Kapitel 20: Nachhall der Vergangenheit

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Nachhall der Vergangenheit

»Was hältst du von ihm, Gwyn?«
Durch dickes Panzerglas beobachteten sie den Häftling, der im Sigillen-Kreis kauerte und geduldig kommender Prozeduren der Wahrheitsprüfung harrte. Er hatte schon einige mit Bravour bestanden und auch seine Kollegin schien nicht mit einem negativen Bescheid aus ihrer Befragung zu kommen. Fragen hatte sie nicht gestellt, als Macallah sagte ihr die vermeintliche Stille mehr als jedes laut gesprochene Wort.
Ein Echo war sie, wiederholte Dinge der Vergangenheit, die für die Ohren der meisten lange verklungen waren, aber laut der Aussage der Dämonin jedem und allem noch lange anhaftete. Er hatte keinen Grund Gwyns Wort anzuzweifeln. Über die Grenzen seines Zuständigkeitsbereichs wurde ihre Expertise geschätzt und machte sie zu einer kleinen Berühmtheit unter den Sonderlingen, die in der forensischen Abteilung der Caomhnóir an Tairseach ihren Dienst leisteten. Die Institution an sich hatte einige Augenbrauen innerhalb der Reihen der Hüter gehoben und er maßte sich nicht an, es als seine Idee zu verkaufen, das, was bei den Menschen schon lange Standard war, in der andersblütigen Parallelwelt zu institutionalisieren. Aber er war einer der ersten Befürworter und hatte den einen oder anderen Gedanken bei der Planung beizusteuern gehabt. Macallah als Lügendetektoren zu beschäftigen, zählte zu diesen Gedanken und überraschte die Betroffenen weit mehr als diejenigen, die ihnen das Angebot offeriert hatten. Macallah mieden aus gutem Grund alles und jeden, doch nicht länger eine Randerscheinung der Gesellschaft zu sein, reizte sie und lockte sie aus ihrer sicheren Nische. Es hatte mehr als dieses Versprechens bedurft, sie aus ihrem Eremiten-Dasein zu holen: Zauber, die ihnen erlaubten, sich frei zu bewegen, ohne dem Dauerbeschuss näherer und fernerer Vergangenheit ausgesetzt zu sein, gehörten dazu. Noch befanden sie sich in der Versuchsphase und es bedurfte mehr als eines Akasha eine Formel auszutüfteln, die allen Macallah gleichermaßen  Erleichterung verschaffte. Einige Glückliche sprachen hervorragend auf den Prototyp des Zaubers an und schafften mit der vorläufigen Formel sogar die Aufnahme in die kämpfenden Reihen der Hüter, Gwyn gehörte nicht zu ihnen. Der Zauber benötigte eine quälende Weile ehe er wirkte und sie musste ihn lange vor ihren Einsätzen aufheben, biss die Zähne im Dazwischen einfach zusammen, statt sich wimmernd auf dem Fußboden zusammenzurollen. Mehr als alles andere rechnete er ihr diese Einsatzbereitschaft hoch an.
»Er hat die Wahrheit über seinen Handel mit Nathair erzählt.« Sie hob ihre Stimme nicht über ein Flüstern, da selbst die eigene Stimme ihr Schmerzen bereitete.
Ihr Name klang wie Hohn in seinen für die Stimmen der Vergangenheit glücklicherweise tauben Ohren. Freude, Glück, Fröhlichkeit – so die Bedeutung ihres Namens – aber ausgerechnet sie fanden keinen Platz in ihrem Leben, mussten der Stille und der Einsamkeit weichen. Die Stille wäre vielleicht noch erträglich, aber die Art und Weise, wie jeder, der über sie Bescheid wusste, sie mied, kam einer schallenden Ohrfeige nach der anderen gleich und war sicher mit einer der Gründe ihrer Härte sich selbst gegenüber.
Owain war einer der wenigen, der sich nicht davor fürchtete, dass sie alle seine Geheimnisse kannte – hörte – vielmehr war er erleichtert, dass es eine Person gab, der er sich voll und ganz anvertrauen konnte. Amelia sollte es sein, aber aus Liebe zu ihr schwieg er über all’ die Dinge, die er über Nate wusste. Er hatte es nicht für nötig gehalten, dass Gwyneth ihn in gleicher Währung bezahlte, um ihm zu zeigen, dass sie ihm ebenfalls vertraute, aber sie hatte darauf bestanden. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl mit dem Wissen um ihre heimliche Bewunderung für Braeden, der für sie ähnlich unerreichbar war, wie es Amelia für ihn gewesen war, solange ihre erste große Liebe und seine Rücksicht auf Nate zwischen ihnen gestanden hatte. Für Gwyn würde es kein glückliches Ende nehmen und Braeden auf ewig unerreichbar für sie bleiben. Dass sie eine Macallah war und Braeden potentiell schlimmere Geheimnisse zu hüten hatte als der Halbbruder des ins Zwielicht geratenen Großmeisters der Bráthair an Dorchadas zu sein, war nur eines der Hindernisse und möglicherweise zu überwinden. Das Problem war Braeden selbst, der für nichts und niemanden Gefühle erübrigte und blind war für die seltenen Male, da Gwyn lächelte, sobald er in der Nähe oder ihren Gedanken weilte.
»Existiert kein Zauber, mit dem er diese Stimmen der Vergangenheit künstlich erzeugen könnte?«
»Keiner, von dem ich weiß.«
Damit konnte Owain diesen Verdacht von seiner Liste streichen, mit der er sich gegen seinen vermeintlichen Ziehsohn gewappnet hatte, weil er seinem Gefühl nicht zu trauen vermochte. Er wollte Nathair, nein, Teàrlach glauben, an die Besinnung, zu der sein Ziehsohn letztlich gekommen war, an Nate, der ihn wie einen Vater geliebt hatte. Er wollte das nicht allein für sich, er wollte es vor allem für Amelia und seine Töchter, die ihren Bruder niemals kennengelernt hatten.
»Ich habe Nate gehört.«
Er spürte Gwyns Blick auf sich gerichtet, während er Nathair, beziehungsweise Teàrlach, nicht aus den Augen ließ. Sie berührte seinen Arm. Wäre er ein Akasha, würde es ihr eine Auszeit verschaffen, sie augenblicklich in absolute Stille hüllen. Als Scáthán konnte er ihr jedoch diese vorübergehende Erlösung von ihrer Natur nicht verschaffen, die mehr wie eine Krankheit war. Ihre mitfühlende Geste war allein gedacht, ihn ihrer Unterstützung zu versichern.
»Ich dachte, es würde leichter mit jedem Verbrechen, das Nate ... Nathair sich aufgelastet hat.« Er bedeckte ihre Hand mit seiner. »Die Wahrheit ist, ich vermisse meinen Sohn jeden verdammten Tag.«
Amelia hatte ihm fünf wundervolle Töchter geschenkt, eine von ihnen war sogar in seine Fußstapfen getreten und eine Caomhnóir geworden. Er hatte sich lange gegen die Vorstellung gewehrt und hätte sie vorzugsweise für den Rest ihres Lebens auf ihrem Zimmer eingesperrt. Würde sie ihrer Mutter nur nicht so verflucht ähnlich sehen und sich sein Rückgrat nicht augenblicklich in Gelee verwandeln, sobald sie ihn anlächelte. Da ihr das auf der Straße nicht weiterhelfen würde, hatte er höchstpersönlich ihre Ausbildung übernommen und sie härter rangenommen als jeden anderen Anfänger. Er hatte ihr etwaige Flausen austreiben, ihr klarmachen wollen, dass sie sich nicht aus einer Laune heraus für die Hüter entscheiden durfte, oder weil sie glaubte, er würde sie noch mehr lieben – das war überhaupt nicht möglich. Sie war auf allen vieren von der Übungsmatte gekrochen und doch jeden Tag aufs Neue gegen ihn angetreten. Sie war wirklich sein ganzer Stolz, aber Nate ...
»Du möchtest Teàrlach glauben und meine Unterstützung hast du.«
Gwyn zog ihre Hand unter seiner heraus, hatte den Kontakt über Gebühr aufrecht gehalten, obwohl durch solche Nähe aus einem Flüstern der Vergangenheit ein Schreien wurde.
»Du hältst weitere Überprüfungen also für überflüssig?«
»Du solltest ihn so lange prüfen bis dein Verstand akzeptiert, was dein Instinkt dir schon jetzt sagt«, stellte Gwyn erneut unter Beweis, wie gut sie ihn kannte. »Ich habe ihrer Unterhaltung gelauscht. Teàrlach ist für Nate dagewesen, er hat ihn auf seiner letzten Reise begleitet, er war wie ein großer Bruder ...«
»Du meinst wie ein Vater.« Auch er kannte Gwyn gut genug, um zu erkennen, wann sie versuchte, ihn zu schonen.
»Sohn dreier Väter, das hat Teàrlach Nate mit auf den Weg gegeben. Er hat nicht versucht, dich zu verdrängen oder seinen leiblichen Vater.«
»Dann konnte Nate sich glücklich schätzen, ich kann mich glücklich schätzen, Teil seines Lebens gewesen zu sein.«
»Er ist nicht fort«, überraschte ihn Gwyn.
»Wenn er die Wahrheit sagt, ist Nate unwiderruflich verschwunden.« Hatte sie nicht zuvor alles bezeugt, was Teàrlach ihm während der ersten Befragung erzählt hatte?
»Er hat dir ebenfalls gesagt, dass er seine Gegenwart weiterhin spürte.«
»Ich klammere mich auch an diesen Gedanken, aber das holt Nate nicht zurück.« So sehr er sich das wünschte. »Er hätte nicht einmal einen Körper, in den er zurückkehren könnte und falls dir der Croesiadh in den Sinn gekommen ist ... Ich glaube nicht, dass die Liebe eines Vaters ausreicht, ihn zurückzuholen.«
Selbst die Liebe dreier Väter würde das nicht und das hatte nichts damit zu tun, dass Owain es für eine Sünde hielt, dass der hinterbliebene Gefährte mit aller Kraft am Lebensfaden des verstorbenen festhielt und ihn ins Leben zurückholte. Ihm war im Laufe seiner Dienstzeit zu viel Kummer begegnet, um sich zum Richter über die aufzuschwingen, die nicht loslassen wollten. Die Liebe eines Dämonen überdauerte den Tod, oft auf eine für Außenstehende grausame Weise, rissen sie ihre Gefährten doch mit in den Tod. Aber das traf nicht auf die Dämonenheit als Ganzes zu und bei Mischbeziehungen wurde es noch komplizierter.
»Ich weiß nicht, wie es geschehen wird ... ob es geschehen wird.« Ihr Flüstern war nun beinahe unhörbar. »Es war vielleicht nur der Traum eines sterbenden Kindes, aber angesichts der Tatsache, dass eine Legende in unserem Sigillen-Kreis eingeschlossen ist, halte ich nicht mehr viel für unmöglich.«
»Nathair war tatsächlich schon zu Lebzeiten eine Verbrecherlegende.«
Die Amelia niemals zu Ohren gekommen war und sie auch künftig nicht erreichen würde, dafür trug Owain Sorge. Selbst seine Tochter hatte er ohne ihr Wissen zum Stillschweigen verpflichtet und sie von jedem Fall abgezogen, der nur entfernt mit Nathair zu tun hatte. Als Teàrlach aufgetaucht war, hatte er sie unter einem Vorwand nach Atlanta versetzen lassen. Ihm war wohler bei dem Gedanken, dass sie Tiontaigh-Labore aushob oder Angel Tears-Dealer in Gewahrsam nahm, statt sich vorzustellen, sie würde unerwartet ihrem Bruder gegenüberstehen, den ihre Mutter vergötterte und ihr Vater wie ein dunkles Geheimnis mit sich herumtrug. Es machte keinen Unterschied, dass der Mann im Sigillen-Kreis streng genommen nicht ihr Bruder war, wenn er seiner Geschichte glauben schenkte und das tat Owain nach Gwyns Expertenmeinung.
»Davon spreche ich nicht.«
»Sondern?«
Die Gerüchte waren auch ihm zu Ohren gekommen, aber er wollte es von ihr hören. Sie verdrehte sie Augen, weil sie wusste, dass er sich nur nicht zum Idioten machen wollte.
»Er hat dem Legat der Fiannah angehört.«
»Ich habe dich nicht für ein Groupie gehalten. Das erklärt, warum du drei Stunden dort drin warst.« Unter normalen Umständen kam sie sehr viel schneller zu ihren Ergebnissen.
»Ich habe sie schreien gehört«, wisperte sie. »Krieger, die um das Leben ihrer Gefährtinnen gebettelt haben. Kriegerinnen, die dem Wahnsinn verfielen, weil sie gezwungen worden waren, Folter und Tod ihrer Lieben mitanzusehen. Verräter, die ihre Taten bereuten und ihr Leben für das ihrer Gefährtinnen angeboten haben.«
Gleichgültig, was er jetzt sagte, alles würde einen faden Beigeschmack hinterlassen, also schwieg er mit Gwyn und beobachtete den Mann, der behauptete Teàrlach zu sein, aber aussah wie Nathair.
»Normalerweise verblassen die Stimmen einer so fernen Vergangenheit wie Erinnerungen, aber ihm haften sie an als wäre alles erst wenige Stunden her und nicht Jahrhunderte.«
»Hört er sie?«
»Ich kann es nur vermuten, aber vermutlich hat die Kammer die Stimmen gedämpft.«
»Kammer
»So bezeichnet er den Teil von Nathairs ... Unterbewusstsein, in dem er lange Zeit eingeschlossen und nicht mehr als ein Beobachter gewesen war.«
»Du sprichst von seinem Domhain.« Ihr Nicken war mehr eine Ahnung, aber es genügte als Bestätigung, dass sie diesen umstrittenen Begriff gegen eine gängigere Bezeichnung ausgetauscht hatte.
»Viele zweifeln seine Existenz an«, erklärte sie ihre Vermeidungsstrategie.
»Ich ebenfalls.«
Ein Empath hatte Teàrlach überprüft und die Existenz dieses Konstrukts beschworen, obwohl er eingestehen musste, dass seine Fähigkeiten kaum ausreichten, an der imaginären Pforte zu kratzen, die diese innere Welt von der äußeren trennte.
»Obwohl du selbst in zwei Welten lebst«, erinnerte sie ihn.
»Hangholau ist real ...«
»Für die Scáthán ist das Halblicht real.« Sie wartete sein zähneknirschendes Zugeständnis nicht ab. »Bisher war das Domhain auch für mich nicht mehr als eine Theorie, aber er könnte der Beweis sein. Eine Unmenge an Wissen geht verloren, durch unsere eigene Schuld und die der Menschen. Wir zweifeln die Existenz der Ewigen Finsternis nicht ...«
»Die Rugadh ...« Ihr strenger Blick brachte ihn zum Schweigen.
»Wir zweifeln Hangholau nicht an«, fuhr sie fort, »weshalb also das Domhain? Meinetwegen nenn’ es Unterbewusstsein oder Es, wenn dir menschliche Kategorien lieber sind.« Sie wusste sehr genau, dass er den Theorien der Menschen noch viel weniger abgewinnen konnte.
»Obwohl du das alles für Unsinn hältst, wirst du mit keiner besseren Erklärung für den Hort unserer Erinnerungen, Träume und Ängste aufwarten können.«
Insbesondere dann nicht, wenn er durch das magisch verstärkte Panzerglas blickte und die Verkörperung all dieser Dinge vor sich sah.
»Es ist also wahr, was er uns erzählt und verschwiegen hat«, fasste Owain zusammen, ehe sich ihre Unterhaltung in eine Richtung entwickelte, in die er nicht gehen wollte. Als Andersblütiger sollte er es besser wissen, etwas anzuzweifeln, das sich außerhalb seiner eigenen Begriffswelt befand, es auszublenden oder zu verdammen, wie es die Mehrheit der Menschen vorzog.
»Er ist Teàrlach und nicht Nathair, ein Verräter, statt eines stinknormalen Verbrechers.«
Ein Lord der Unterwelt war weit entfernt von stinknormal, aber es war keine bloße Redewendung, dass das schlimmste aller Verbrechen der Verrat war – er lud den Feind an Orte, an denen man sich sicher fühlen sollte.
»Ich kann die Entscheidung, ihm zu vertrauen, nicht für dich treffen, ich kann dir nur dazu raten.« Gwyn schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln und verschwand.
Wenn ihn etwas an ihr störte, dann dass sie nicht nur auf so leisen Sohlen schlich, dass sie selbst den Aufmerksamsten einen Schrecken einjagte. Es wurde nicht viel besser, wenn sie sich von Ort zu Ort zappte. Owain lächelte beim Gedanken, wie sie selbst ihre Fähigkeit bezeichnete, die ihr ermöglichte, wie eine Schallwelle von der Luft getragen zu werden und durch die meisten Materialien zu dringen.
Es gab noch eine zweite nervige Sache an ihr: Gwyn lag bis auf eine zu vernachlässigende Zahl von Ausnahmen immer richtig mit ihren Ratschlägen.

Teàrlach - Das Legat der FiannahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt