Kapitel 12: Die Letzte der Fiannah

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Die Letzte der Fiannah

 

»Es ist viel Zeit vergangen, Teàrlach.«
Die vertraute Stimme machte ihm bewusst, wohin er vor dem Grauen geflüchtet war. Ausgerechnet in die Burg der Fiannah hatte ihn sein Weg geführt, in das Heim, das er zerstört hatte und Dank ihm in Trümmern lag.
Die Stallungen waren verwaist. Krähen labten sich auf dem Sattelplatz an den Kadavern der einst so stolzen Rösser. Kalter Rauch erfüllte die Luft. Die Ruinen der weitläufigen Burganlage hoben sich anklagend vom Nachthimmel ab. Aus den Wänden gebrochene Steine knirschten nicht unter den Stiefeln seines körperlosen Leibes. Auf dem Weg zu dem einzigen Ort, an dem er noch Leben spürte, schritt er durch verkohlte Balken hindurch und mühte sich nicht, die Ansammlung von Ratten zu meiden, die ihn in ihrer Fressgier selbst dann nicht bemerkt hätten, wäre er mehr als eine bloße Erinnerung. Die Große Halle hieß ihn nicht willkommen. Er hörte nicht mehr das Lachen der Kriegerinnen oder ihrer Gefährten. Die Feuer in den nach allen vier Himmelsrichtungen ausgerichteten Kaminen waren lange verloschen. Ein Großteil der Decke fehlte. Thatuáil saßen wie Totenwächter auf den verkohlten Balken, die wie drohende Finger in den Nachthimmel ragten ...
Nein, wie verzweifelt gereckte Hände.
»Herr, ich ...«
»Herr? Ich bin dein Vater. Ich habe dich in diese Welt gebracht.«
Und Teàrlach hatte es ihm durch die Vernichtung des Wertvollsten und Liebsten gedankt, das Asarlaír jemals in Händen hielt und niemals wieder halten würde.
»Verzeih mir, Vater«, verlangte er auf Knien Unmögliches. Das Motiv für seinen Verrat war Schall, der von der herrschenden Totenstille verschlungen wurde, und Rauch, der vom verkohlten Gerippe ihres einstigen Heims in den Nachthimmel stieg.
»Ich kann nicht«, antwortete Asarlaír mit brüchiger Stimme. »Ich bin zu müde.«
Seine Erscheinung strahlte diese Erschöpfung aus. Aus ihm war ein Greis mit silbrig-weißen Haaren und gebrechlichem Körper geworden, dessen Züge immer noch die eines Mannes in den besten Jahren waren und ihn dadurch verhöhnten. Im hohen Lehnstuhl des Familienoberhaupts wirkte er verloren – ein Sinnbild für den schmerzlichen Verlust, den er erlitten hatte.
»Bitte, Vater, bestrafe mich.«
Er sehnte sich nach einem endgültigen Urteil. Fällte Asarlaír es über ihn, würde es seinem Vater die Genugtuung verschaffen, seine geliebten Töchter und Söhne gesühnt zu haben. Teàrlach war mit leeren Händen gekommen. Er hatte Asarlaír nicht allein seiner ältesten Tochter beraubt, er hatte ihm versagt, sie auf ihre letzte Reise zu schicken. Rache zu üben, war das einzige Geschenk, das ein trauernder Vater vom Mörder seines Kindes − aller seiner Kinder − entgegennehmen durfte.
»Ich bin des Strafens überdrüssig.«
In seinem Zorn war Asarlaír wie ein Berserker durch die Welt gerast, hatte die niedergemetzelt, die ihm anbefohlen worden waren. Nur die Schuldigen, denn selbst außer sich vor Kummer und zerfressen von Gram, hatte sich der Weiße Zauberer nicht der dunklen Seite zugeneigt. Aber für die Verräter, Mensch wie eigene Söhne, war er Richter und Henker zugleich gewesen.
»Es wird mir meine Kinder nicht zurückbringen.« Asarlaír gebot ihm mit einer schwachen Handbewegung, sich zu erheben und blickte sich suchend in den Überresten glücklicher Tage um.
»Siehst du dieses Mädchen?« Er wies mit zitternder Hand in eine Ecke der Halla an Theaghlach.
Eine dunkle Gestalt löste sich aus den Schatten. Sie schien sich gar nicht weit genug weg vom Weißen Zauberer aufhalten zu können und wollte doch im selben Maße, ihm nah sein. Ihre schlanke Gestalt war in einen schwarzen Umhang gehüllt, der sie umspielte wie ein lebendiges Wesen. Es schien, als umfingen seidige Schwingen ihre schmalen Schultern. Sie erinnerte an eine Crónsiogha, eine Dunkle Fee, doch wem sollte sie die Botschaft des nahenden Endes überbringen? Teàrlach war bereits tot und auch Asarlaír war dem Tode näher als dem Leben. Die Große Halle hatte er zu seiner Gruft erkoren.
Das fremde Mädchen hob den Kopf. Ihr rabenschwarzes Haar teilte sich wie ein Totenschleier und offenbarte ein blasses, eingefallenes Gesicht. Alterslos. Weder jung noch alt, zeugte es von einem nicht gelebten Leben. Das Silber ihrer Augen wies sie als Tochter des Weißen Zauberers aus und ihre Züge als eine der Fiannah. Sie war der Spiegel ihrer verlorenen Seelen, selbst der ihres eigenen Vaters. Teàrlach ertrug den Anblick der schmerzlich vertrauten Fremden nicht länger und wandte sich ab.
»Sieh’ sie an! Betrachte, wozu du mich gebracht hast.« Asarlaírs Stimme gewann an Kraft, um gleich wieder zu der eines erschöpften Mannes zu werden. »Tritt näher, Kind«, bat er sanft.
Das Mädchen lächelte traurig und tat wie ihr geheißen. Sie bewegte sich durch die Trümmerlandschaft ohne zu Straucheln. Diese Welt der Zerstörung und des Leids war ihr vertraut, sie war die einzige, die das jüngste Kind des Weißen Zauberers kannte. Mit gesenktem Kopf blieb sie vor Asarlaír stehen, als erwartete sie ihre Strafe. So anders als Rioghain in der Stunde ihrer ersten Begegnung, die mit stolz erhobenem Haupt dagestanden war und keine Reue für ihr Vergehen gezeigt hatte. Die Teàrlach die Stirn hatte bieten wollen, sollte er der Vollstrecker des Urteils ihres Vaters sein. Ein fataler Irrtum – er war nicht Asarlaírs ausführende Hand gewesen, Teàrlach selbst war die Strafe.
»Ich würde sie dir vorstellen«, wischte der Weiße Zauberer die Bilder der Vergangenheit mit kraftloser Stimme fort, »aber ich gab ihr keinen Namen. Ich wollte sie nicht lieben, wie die anderen. Ich habe sie aus einem einzigen Grund geschaffen: die Menschen, Cailleach und alle Verräter zu bestrafen, allen voran dich. Sie sollte die Welt vernichten mit einer gleichgültigen Handbewegung.«
Die Schultern des Mädchens spannten sich an und ihre sich hebenden Hände teilten den lebendigen Umhang. Sie hielt ihnen ihre geöffneten Handflächen bittend entgegen, doch in ihren kummervollen Zügen erkannte Teàrlach keine Bettlerin. Sie empfing nicht, sie schenkte – Vernichtung war ihre Gabe. So schrie es aus jeder auf den Kopf gestellten Rune, jeder Bannformel, jeder in ihre Haut geschnittenen, gebrannten oder geätzten Sigille und jedem ihm fremden Symbol. Sie bedeckten in so großer Zahl ihre Handflächen, dass sie ineinander schwammen und ihre dünnen Arme hinaufkrochen. Möglicherweise war ihr gesamter Körper damit bedeckt.
»Nicht, Kind«, gebot Asarlaír ihr sanft Einhalt. Gehorsam senkte sie ihre Hände, bis das lebendige Schwarz ihres Umhangs – oder ihrer Schwingen – sie verhüllten.
»Ich habe ihr all’ meine verbliebene Macht gegeben«, fuhr der Weiße Zaubrer an Teàrlach gewandt fort.
»Ich forderte alte Gefallen ein. Von Hexen und Magiern, von Dämonen aller Kasten, von Schatten- und Lichtwesen, von allen, die den Fiannah wohlgesonnen gewesen waren und ihre Vernichtung nicht ungesühnt sehen wollten. Sie haben dieses Mädchen mit dem besten Rüstzeug ausgestattet, ohne zu ahnen, in welche Schlacht ich sie schicken würde. Dass sie zum Dank für ihre Hilfe mit mir, der Welt und allen Übeln darin untergehen sollten.«
In seinem Blick erkannte Teàrlach, wie schwer Asarlaír dieser Vertrauensbruch gefallen war. Aber er sah auch im nunmehr kalten Silber seiner Augen, wie ihn der Verlust seiner geliebten Kinder verändert hatte. Er hätte den Weißen Zauberer niemals einer solchen Tat für fähig gehalten, doch er traute es dem trauernden Vater zu. Teàrlach verurteilte ihn nicht, Asarlaír besaß jedes Recht, die Welt und alles Böse mit sich zu reißen. Selbst alte Weggefährten. Selbst das nach der Auslöschung seiner Familie verbliebene Gute in dieser Welt.
»Aber ich kann es nicht«, brach Asarlaír das stille Einverständnis zwischen ihnen. »Ich kann es ihr nicht befehlen und sie allein zurücklassen in einer toten Welt.«
Der Weiße Zauberer erhob sich und streckte die Hand nach seiner Tochter aus. Sie ahnte die Geste mehr, als sie mit ihrem gebeugten Haupt zu sehen. Ihre von der Macht der Vernichtung gegeißelten Hände legten sich vertrauensvoll in die ihres Vaters. Er küsste die Stirn seiner Tochter und wandte sich Teàrlach zu.
»Willst du sie? Willst du ihre Macht mit ihr teilen? Auf dass sich endlich deine Wünsche erfüllen? Willst du in einer Welt mit ihr leben, die keine ist?«
»Nein, Vater.« Er wollte auch nicht mehr in dieser existieren. »Ich liebe Rioghain und werde sie immer lieben.«
»Dann soll dies deine Strafe sein, die letzte, die ich aussprechen werde.«
Asarlaír sank in seinen Lehnstuhl. Seine jüngste Tochter half ihm wie einem gebrechlichen Alten, sich darin aufzurichten und flüsterte ihm Worte der Hoffnung zu, bis er sie mit einem Kopfschütteln zum Schweigen brachte. Er schob ihre tröstlich auf seinem Arm ruhende Hand mit einer rüden Bewegung beiseite. Das Mädchen wich hastig zurück, schien sich bewusst, durch ihre Fürsorge, eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben. Ehe sie den Kopf senkte, um ihr Antlitz hinter dem Trauerschleier ihre Haare zu verbergen, begegnete ihr Blick Teàrlachs. Zum ersten Mal zeigte sie eine nicht von ihrem Vater gelenkte Reaktion und presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie. Sie blinzelte silberne Tränen fort, die er bei ihr nicht vermutet hätte. Sie lebte in Trauer seit Asarlaír sie erschaffen hatte, sämtliche ihrer Tränen sollten längst vergossen sein.
»Verzeih’ mir, Kind.«
Der Zauberer war nicht so blind für die Gefühle seiner ungeliebten Tochter, wie er es sich wohl wünschte. Er streckte die Hand nach ihr aus und wurde nicht zornig über ihr Zögern, selbst eine Zurückweisung würde er ihr wohl durchgehen lassen. Aber das Mädchen schlug die versöhnliche Geste nicht aus und dankte sie ihrem Vater mit einem Lächeln, zu dem sie sich nicht zwingen musste.
»Ich bin verflucht, Teàrlach«, wandte Asarlaír sich ihm zu, hielt die Hand seiner Tochter fest umschlossen. »Ich bin auf ewig verdammt, meine Kinder zu lieben.« Fühlte das Mädchen sich als Teil eines Fluchs, zeigte sie es nicht. Sie sah ihren Vater weiterhin wie eine liebende Tochter an.
»Du wirst meine Verdammnis teilen, Sohn. Du sollst zu ewiger Liebe zu Mhór Rioghain verflucht sein. In einer Welt und einer Zukunft, über die ich noch nicht entschieden habe.« Er entließ die Hand seiner jüngsten Tochter. Sie blickte Teàrlach aus kalten, traurigen Augen an.
»Sie wird mein Scharfrichter sein. Meine Tochter, der ich keinen Namen gegeben habe, damit dein Hass sie niemals trifft.«
»Ich nehme deine Strafe voller Dankbarkeit an.« Erleichterung erfüllte Teàrlach wie ein lange vermisster Frieden. »Ich gebe dir mein Wort, deiner Tochter niemals die Schuld für das zu geben, was ich verbrochen habe, und wofür ich jede Höllenqual dieser und einer andern Welt und Zukunft verdiene.«
»Versprich nichts, ehe du nicht weißt, worin deine Strafe bestehen wird. In welchen Kerker ich dich schicke, um die Qualen mit dir zu teilen, die ich tagein tagaus durchlebe.«
Asarlaír nickte unmerklich und seine jüngste Tochter setzte zu einer Beschwörung an. Die Worte waren Teàrlach fremd und vertraut zugleich, eine Mischung aus vielen Sprachen.
»Ich liebe dich, Teàrlach«, sagte Asarlaír über das Wispern des Mädchens hinweg, »wie alle meine Kinder. Aber du bist in unserer einst sicheren Burg nicht mehr willkommen. Deine künftige Heimstatt wird eine sein, die du aus tiefstem Herzen verachtest, weil ich dir die Verachtung für das Böse in die Wiege gelegt habe. Doch du wirst dort ausharren, bis ans Ende aller Zeiten. Du wirst mich verfluchen, wie ich dich verfluche. Aber du wirst mich auch lieben, wie ich dich liebe.«
»Danke, Vater.«
Teàrlach neigte sein Haupt, schloss die Augen und lauschte der Beschwörung. Er fühlte wie sein hüllenloser Geist emporgehoben und fortgeschleudert wurde, einem Morgen entgegen, das möglicherweise niemals existieren würde und in dem nur das eine gewiss war – seine Liebe zu Rioghain.

Teàrlach - Das Legat der FiannahWhere stories live. Discover now