „Gern geschehen.", ins Ohr, ehe wir beide uns aus der Umarmung lösen.
Da seine Wunde nicht so aussieht, als hätte er sich sonderlich gut um sie gekümmert, tue ich das für ihn. Zwar habe ich keine Medizin, doch ich tropfe Wasser auf das rohe Fleisch und verbinde es mit dem letzten Verband der mir bleibt, den ich in einer meiner inneren Jackentaschen hatte. Zwischendurch winkt Caleb ab und versucht mir einzureden, dass es ihm gut geht und er keine Hilfe benötigte, doch ich befehle ihm ruhig zu sein, denn sein vor Schmerzen verzehrtes Gesicht, sagt anderes. „Du hast mich also den ganzen Weg hierhin getragen?", frage ich, um ihn abzulenken. Caleb zuckt mit den Achseln. „War nicht so schwer." Wortwörtlich hat er da auch recht. Ich bin ziemlich klein und wiege höchstens 45 Kilogramm. Caleb hingegen ist groß, fast zwei Köpfe größer als ich, zwar auch schlank aber doch muskulös. Man würde nicht vermuten, dass er aus dem Saum kommt. Die Leute aus dem Saum haben meistens dunkles Haar, olivfarbene Haut, dunkle Augen, Caleb ist da so ziemlich das Gegenteil. Ich weiß, dass er sich für viele Tesserasteine eingetragen hat, genauso wie Willow, als sie alt genug war. Wahrscheinlich haben sie so überlebt. Doch irgendetwas sagt mir, dass da noch etwas war, noch eine Nahrungsquelle.
Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt mich richtig bei ihm zu bedanken, doch die Worte bleiben mir im Hals hängen , deshalb schweige ich und widme mich wieder voll und ganz Calebs Wade.
„So sollte es einigermaßen gehen.", sage ich, als ich fertig bin. „Kannst du laufen?" Er nickt und ich helfe ihm auf. Als er plötzlich genau vor mir steht, fühle ich mich wie ein Kind, so klein wirke ich neben ihm. „Am besten wir machen uns sofort auf Wassersuche.", meint Caleb. „Bis zum Füllhorn sind es ungefähr zwei Kilometer."

Wir packen unsere Sachen zusammen und machen uns auf den Weg durch die Vulkanlandschaft. Kein Wunder, dass wir auf keinen anderen Tribut treffen. Niemand würde sich hier freiwillig aufhalten. Der Boden birgt Pfützen gefüllt mit Glut und die Vulkane drohen auszubrechen. Das Gestein beinhaltet glühende Kohle und an einigen Ecken löst ein einziger Stein, das Fallen hunderter weiterer auslöst. Als ich an einer besonders großen Glutpfütze, man könnte sie fast als Teich bezeichnen, ankomme, stolpere ich und verliere das Gleichgewicht. Caleb kann mich nur noch gerade so am Rucksack festhalten und nachdem ich fast lebendig verbrannt wäre, brauche ich zehn Minuten, bis meine Beine aufgehört haben zu zittern und ich weiter gehen kann. Caleb muss auch mehrmals Pausen einlegen, er kann sein linkes Bein kaum belasten. Ich stütze ihn so gut ich kann, doch der Größenunterschied, macht es schwer. Ich frage mich, wie er vor hat in diesem Zustand zu jagen, frage ihn aber nicht danach, denn sicher weiß er es selbst nicht.

Als wir an der großen Wiese ankommen, auf der das Füllhorn steht, ist es bereits später Nachmittag. Wir beide sind so erschöpft, dass wir beide dazu neigen uns einfach einen Platz zum Schlafen zu suchen, doch wir wissen, dass wir das nicht tun dürfen, denn wir brauchen Nahrung. Wir gehen in den Wald und ich sage Caleb, er solle sich ausruhen, während ich jage, doch er schüttelt nur den Kopf und sagt, es seie zu gefährlich uns zu trennen und ich schaffe es nicht ihm vom Gegenteil zu überzeugen.
Die Dämmerung bricht bereits herein, als ich das erste Tier erblicke. Es ist ein wilder Truthahn, der meinen Weg kreuzt. Mein Messer landet in seinem Herzen und ich sehe ein kurzes Lächeln über Calebs Gesicht huschen. Anerkennend zieht er die Augenbrauen hoch und nickt. Anscheinend hat er gerade begriffen, dass es sich bezahlt gemacht hat, mich zu retten.
Wir nehmen den Truthahn gemeinsam aus, als ich ihm die Frage stelle, die mich schon so lange beschäftigt: „Was hast du den Spielemachern bei deiner Einzelstunde gezeigt?" Als er nicht antwortet, werde ich wütend. „Wie hast du eine 10 bekommen?", schreie ich jetzt fast. Caleb zuckt mit den Achseln. „Keine Ahnung." Aufgebracht  knalle ich ihm den Truthahn vor die Füße. „Es ist zu spät um ein Feuer zu machen. Wir essen morgen." Das ist das Letzte was ich sage, bevor ich auf eine dicke Weide klettere und mich in meinem Schlafsack verkrieche. In dem Moment ist es mir herzlich egal, ob er es schafft den Baum ebenfalls zu erklimmen oder nicht.
Er ist also immer noch nicht ganz auf meiner Seite, möchte sich die Alternative das Bündnis aufzulösen und mich umzubringen, nicht nehmen lassen. So wie ich es damals bei Falsy getan habe, schließlich habe ich ihr nie erzählt, dass ich garnicht so hilflos bin, wie alle dachten. Ich spüre wie sich meine Wut in Frustration verwandelt und schlucke schwer. Wie konnten sie zwei Duzend Jugendlich nur so schnell in Kämpfer, die sich gegenseitig umbringen wollen, verwandeln? Sie machen uns kaputt. Das alles hier macht uns kaputt, nimmt uns alles, was uns ausmacht.
Aber so sind sie. Das sind die Hungerspiele.

Die Tribute von Panem - Die 76. HungerspieleWhere stories live. Discover now