Kapitel 6: Schicksal und Schmetterlinge

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Schicksal und Schmetterlinge

 

»Komm’ zu mir«, flüsterte sie in die Stille ihres Kerkers, sobald sich die Tür hinter Teàrlach geschlossen hatte und seine Schritte sich entfernten.
Ihr war gleichgültig, ob der Fremde nur Blendwerk war, sie fand Trost in seiner Gegenwart. Hände legten sich auf ihre Schultern und strichen ihre Arme hinab. Sie lehnte sich in seine Umarmung, die sich vor ihrem Körper schloss.
»Wie kann ich ihn lieben und zugleich hassen?« Sie drehte sich in den Armen des Fremden. Sie wollte in seine Augen sehen, statt die modrigen Steine anzustarren.
»Wie kann ich Trost bei einem anderen finden und ihn dennoch nicht aus meinem Herzen verbannen? Ich hielt sein Leben in meinen Händen.« Sie lachte freudlos.
»Cailleach wäre ihrem Verbündeten nicht zu Hilfe geeilt, er ist ihr die Knochen ihrer Lakaien nicht wert. Ich hätte ihn hier und jetzt für seinen Verrat bestrafen können. Warum habe ich gezögert?«
Sie legte ihre Hand auf seine Brust. Er war ein Trugbild, doch sie fühlte seinen Herzschlag, wie sie die Wärme seiner Umarmung spürte. Er strich ihr das Haar über die Schulter, dabei fand er das Amulett, wog es nachdenklich in seiner Hand.
»Ich habe keine andere Erklärung für dich, als die, die ich dir bereits gegeben habe.«
Rioghain legte ihre Hand an seine Wange, damit er ihr, statt dem Amulett, seine Aufmerksamkeit schenkte.
»Dass ich nicht rachsüchtig bin?« Sie strich mit dem Daumen über das sanfte Lächeln auf seinen Lippen. »Du irrst dich in mir. Ich wollte ihn für seinen Verrat töten.«
In ihrem Herzen hatte sich Zweifel eingenistet, während die Folterknechte sie mit ihren Lügen gefüttert hatten. Teàrlachs Geständnis formte Hass daraus, nur ein kleiner Tropfen, der unter normalen Umständen einen reißenden Strom genährt hätte.
»Du hast es nicht getan, allein das zählt.«
Der Fremde, der sie zu ihrem Strohlager führte, war der beste Beweis, dass die Umstände alles andere als normal waren. Sie ließen sich auf dem schmutzigen Stroh nieder, er lehnte mit dem Rücken gegen die feuchte Wand und bildete auf diese Weise ihr Schild gegen die Kälte. Sanft drückte er ihren Kopf an seine Brust, schenkte ihr den Trost seines gleichmäßigen Herzschlags und wartete mit ihr.
»Was wird das Morgen bringen?«
Was plante die Hexe mit ihr? Rioghain hatte von der Ewigen Finsternis gehört, es hieß, Cailleach betrachtete sie als ihren Garten, spazierte zwischen den verbannten Seelen und erfreute sich an ihrem Elend.
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Kannst oder darfst du es nicht?«
Das war das Widersinnige an einer Féirín, wie sie ihrer Schwester Aislingh geschenkt worden war. Sie träumte von künftigen Dingen – wenn auch nicht ausschließlich – und doch waren sie es, die aus ihrer Gabe einen Fluch machten. Ihr Gefährte nahm einen Teil der Last von ihren Schultern, aber selbst er war nicht gefeit gegen das Dilemma, das Morgen zu kennen. Verschlüsselte Andeutungen, wie beide sich stets beeilten zu versichern, doch diese Hast erregte Rioghains Misstrauen und den Verdacht, die Zukunft offenbarte sich den beiden auch in klaren Bildern. Möglicherweise war der Fremde an ihrer Seite eines davon, aber in diesem Moment fühlte er sich wahrhaftig an. Sie richtete sich auf, um ihn anzusehen und wurde von seinem Kuss überrascht – sanft und sehnsüchtig – nur ein Versprechen von Leidenschaft.
»Ich kann es nicht. Ich weiß nur, dass die Zukunft uns gehört und das Schicksal dafür sorgen wird, dass sich unsere Wege kreuzen. Was bis dahin geschieht, liegt im Dunkeln. Ich weiß nicht, was mich hierher geführt hat und ich habe keine Ahnung, ob ich mir das alles nicht nur einbilde ... oder träume.«
»Wenn es ein Traum ist, möchte ich nicht erwachen.«
Sie wollte den Traum innerhalb eines Albtraums festhalten, statt in Teàrlachs Armen zu erwachen. Sie zog ein klammes Strohbett an der Seite eines Fremden ihrer Bettstatt vor und hüllte sich lieber in ein Versprechen statt den weichen Leinen, die den Duft der Liebe zu ihrem Leathéan nicht zu bewahren vermochten. Sie sollte Scham empfinden, aber war zu oft allein in ihrer gemeinsamen Bettstatt aufgewacht, während Teàrlach in den Armen seiner Soith gelegen hatte.
»Du wirst aus diesem Traum erwachen, mich vergessen und vermutlich hat das Schicksal sich dasselbe für mich ausgedacht.«
»Die sprichst vom Schicksal als wäre es ein lebendiges Wesen. Ein launisches Weib.«
Ein Lächeln teilte seine Lippen.
»Ich komme aus einer anderen Zeit, unsere Welten unterscheiden sich.« Sein Blick schweifte durch den Kerker. »Allerdings nicht so sehr, wie man annehmen sollte ... Was?«
»Du bist ...«
Wie sollte sie ihn nennen? Er war kein Angehöriger des Oidhreacht an Fiannah, des Legats der Fiannah – Vermächtnis und Streitmacht des Weißen Zauberers zugleich – und doch verband sie mehr als die Tatsache, dass er kein Mensch war.
»Sag’ nicht Vampir.« Er verzog das Gesicht. »Ich hasse es, so bezeichnet zu werden. Vampire sind der menschlichen Fantasie entsprungen.«
»Uns geben sie auch Namen.« Blutsäufer. Teufelshuren. Dämonische Brut. Sie hieß man gar die Hure des Todes – ihres eigenen Bruders.
»Ich wette keiner davon gefällt euch.« Sein Finger zeichnete den harten Zug um ihren Mund nach, den die zurückliegenden Ereignisse dauerhaft in ihr Gesicht gegraben hatten.
»Die Zeiten ändern sich, aber die Menschen nicht.« Er hob ihr Kinn an und küsste die Hinterlassenschaft ihrer Verbitterung.
»Wir nennen uns Rugadh
»In meiner Sprache bedeutet das Geborener.«
Seine Aussprache war gar nicht so verschieden von der ihren, nur unwesentlich härter. Fiannainn – die Zunge der Fiannah – klang wie ein Singsang, manchmal wie ein Lied, das ungläubiges Staunen bei ihren menschlichen Schutzbefohlenen weckte. Ihnen schien undenkbar, dass blutsaufende Teufelshuren keine ohrenbetäubenden Misstöne von sich gaben.
»Das bedeutet es auch in meiner. Die Menschen glauben die Hölle habe uns ausgespien und halten uns für lebende Tote, aber wir wurden geboren, wie sie, wir haben Mütter und Väter, Familien.«
»Ich habe keine Mutter.«
Sie musste an Teàrlachs Wunsch denken, sie möge ihm Töchter und Söhne gebären. War sie fähig, Leben zu schenken, obwohl sie selbst nicht geboren worden war? Würde sie leben, um es herauszufinden? Wollte sie Teàrlach diesen Wunsch überhaupt erfüllen? Nachdem er sie verraten hatte? Aus Liebe, daran hielt sie trotz des Zweifels in ihrem Herzen fest. Das Herz, in das sie einem Fremden Einlass gewährt hatte. Er küsste ihre Stirn, vertrieb die dunklen Gedanken und Schuldgefühle, aber nicht die Zweifel, die sich in etwas Kälteres verwandelten.
»Aber ich habe eine Familie.« Agronah. Sie war durch ihre Schuld in die Falle geraten, die allein für sie bestimmt gewesen war.
»Teàrlach wird sein Wort halten«, erriet der Fremde ihre Gedanken. Er legte den Arm um ihre Schultern, wickelte eine Strähne ihres Haares auf, ließ sie von seinem Finger rutschen und wiederholte das Spiel.
»Er hat es bereits gebrochen.«
Das Versprechen, das er ihr bei ihrer Verbindungszeremonie gegeben hatte. Und sie war im Begriff dasselbe zu tun. Teàrlach hatte sie an die Schwarze Hexe verkauft, verriet sie ihn nicht an einen Fremden?
Nein. Was zwischen ihr und dem Fremden passierte, war kein Treubruch, weil er nicht existierte. Noch nicht.
»In welcher Zeit ... Nein, besser ich weiß es nicht.«
Obwohl die Wahrscheinlichkeit groß war, dass sie alles vergaß, was er ihr mitteilte. Das Morgen zu kennen, würde sich nur wie ein Fluch gegen sie wenden.
»Zeitparadoxon. Schmetterlingseffekt. Es ist wirklich besser, wenn du nichts über meine Zeit weißt, sonst überlegt es sich das Schicksal vielleicht anders.«
»Was haben Schmetterlinge damit zu tun?«
»Ein klügerer Mann als ich hat sich dieselbe Frage über die mögliche Auswirkung des Flügelschlags eines Schmetterlings in Brasilien auf die Entstehung eines Tornados in Texas gestellt, oder war es Oklahoma und eine Libelle?«
Er fuhr sich übers Gesicht und blickte in ihres, als fände er dort die Antwort. Er würde in ihren Zügen nur Verwirrung sehen, sie wusste nichts über Tornados, Brasilien, Oklahoma oder Texas und wenig über Libellen und Schmetterlinge.
»Absolut nichts«, beantwortete er ihre Frage, statt weiter noch mehr aufzuwerfen, zog sie an sich und legte sein Kinn auf ihren Kopf.
»Bláthnaids Garten ist voller Schmetterlinge.«
Sie streckte ihre Hand aus, erinnerte sich, wie eines der zarten Geschöpfe auf ihrem Finger gelandet war und bedauerte, nicht öfter das kleine Paradies ihrer Schwester besucht zu haben, deren Féirín so unpassend für eine Kriegerin mehr dem Leben als dem Sterben gewidmet war, dem Bewahren statt der Vernichtung. Würden ihre Feinde die Schönheit des Gartens erkennen oder mit ihren Rössern alles niedertrampeln, die alten Bäume mit ihren Äxten fällen und die Vögel mit ihren Pfeilen durchbohren?
»Wäre es den zarten Geschöpfen möglich, mit einem Flügelschlag unsere Feinde in die Flucht zu schlagen?«
»Dieser kluge Mann würde das bejahen.« Er verwob die Finger einer Hand mit ihren und küsste ihren Handrücken. »Aber er würde auch davor warnen, dass der Schlag eines Schmetterlingsflügels unvorhersehbare Folgen in der Zukunft haben kann.« Er küsste ihren Handrücken. »Aber reden wir nicht über die Zukunft, fordern wir das Schicksal nicht unnötig heraus.«
»Käme es einer Herausforderung gleich, wenn du mir deinen Namen nennst?«
Sie brauchte etwas, an das sie sich klammern konnte, sobald der Traum zerplatzte und der Albtraum sie verschlang. Das Schicksal, dieses launische Weib, musste ihr einen Funken Hoffnung lassen.
»Quinn.«

Teàrlach - Das Legat der FiannahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt