Wie alles begann

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Zuerst ist alles dunkel. Dann breitet sich ein schmerzhaft stechendes Weiss hinter meinen Augen aus. Stöhnend öffne ich sie und hebe meinen Kopf. Was sich als Fehler herausstellt, den ich sofort bereue. Schmerz explodiert in meinem Kopf und ich lasse ihn keuchend wieder sinken. Sobald der Schmerz weg ist, hebe ich ihn nochmals an. Diesmal langsam und vorsichtig. Ich beginne mich aufzurichten und höre wie all meine Gelenke knacken. Mit verzogenem Gesicht beginne ich meine Muskeln zu lockern. Ich fühle mich als ob ich mich seit einer Ewigkeit nicht bewegt habe. So richtig alt und eingerostet.
Erst jetzt nehme ich meine Umgebung war. Langsam lasse ich mein Blick über die Einöde schweifen. Es ist weiss. Schnee liegt überall. Ich bin in einem Schneehaufen wach geworden. Aber nicht irgend ein Schneehaufen, eine Lawine. Ich höre das Echo des Getöses noch in weiter Ferne. Langsam setze ich mich in Bewegung. Dann fällt mir auf, dass ich nicht weiss, wo ich bin. Ich weiss auch nicht, wie ich hierher gekommen bin. Warte mal... Was ist mein Name? Wo komme ich her?
Panik breitet sich in mir aus, als es mir nicht in den Sinn kommt. Ich schliesse meine Augen und versuche meine Erinnerungen zu finden. Aber da ist nichts. Nichts vor dem schmerzhaften Erwachen von gerade eben. Es ist als ob ich nie ein Leben gehabt habe. Ich öffne meine Augen wieder und stelle fest, das etwas meine Sicht trübt. Schnell wische ich mit meiner Hand über meine Augen. Sie sind nass. Ich weine. So schnell anfing, so schnell hörte es wieder auf. Es ist, als ob mir jemand einen stummen Befehl gab.
Nicht weinen.
Ich laufe wieder los und verdränge so gut wie möglich alle Gedanken, um die aufkommende Panik zu unterdrücken. Es funktioniert. Irgendwie. 

Es sind schon ein paar Wochen seit meinem Erwachen vergangen. Der Schnee ist geschmolzen und die ersten Blüten begannen zu blühen. Nach etwa zwei Tage ohne Rast bin ich auf eine Hütte gestossen. Ich hatte mich entschieden, dort eine Pause zu machen und versuchte zu schlafen. Das wäre fast in einer Katastrophe geendet. Ich hatte geträumt.
Da war so ein verrückter Professor. Und andere unfreiwillige Menschen. Immer wieder wurde jemand weg geschleift und viele kamen nicht mehr zurück. Ich wurde auch weggetragen und an ein Stuhl gebunden. Grausamer Schmerz pulsierte durch meinen Körper. So stark, ich dachte jeden Moment zu sterben. Ich wünschte sogar, ich wäre gestorben.
Dann erwachte ich und musste feststellen, dass ich noch lebte. Ich hatte keine Ahnung was passiert war. Als nächstes versuchte ich zu essen. Ich hatte keine Ahnung dass ich jagen konnte. Genauso wenig wie ich wusste dass ich Fährtenlesen, Fallen stellen und Häuten konnte. Wie man sieht, weiss ich vieles nicht.
Dass Essen kam genauso schnell wieder hoch wie ich es runter bekommen habe. Ich wusste dass mein Stoffwechsel nicht normal war, aber da ich immer noch keiner Menschenseele begegnet bin, wusste ich auch nicht was normal war. Also lerne ich.
Ich muss nur all drei Tage mich für fünf Stunden hinlegen. Nach exakt fünf Stunden wache ich wieder auf. Das sind die schlimmsten fünf Stunden der drei Tagen. Essen muss ich all eineinhalb Tage. Aber nur ein paar Beeren und zwei, drei Bisse Fleisch. Es ergibt kein Sinn. Ich wünschte, ich würde mein Gedächtnis wieder haben. Dann würde es vielleicht Sinn ergeben. 

Ich bin gerade auf dem Weg zum Fluss. Für anfangs Frühling ist es erstaunlich warm. Aber dass könnte auch einfach daran liegen, dass ich Temperaturen nicht genau spüre. Seit ich erwacht bin, habe ich immer den gleichen Overall an. Ich habe ihn kein einziges mal ausgezogen. Warum eigentlich?, geistert mir die Frage durch den Kopf. Ich weiss es nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, dass ich es nicht tun soll.
Der Overall geht mir bis zu den Knöchel und verschwindet in Schienbein-hohe Combat-Boots. Er bedeckt meine Arme und sogar meine Hände. Der Reißverschluss geht mir hoch bis unters Kinn. Etwas anders habe ich nicht an. Als ich am Fluss ankomme, höre ich plötzlich Stimmen. Bevor ich auch nur blinzle, bin ich schon in Deckung.
Wie konnte ich mich so schnell bewegen? Ich tat es als Instinkt ab und verdränge den Gedanken, das nur Tiere Instinkte haben. Menschen können denken, haben ein Gewissen und können in die Zukunft planen. Das macht uns zu Menschen und nicht zu Affen.
Ich konzentriere mich wieder auf die Stimmen. Es sind zwei. Nein, drei. Eine weibliche und zwei männliche. Wahrscheinlich ein älteres Pärchen und ihren Sohn. Eine Falte bildet sich auf meiner Stirn. Ist es normal das heraushören zu können? Bevor ich mir weiter darüber Gedanken machen kann, erscheinen die drei. Sie kommen den Hügel hinauf zum Fluss. Dort lassen sie sich auf ein paar sonnige Felsen nieder. Ich schleiche etwas näher um sie zu belauschen. Der Sohn redete auf seinen Vater ein. Der nimmt ihn aber nicht ernst. Aus dem Gespräch kann ich entnehmen, dass der Sohn Sven heisst. Er will so schnell wie möglich das Grundstück seiner Eltern erben damit er bauen kann. Also ist er ein Firma-Heini. Ein geldgieriger Geizkragen. Er ist mir jetzt schon unsympathisch. Aber ich habe genug gehört. Sie stellen keine Gefahr dar.
Ich will mich gerade zurückziehen, als ich auf einen Ast trete. Entsetzt bleibe ich stehen. Die drei hören auf zu sprechen und sehen sich um. Keiner bewegt sich. Der Sven verliert bald schon die Geduld und stampft in meine Richtung. Erschrocken stolpere ich rückwärts aus meiner Deckung. Wieder erstarren alle. Dann lächelt mich die Frau an und steht auf. "Hallo, Liebes. Ich bin Helga. Das ist mein Mann Henry und unser Sohn Sven. Willst du dich zu uns setzen?" Sie kommt ein paar Schritte auf mich zu. Verunsichert weiche ich zurück und pralle mit meinem Rücken gegen einen Baum. Bevor Helga aber noch näher kommen kann, hält Sven sie zurück.
"Warte, Mutter. Du kennst sie nicht. Vielleicht ist sie eine Mörderin. Verschwinde du elendes Gesindel!", der letzte Satz gilt mir. Ich gehe in die Knie und drücke mich so fest wie möglich gegen den Stamm. Wütend macht er einen Schritt auf mich zu, wird aber diesmal von seiner Mutter zurückgehalten. Mit zornigem Blick funkelt er sie an. Sie erwidert den Blick mit strenger, furchteinflößender Miene. Er senkt den Blick und tretet zur Seite. Helga lächelt wieder und dreht sich zu mir um. Sie streckt mir die Hand hin und kommt langsam näher. Ich weiche nicht zurück aber ich gehe auch nicht näher. Als sie vor mir steht, lege ich zögernd meine Hand in ihre und sie führt mich zu ihrem Mann zurück. Sie deutet mir mich zu setzten und drückte mir Brot in die Hand. Ich nehme es, obwohl ich weiss, dass ich es später wieder hochwürgen werde. Aber ich will nicht unhöflich sein und esse ein paar Bissen.
"Wie heisst du den, Süsse?", fragt sie mich mit sanfter Stimme. Ich blinzle sie ein paar Mal an. "Kannst du mich verstehen?" Ich nicke. "Kannst du sprechen?" Wieder ein Nicken. "Von wo kommst du?" Ich deute mit dem Finger ein Stück den Berg hinauf zur Hütte. Sven verengt seine Augen und sieht mich böse an.
"Wie kannst du es wagen, mir vor die Auhen zu treten, wenn du unerlaubt unser Grundstück benutz! Du bist eine Einbrecherin, eine Heuchlerin!" Er deutet an, mich zu schlagen und ich zucke zurück. Ich will aufstehen, aber Helga drückt mich sanft aber bestimmt auf meinen Platz zurück. Dann wendet sie sich ihrem Sohn zu und sieht ihn drohend an. "Es ist immer noch unser Haus. Das von mir und deinem Vater. Wenn sie Hilfe braucht oder Unterschlupf sucht, ist sie jederzeit willkommen. Ist das klar?", sagt sie mit ernster Stimme und einem kalten Unterton. Sven zieht den Kopf ein. Dann dreht sie sich wieder zu mir und man sieht nichts mehr vom Racheengel. Wie kann sie so schnell ihre Stimmung wechseln? Das ist mir zu anstrengend. "Kommst du mit uns zurück? Wir würden dir gerne helfen. Nach dem Abendessen sehen wir dann weiter. Du musst uns auch nicht dein Namen sagen oder sprechen wenn du nicht willst, in Ordnung?" Kurz lasse ich mein Blick über die drei gleiten. Dann nicke ich langsam. Lächelnd nimmt Helga mich am Arm und gemeinsam machen wir uns auf den Weg den Berg hoch. 

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