Kapitel 5: Vom Leben und Sterben der Liebe

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Vom Leben und Sterben der Liebe

 

Rioghain sog schmerzvoll die Luft ein, bog ihren Rücken dem Schmerz entgegen, um sich dann stöhnend zusammenzukrümmen, bildete sich ein zu hören, wie die breite Schwertklinge ihre Rippen zerbrach, wo die Spitze sich ihren Weg bahnte. Sie versank in tröstlicher Dunkelheit und sobald sie sich lichtete, bereitete ihr das Atmen keine Pein und aus ihrer Brust ragte keine blutige Schwertspitze. Ihr Herz war nicht durchbohrt und sie nicht in eine Starre versetzt worden, die sie ihren Angreifern hilflos auslieferte. Es hatte sich so wahrhaftig angefühlt, dass sie weiterhin den Schmerz spürte, obwohl sie mit eigenen Augen sah, dass nichts geschehen war. Nicht, seit sie in diesem Loch gelandet war.
Sie rollte sich auf dem Rücken. Das Stroh, das vielen vor ihr als Lager gedient hatte, war feucht von Tränen und Blut – getränkt von Furcht und Verzweiflung. Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre feuchten Wangen. Sie hatte diese Tränen nicht über ihr eigenes Schicksal vergossen, sondern die Lügen, mit denen man sie fütterte. Über Teàrlach und seine Beteiligung an der Intrige der Schwarzen Hexe gegen sie, ihren Vater und ihre Familie …
Sie musste hier raus! Ihre Schwestern warnen und ihren Bruder um Unterstützung bitten. Mit seiner Hilfe würde Rioghain eine ganze Armee all’ der verlorenen Seelen aufstellen, die eine Schuld zu begleichen hatten und darauf hofften, ihren Frieden zu finden. Sie musste ihn nur rufen und er würde die Heerscharen ausheben.
»Kieran«, krächzte Rioghain heiser.
Ihr Hals schmerzte und sie erinnerte sich nun wieder – sie hatte gerufen. Wieder und wieder. Doch er hatte ihr eine Antwort verweigert. Wahrscheinlich steckte Cailleach auch dahinter oder seine Ketten waren kürzer als selbst er wahrhaben wollte.
Kieran hatte diese für ihn schmähliche Wahrheit Rioghain unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut und sie hatte ihm ihr Wort gegeben, obwohl sie glaubte, ihre Familie würde mehr Verständnis für ihn aufbringen, wenn sie um sein Geheimnis wussten. Der Tod – ihr Bruder – war nicht allmächtig. ihm waren Grenzen gesetzt, von denen, die ihn geschaffen hatten. Wer das war, durfte er ihr angeblich nicht sagen, doch nachdem sie ihn mit Fragen durchlöchert hatte, gestand er ihr, dass seine Allwissenheit ein Mythos war. Seine Schöpfer verschleierten ihre Identität und waren für Kieran nicht mehr als Stimmen, die der Wind verwehte. Sie füllten seinen Geist mit eben genug Dingen an, die er für die Ausübung seiner Pflicht benötigte. Was er darüber hinaus wusste, lernte er von den Seelen, die er in sein Reich holte – ein Herrschaftsgebiet, über das er nicht wahrhaft regierte. Wie auch der Aufenthalt der Seelen nicht von Dauer war. Wohin sie entschwanden, wusste er nicht, nur, dass sie länger bei ihm verweilten, kettete etwas sie an die Welt der Lebenden. Eine Fessel, um die er sie beneidete, sofern sie aus Liebe geschmiedet war.
Für Kieran war Rioghain zu diesem Anker geworden, der ihn hielt. Wäre Asarlaír nicht mit dem Ansinnen auf ihn zugekommen, eine schlagkräftige Streitmacht gegen das Böse zu formieren, hätte er in den vielen einsamen Stunden in einem Reich, in dem Zeit nicht von Bedeutung war, vielleicht einen Weg gefunden, seine Existenz zu beenden. Der Bund mit dem Weißen Zauberer öffnete ihm ein Portal, durch das er sich zwar herausschleichen musste, aber das war mehr als ihm von seinen Schöpfern zugestanden worden war. Nach ihrem Willen durfte er sein Reich nur verlassen, um eine Seele zu holen. Es war nicht seine Entscheidung, wer zu gehen hatte und wer verweilte und die Tränen der Hinterbliebenen durften ihn nicht anrühren. Der Handel mit Asarlaír war Kierans Möglichkeit gewesen, den strikten Anweisungen der den Wind reitenden Stimmen zuwiderzuhandeln, sich von Zeit zu Zeit wenigstens  gegenüber einer Seele unter unzähligen gnädig zu erweisen und die Tränen der Hinterbliebenen zu trocknen. Die Verhandlungen mit seinen körperlosen Schöpfern waren schwierig gewesen und drohten zu scheitern, hätte Kieran sich nicht auf den Tribut eingelassen, den er niemals von Rioghain hatte fordern wollen. Seine Schöpfer waren gierig geworden, wollten mehr als eine Fiannah in ihre Händel zerren, womöglich sogar Asarlaír selbst, aber Kieran war ein unerbittlicher Verhandlungsführer, der sie auf die Menge einer Träne herunterfeilschte, von nur einer Fiannah – seiner Schwester. Der Handel war ein steiniger Mittelweg und Kieran hatte nie aufgehört nach einem Abzweig zu suchen, der zu einem guten Ende für Rioghain führte, ohne dass sie ihre Macht einbüßte.
Das Drehen des Schlüssels im Schloss ihrer Kerkertür riss Rioghain aus ihren Gedanken. Ihr Bruder hielt sie für mächtig, dabei genügte diese lächerliche Pforte, sie in ihr Verlies zu bannen. Sie richtete sich auf, das Klirren und der Zug der Kette, erinnerte sie, dass es mehr als die Pforte gab, die in diesem Moment aufschwang.
»Teàrlach!« Erleichtert streckte sie ihm ihre Arme entgegen und schlang sie um seinen Hals, sobald er vor ihr auf die Knie sank.
»Lügen«, schluchzte sie, »ich wusste, dass sie mir Lügen auftischen.« Auch ohne die Hilfe der Bhannah, die in der Nähe verderbter Druiden-Magie wie gekappt schien. Das Gift war überall, sicherte die Pforte, hielt den eisernen Ring um ihren Hals und die Ketten in ihren Verankerungen auf dem Boden.
Druiden-Magie war eine Schwachstelle der Fiannah, wie sich über die Zeit herauskristallisiert hatte. Eine Unwegsamkeit, die ihr Vater nicht ausräumt hatte, weil sie bei ihrer Erschaffung nicht existiert, möglicherweise ein Dasein im Dunkeln geführt hatte, wie die Druiden selbst. Die Gefahr war so leicht zu übersehen gewesen und nun war es schwierig, ein Gegenmittel zu finden. Asarlaír arbeitete Tag und Nacht an einer Lösung, war bisher jedoch nur auf ein weiteres Rätsel gestoßen. Die Krieger im Legat reagierten weit weniger empfindlich auf das Druiden-Gift und das Beste, womit ihr Vater bisher aufwarten konnte war, dass es mit der Féirín in Verbindung stand, die die Krieger gleichsam aus zweiter Hand empfingen.
Wie konnte Teàrlach glauben, er wäre nicht mehr als ein Blutsklave? Ohne ihn, käme sie niemals aus ihrem Gefängnis. Er befreite sich aus ihrer Umarmung, nahm ihr Gesicht in beide Hände.
»Haben sie dir ...«
Sie brachte ihn mit ihrem Finger auf seinen Lippen zum Schweigen. Sie hatten ihr Gewalt angetan, jedoch nicht in der Weise, wie er annahm. Ihre Kerkermeister, Mensch oder nicht, fürchteten sie für ihre Verbindung zum Tod. Sie hatten ihr nichts angetan, das ihr nie zuvor bei der Erfüllung ihrer Pflicht widerfahren war. Unbekannt war ihr bisher nur, welche Schmerzen Klingen, Peitschen oder Feuer verursachten. Im Kampf spürte sie ihre Wunden nicht, sie heilten, ehe sie ihr bewusst wurden – auf diese Weise hielt ihr Bruder seine schützende Hand über sie. Selten musste sie die Hilfe ihrer Schwester Sláine in Anspruch nehmen und immer spielte Druiden-Magie seine teuflische Rolle.
»Gabh mo leithscéal, Rioghain.«
»Was sollte ich dir verzeihen? Du bist hier, um mich zu befreien.«
Er sank auf seine Fersen, nahm seine Hände von ihren Wangen. Die straff gespannte Kette hinderte sie, näher an ihn heran zu rutschen. Das blaue Knistern ihres Halsrings, strafte sie für ihren Versuch. Die widerwärtige Magie floss über ihre Haut, hinterließ Kälte dort, wo sie unversehrt war und kroch eisig in ihre Wunden. Warum entfernte er sich von ihr? Und wo ...
»Wo ist es?«
Auf der Suche nach dem Amulett, durchwühlte sie das Stroh. Es in Händen zu halten, hatte ihr durch die Stunden geholfen, in denen sie auf die Erfüllung von Aislinghs Prophezeiung gewartet hatte. Endlich fanden ihre Finger das Amulett. Sie befreite es von Stroh und Schmutz und schloss ihre Hand darum, presste die Faust auf ihr Herz. Sie streckte die Finger der anderen Hand nach Teàrlach aus, hielt jedoch in der Bewegung inne. Blut verdunkelte das Leder seines Wams’ und ein Loch war zu erkennen. Es war keine Einbildung gewesen, sie hatte miterlebt, was er durchlitt: wie das Schwert ihn gepfählt und ihn bewegungslos dem Mutwillen seiner Feinde ausgeliefert hatte.
»Was haben sie dir angetan?«
»Frag’ das nicht, Rioghain, bitte, gib mir nicht das Gefühl, ein größerer Versager zu sein als ich ohnehin bin.«
»Ich sorge mich ...«
»Um das, was dein ist.« Seine Stimme sank zu einem kaum hörbaren Flüstern herab.
»Ich halte dich nicht für meinen Besitz.«
»Es ist dir vielleicht nicht bewusst, aber es ist demütigend. Es hat mich dazu getrieben …«
Er streckte beide Hände aus und präsentierte ihr die Innenseiten seiner Handgelenke. Thurisaz war in seine Haut gebrannt, angefüllt mit Magie. Rioghain wollte die Narbe berühren, doch sobald sie die Verbindung wahrnahm, die sie herstellte, sank ihre Hand kraftlos nach unten.
»Cailleach?« Hatte sie ihn wahrhaftig so weit getrieben? Seine Kümmernis, von ihrer Féirín ausgeschlossen zu sein, sträflich unterschätzt? »Warum?«
Tränen brannten in ihren Augen. Sie glaubte über keine einzige mehr zu verfügen, sie alle vergossen zu haben, während sie verzweifelt gegen den von Lügen genährten Verdacht angekämpft hatte, der ihre Liebe zu Teàrlach zu ersticken drohte. Rioghain schloss ihre Faust so fest um das Amulett, dass es in ihre Haut schnitt. Ihre Hand sank in ihren Schoß und sie starrte auf den Bernstein inmitten des verschlungenen Fadens des Lebens. Ihre Tränen gaukelten ihr das Antlitz dessen vor, der nicht Teàrlach war. Sie wehrte sich dagegen, dass das Lächeln des Unbekannten sie tief in ihrem Innern berührte und dass sie, sobald sie die Augen schloss, nicht ihren Leathéan, sondern ihn sah. Manchmal war er auch bei ihr gewesen, wenn ihre Augen offen und ihr Geist wach war. Er hatte kein Wort gesprochen, einfach nur dagestanden, dieser Mann in fremdländischer Kleidung, dem die traditionelle Haartracht eines Kriegers fehlte – Zeichen seines Stolzes und seiner Kraft. Nicht dass es dem Fremden an physischer Kraft fehlte, er schien ihr größer als Teàrlach, seine Schultern breiter und seine Muskeln schwerer. Sie hatte sich wiederholt dafür gerügt, seine Erscheinung zu bewundern oder die Hand nach dem Trugbild auszustrecken, wenn er sich neben ihr niederließ. Es hatte ihr in den Fingern gekribbelt, die dunklen Strähnen aus seiner Stirn streichen, um das warme Braun seiner Augen zu sehen und die funkelnden Bernsteinsplitter darin. Sie hatte gegen den Drang angekämpft, in seine einladend ausgebreiteten Arme zu sinken und Trost bei dem Fremden zu finden ... Weil sie an Teàrlach zweifelte.
»Du weißt, warum.«
Teàrlachs Stimme zerrte ihre Gedanken von dem Unbekannten fort. Sie sah wieder nur ihn vor sich. Seine sanften grünen Augen, den leicht asymmetrischen Mund, der seinem Lächeln etwas Besonderes verlieh und die sanften Wellen seines kastanienbraunen Haares, das über seine Schultern nach vorne fiel, da er den Kopf senkte. Sie legte das Amulett beiseite und nahm seine Hände in ihre.
»Nicht!« Er wollte sich ihr entziehen. »Du darfst Thurisaz nicht berühren. Ihre Magie ist darin, sie wird dich ins Verderben reißen.«
Rioghain strich mit den Daumen über die Brandwunden. Nichts geschah. Sie fühlte Kälte und empfand Widerwillen, die Berührung zu wiederholen, aber Cailleachs Magie ficht sie nicht an. Nicht, wie die schmutzige Magie der Druiden, die unermüdlich durch den eisernen Ring um ihren Hals an ihren Kräften zehrte.
»Sie sollte auch bei dir keine Wirkung zeigen, Teàrlach. Es sei denn ... Sieh’ mich an! Es sei denn, du und Cailleach ...« Hatte sie ihn ausgerechnet an die Hexe verloren?
Ihr Blick wanderte zur gegenüberliegenden Wand, dort stand er wieder. Sie war dicht davor, Teàrlach von sich zu stoßen, um in die Arme des Fremden zu flüchten.
»Nein«, hielt ihr Leathéan sie ab, Trost bei einem Trugbild zu finden. Es wäre ohnehin ein fruchtloses Unterfangen, ob er nun ein Gelicht war oder nicht, die Kette hielt sie an Ort und Stelle.
»Das war es nicht, was ich bei der Hexe gesucht habe. Ich habe ihr niemals beigewohnt und nie für sie empfunden, was ich für dich empfinde.«
»Abscheu?«
Teàrlachs legte seine Hand an ihre Wange und sie schmiegte sich in die Wärme seiner Berührung. Wie lange hatte sie auf den Moment gewartet, dass er es von sich aus tat. Nun beendete er ihr Warten ausgerechnet in einem Kerker.
»Ich liebe dich, das musst du mir glauben, aber ...«
»Aber du flüchtest dich lieber in die Arme einer menschlichen Soith.« Rioghain wollte ihm die Worte ins Gesicht spucken, sie sollte es, doch sie flüsterte. »War es meine Schuld, dass es so weit gekommen ist? Verfüge ich über zu viel Macht?« Sie lachte freudlos über den Gedanken, angesichts ihrer augenblicklichen Machtlosigkeit. »Habe ich dich meine Überlegenheit spüren lassen?«
»Niemals.« Teàrlach küsste sie. Wie lange hatte sie darauf gehofft? »Ich war derjenige, ich habe dich meine Schwäche spüren lassen. Ich war ... Ich bin erfüllt von Neid auf das, was du hast.«
»Ich habe nichts, wenn ich dich dadurch vertrieben habe … in die Arme einer anderen.«
»Du hast mich nicht in Cailleachs Arme getrieben. Und was sie Soith betrifft, sie waren nie mehr als Blutwirtinnen für mich. Was ich getan, weshalb ich mich auf Cailleach eingelassen habe, sollte unsere Liebe niemals gefährden. Ich werde dir ein guter Leathéan sein, ein besserer. Ich werde deine Sorgen auf meine Schultern laden.«
»Das tust du bereits. Jedes Mal, wenn ich glaube, die Last nicht mehr tragen zu können, wenn es zu schwierig für mich erscheint, die Erste zu sein und zwischen Leben und Tod zu wandeln. In diesen Momenten bist du bei mir, um mich aufzufangen.«
»Aber ich will mehr als das, mehr als deine Tränen trocknen. Ich will deine Schlachten schlagen. Für uns. Für unsere Kinder. All’ das im Austausch ...« Er sprach nicht weiter. Seine Stirn legte sich in nachdenkliche Falten.
»Worauf hast du dich eingelassen? Wenn ich weiß, worin der Handel besteht, kann ich ihn lösen.« Da lag noch so viel Vertrautes in seinen Zügen, dass er ihr nicht völlig fremd geworden war. Selbst nach seinem Geständnis würde sich nichts daran ändern.
»Offenbare dich mir.«
»Damit wäre unsere Abmachung nichtig. Die Fiannah wird vernichtet und sie wird leiden bis ihr Ende naht. Sie wird verflucht sein, allein in der Finsternis zu wandeln. Offenbare dich ihr, Teàrlach, und es wird keine Zukunft geben, keine Kämpfe, die du für sie ausfichtst und keine Söhne und Töchter.«
Teàrlach fuhr zu Cailleach herum. Er kam mit einer geschmeidigen Bewegung auf die Füße, während Rioghain von ihren Ketten auf den Knien gehalten wurde. Sie riss daran und fauchte Cailleach an. Gewandet wie eine Kriegerin war ihr Auftreten eine einzige Herausforderung. Sie kleidete sich wie eine Fiannah und verhöhnte dadurch alles, wofür sie standen. Dieses verfluchte Miststück hatte nicht einmal genug Ehre im Leib, sich ihr von Angesicht zu Angesicht zu zeigen und verbarg sich unter einer Kapuze. Was sollte dieses verdammte Versteckspiel? Rioghain kannte das Gesicht der Hexe, dieses feengleiche Antlitz, das über ihre Schlechtigkeit hinwegtäuschte, wer keine Augen hatte, zu sehen.
»Ich habe ihr nichts verraten.«
Die eilfertige Versicherung ihres Leathéan legte sich wie eine eisige Faust um ihr Herz und zerquetschte es. Ihr Verstand mochte Rioghain versichern, dass er es zu ihrem Schutz tat, dass Thurisaz ihn zum Gehorsam zwang, doch da war auch der leise Zweifel, es würde mehr als ein Vertrag zwischen den beiden existieren. Cailleach musste in seinem Denken sein und seinem Fühlen. Er musste empfänglich für sie sein, für ihre Magie – keine leichte Aufgabe für die Hexe, wenn sich das Objekt ihrer Begierde gegen sie wehrte. Cailleach war in der Vergangenheit nicht untätig gegen die ihr verhasste Brut Asarlaírs geblieben, doch stets war sie gescheitert. Wenn nicht an einzelnen Fiannah, dann an ihrer Gesamtheit oder an den beiden mächtigen magischen Schwertern unter ihnen, Líadain und Éadaoin.
Beim Gedanken an Éadaoin, wanderte Rioghains Blick an Cailleach vorbei zur gegenüberliegenden Wand. Unbeeindruckt vom Auftauchen der Hexe, lehnte dort der Fremde, als existierte sie nicht für ihn. Wie er im umgekehrten Fall nicht für Cailleach existierte. Sie zeigte keine erkennbare Reaktion, als er sich von der Wand abstieß und auf Rioghain zukam. Er schritt durch die Schwarze Hexe hindurch, wie durch einen Gelicht, nur war er das Gelicht – weniger – er war ein Trugbild. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich bei Teàrlach, doch im Gegensatz zu Cailleach versteifte sich sein Körper. Spürte er den Fremden?
Teàrlach blickte über die Schulter und war für einen Moment nicht mehr der lebende Schild zwischen Rioghain und der Hexe. Er sah nicht sie an, er blickte zu dem Fremden, der neben ihr auf sein Knie gesunken war, ihren Arm tröstend berührte und sich schützend an ihre Seite gesellte. Beinahe erwartete sie, Teàrlach würde sich auf den Fremden stürzen und ihn von ihr fortstoßen, doch mehr als ein unmerkliches Nicken kam nicht von ihm. Selbst das konnte sie sich eingebildet haben, wie den Fremden, der ihre Hand in seine nahm. Rioghain fühlte etwas Metallisches – das Amulett lag in ihrer Handfläche. Wann hatte sie es aufgehoben? Hatte er es ihr gegeben? Sie wandte sich dem Fremden zu. Seine Fingerspitzen strichen über ihre Wange und sie spürte die Berührung, wie zuvor Teàrlachs. Seine Lippen an ihrem Ohr.
»Filleadh gho má«, flüsterte er.
Zu ihm zurückkehren sollte sie? Wohin? Wer war er? Wie sollte sie zu einem Mann zurückkehren, dem sie nie zuvor begegnet war? Warum sollte sie das wollen? Sie hatte Teàrlach an ihrer Seite und nur er durfte diese Worte ihr gegenüber in den Mund nehmen. Er hatte sie anlässlich ihrer Verbindungszeremonie gesprochen, als sie sich symbolisch von ihm abgewandt hatte, um ihren freien Willen zu demonstrieren – die Möglichkeit, den Gefährten, den Asarlaír für sie geschaffen hatte, ablehnen zu dürfen. Sie war zu ihm zurückgekehrt und hatte ihm gezeigt, dass sie ihn aus freien Stücken wählte und nicht, weil ihr Vater es wünschte. Rioghain hatte ihre Entscheidung getroffen und sie würde sie nicht ändern – nicht für einen Fremden. Teàrlachs Schwäche würde ihm nicht zum Nachteil gereichen. Sie selbst besaß viele Unzulänglichkeiten und er gab ihr die Freiheit, sie zu zeigen. Sie durfte in seinen Armen schwach sein und eine Seite von sich offenbaren, von der ihre Familie nichts ahnte. Sie war die Erste, sie war die Starke und sie hatte sich ihres einzigen Fluchtortes beraubt: in Teàrlachs Armen. Durch Dinge, die sie gesagt und getan hatte, ohne sich bewusst zu gewesen sein, wie sehr sie ihren Gefährten verletzte. Sie flüchtete jetzt nicht in die Arme eines anderen, weil es einfacher war, sie würde kämpfen. Teàrlach und sie fanden einen Weg, es würde nicht so enden.
»Gehen wir, Teàrlach. Die Nekromantin zeigt sich widerspenstig.«
Teàrlachs Schultern spannten sich bei diesen Worten an. Unter Rioghain öffnete sich ein Strudel, der sie zu verschlingen drohte, wäre da nicht der Fremde gewesen, der sie festhielt.
»Was hat das zu bedeuten? Was ist mit Agronah?«
Sie musste sich anlasten, keinen Gedanken an ihre jüngere Schwester verschwendet zu haben. Sie war entkommen, sie gehorchte ihrem Befehl, in die Burg zurückzukehren, um Hilfe zu holen. Rioghain hatte sich in ihrer Vermutung bestätigt gesehen, da Agronah die Zelle nicht mit ihr teilte.
»Was immer du dir davon versprichst, diesen Weg zu beschreiten, statt einen besseren – einen gemeinsamen – mit mir zu wählen, ich vermag dir alles zu verzeihen, Teàrlach, solange es nur zwischen uns beiden geschieht.«
Rioghain hatte ihm so vieles verziehen: seine Zurückweisung, seine Huren. Niemand hatte verstanden, weshalb sie sich ihm gegenüber so nachgiebig zeigte und ihren Stolz in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins verbannte. Niemand hatte ihr je offen vorgeworfen, schwach zu sein, doch alle dachten es.
»Wo ist Agronah? Was haben sie ihr angetan?« Sie stemmte sich gegen die Ketten, ignorierte das blaue Knistern. »Sieh’ mich an, Teàrlach! Sie ist noch ein Kind, verdammt noch mal
Teàrlachs Miene blieb ausdruckslos. Sie erkannte in dieser versteinerten Maske nicht länger den Mann, den sie liebte. Aber sie sah ihn im sanften Grün seiner Augen, dort existierte er noch und dort wollte er ihr etwas mitteilen Er wollte vielleicht nur den vollen Umfang seines Verrats offenbaren, aber selbst das nahm Rioghain in Kauf, wenn er nur nicht mehr so dastehen würde.
»Zügle dein Temperament, Nóisehan
Die Beleidigung prallte an ihr ab, sollte Cailleach sie doch Missgeburt heißen. Von Teàrlach wollte sie hören, dass Agronah kein Haar gekrümmt worden war und dass sie ihre Schwester nicht in Sicherheit gewähnt hatte, während sie ihr Undenkbares antaten. Die Kämpfe, die Agronah in der Vergangenheit durchgestanden hatte, waren an einer Hand abzuzählen. Nie war sie in Gefangenschaft geraten und hatte am eigenen Leib gespürt, was ihre Feinde mit einer Fiannah anstellten, sollte sie so unvorsichtig sein, sich gefangen nehmen zu lassen. Der Hinterhalt, in den sie getappt waren, war die erste ernsthafte Gefahr, der ihre jüngere Schwester sich gegenübergesehen hatte, gleichsam auf sich allein gestellt, da Rioghain nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte war. Deshalb hatte sie Agronah fortgeschickt, sobald ihre Niederlage greifbar geworden war. Ihre Schwester sollte ihr Pferd nehmen, da ihr eigenes davongeprescht war. Rioghain wusste mit Bestimmtheit, dass Agronah ihren Rappen bestiegen hatte und davongeritten war, doch dann ... war etwas geschehen, das Agronah hatte zögern lassen: ein Axthieb trennte beinahe Rioghains Arm an der Schulter ab. Sie erinnerte sich nicht an den Schmerz, aber an Agronahs Schrei, als sie inmitten ihrer Feinde zu Boden gegangen war. Sie hatte das wütende Schnauben ihres Rappen gehört, als die junge Kriegerin ihn im vollen Galopp herumriss.
»Sie hat ihr Leben riskiert, um mich zu retten.«
Sie sprach mit gesenkter Stimme. Für sie war allein Teàrlachs Reaktion auf ihre Worte von Bedeutung. Die Hexe kannte sicher jede Einzelheit aus dem Munde ihrer Lakaien. Dinge, die sie Teàrlach vorenthalten hatte, weil er nicht so ruchlos war, Agronahs Verderben billigend in Kauf zu nehmen.
»Sie ist ein unerfahrenes Kind, aber sie ist zurückgekehrt.«
Rioghain fasste sich an ihre Schulter und stieß scharf die Luft aus. Ihre Finger ertasteten eine wulstige Narbe unterhalb ihres zerfetzten Lederwams’. Eine ungewohnte Erfahrung, niemals war ihre Heilung derart unvollkommen verlaufen, niemals verspürte sie Stunden, wahrscheinlich Tage nach der Verwundung Schmerzen. Mit ihnen kam die Erinnerung …
Agronah hatte sich zu ihr vorgekämpft und ihre Feinde auf Abstand gehalten, bis Rioghain auf die Beine gekommen war. Sie hatten eine Weile Rücken an Rücken gefochten, dann hatte der starke Blutverlust und Teàrlachs lange währende Verweigerung ihren Tribut gefordert. Rioghain war nicht mehr fähig gewesen, ihr Schwert zu heben, um den Stich abzuwehren, der ihren Leib durchbohrt hatte. Ihre Hand wanderte unwillkürlich zu dem blutverkrusteten Loch in ihrem Lederwams und der empfindlichen Narbe auf ihrem Bauch. Sie erinnerte sich, wie sie gegen Agronah gesunken war, ihre Schwester sie gestützt und mit einer Hand weiter ihre Feinde bekämpft hatte. Zur gleichen Zeit hatte sie eine Beschwörung angestimmt.
»Sie hat die Toten gerufen.«
Ihr eigener Unglauben begegnete Teàrlachs Versteinerung. Allein die Schweißperlen auf seiner Stirn, verrieten ihr, dass Leben in ihm steckte und ihre Worte ihn erreichten.
»Sie hat es nie zuvor getan. Sie verhaspelte sich, weil sie voller Angst war. Sie begann von Neuem, bis ...«
Sie rief sich die Bilder in Erinnerung, die aus Gründen, die sich ihr entzogen, tief in ihrem Bewusstsein vergaben gelegen hatten. Aus unbekannten Gründen oder weil das Druiden-Gift ihren Verstand auffraß.
»Bis ein Pfeil ihr Herz durchstoßen hat.« Sie fühlte den Schmerz, als würde ihr dasselbe in diesem Moment widerfahren.
»Der Bastard schoss ihr in den Rücken und stand dabei so dicht hinter ihr, dass der Pfeil ihr Herz durchbohrte, ehe sich die Spitze ihren Weg aus ihrer Brust heraus bahnte.«
Ein Schweißtropfen rann über Teàrlachs Schläfe, seine Wange und den Hals hinab. Die Muskeln seines Kiefers arbeiteten hart.
»Sprich zu mir! Sag’ mir, dass sie lebt!«
Rioghains Ketten knirschten. Nicht mehr lange und sie riss sie aus den Halterungen am Boden, wäre frei, um aus ihrem Gefährten herauszuprügeln, dass Agronah wohlauf war. Dass er seinen Verrat aus Liebe nicht auf die junge Fiannah ausgeweitet hatte, auf das Legat, auf ihre … seine Familie. Die Erkenntnis ließ sie noch energischer an ihren Ketten zerren. War er im Stande, die Unzufriedenheit seiner Brüder für sich auszunutzen? Männer wie Cathaòir, der nicht so glücklich mit Thadgan zu sein schien, wie er es sollte.
»Versprich mir, unser Heim nicht mit Verrätern zu füllen.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. Er durfte ihnen nicht diesen einen Ort nehmen, an dem sie in Frieden lebten.
»Verflucht, Teàrlach!«, schrie sie.
Rioghain warf sich in ihre Ketten, sie rissen mit einem schrecklichen Kreischen. Der Schwung und die unerwartete Freiheit brachten sie ins Straucheln und sie wäre gegen Teàrlach geprallt, wäre der nicht ausgewichen. Vielmehr schien ihn jemand zur Seite zu reißen. Der Fremde? Nein. Er zeichnete nicht dafür verantwortlich, dass ihr Leathéan ihren Sturz nicht abzumildern versucht hatte oder sich dem zu stellen, was sie für ihn im Sinn hatte. Sie schaffte es, ihre Hände nach vorn zu bringen, um nicht mit dem Gesicht auf den rauen Steinen aufzuschlagen und dem Blut auf ihnen noch mehr hinzuzufügen. Eine kleine Menge strichen sie doch ein, als ihre Handflächen über die Steine schrammten.
»So gefällt mir das: die Königin der Toten zu meinen Füßen, kriechend auf allen vieren, wie ein Tier.«
Rioghain war gleichgültig, was der Hexe gefiel. Sie blickte zu Teàrlach auf und der Gleichgültigkeit in seinem Gesicht, dem Dolch an seinem Gürtel. Das Druiden-Gift des Halsrings mochte verhindern, ihn mit Krallen und Fängen ein Versprechen abzuringen, aber sie würde eine verfluchte Reaktion aus dieser Teilnahmslosigkeit herausschneiden. Fauchend schnellte sie auf die Füße, warf sich auf ihn und riss den Dolch aus der Scheide. Teàrlach wurde zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit überrascht. Was war los mit ihm? Sie hockte sich auf seine Brust und hielt ihm die Klinge an die Kehle.
»Du wirst für Agronahs Unversehrtheit Sorge tragen. Du wirst meine Schwestern raushalten«, zischte sie.
Ihre Hand zitterte. Sie wollte Teàrlach nicht verletzen, aber sie trug Verantwortung, sie war die Erste. Hieß das, sich das Herz herauszuschneiden und ihren Gefährten wie ihren Feind zu behandeln, würde sie dieses Opfer bringen. Sie musste aufhören, ihm wieder und wieder zu vergeben.
»Verdammt!«
Sie schlug ihm ins Gesicht. Einmal. Zweimal. Sein Kopf wurde zu einer Seite geschleudert, dann zur anderen. Hinter ihrem Rücken hörte sie das Lachen der Hexe.
»Willst du wirklich, dass sie dir auch künftig Befehle erteilt, Teàrlach? Ich wäre bereit, unsere Abmachung zu ändern ...«
»Verschwinde!«, brüllte Teàrlach. Endlich zu mehr bereit als Rioghain nur anzustarren. Der Befehl galt nicht ihr und der hasserfüllte Blick an ihr vorbei, war allein für Cailleach bestimmt.
Wieder ertönte das Lachen.
»Nicht ...« Doch Teàrlachs Warnung kam zu spät und seine Hand griff ins Leere.
»Verfluchtes Weibsstück
Fauchend stieß Rioghain sich von dem am Boden Liegenden ab und stürzte sich auf Cailleach. Ungeachtet ihrer Aufmachung, die Hexe war keine Kämpferin, sie hatte ihre Lakaien dafür, aber die schwarzhäutigen Dämonen behinderten sich gegenseitig im schmalen Türstock. So war es Rioghain trotz des Druiden-Gift möglich, sie gegen die Wand in ihrem Rücken zu werfen, den Unterarm in ihre Kehle zu drücken und ...
Der Dolch verharrte in der Bewegung. In den Leib der verdorbenen Hexe wollte sie ihn rammen, bis zum Heft, die Klinge drehen und hinauf zu ihrem Herzen ziehen, bis Cailleach vor Pein schrie und sie anbettelte, sie zu verschonen. Aber der Anblick, der sich ihr durch das Verrutschen der Kapuze des Umhangs der Hexe bot, ließ sie zögern. Eins, zwei Herzschläge lang, vielleicht mehr, um das gesamte Ausmaß der Verwüstung zu erfassen.
Cailleachs trügerische Schönheit schien wie noch ihrem Gesicht geschmolzen. Flüssiger Lava gleich war sie die Erhebungen und Senken ihrer Züge hinabgelaufen. An manchen Stellen blitzte Knochen hervor, nicht weiß, sondern schwarz wie der verbliebene Rest ihrer erstarrten ledrigen Gesichtshaut, als hätte sie lange in einem Moor gelegen. Die türkisen Augen der Hexe, die Spiegel ihrer inneren Kälte, waren ebenfalls von der Verfärbung betroffen und allein dadurch in den Verwüstungen auszumachen, dass sie das Licht der Fackel in der Hand eines ihrer Lakaien einfingen. Sie sogen das Leuchten förmlich in sich auf, als klammerte sich etwas in ihr an das Licht. Ein letzter Funken Hoffnung, nach dem es möglicherweise selbst die verdorrte Seele Cailleachs verlangte.
»Stich zu und beende auch das Leben deines Leathéan
Der zerklüftete Mund verzog sich zu der absurden Nachahmung eines Lächelns und gab schwarze Zähne frei. Ihr Blick wanderte an Rioghain vorbei. Die Dolchspitze weiter auf den Leib der Hexe gerichtet, sah Rioghain über ihre Schulter. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, um dann umso heftiger gegen ihre Rippen zu schlagen. Nichts versetzte es derartig in Aufregung, nicht einmal der Anblick der verrottenden Züge der Hexe, allein Teàrlach auf den Knien zu sehen, genügte. Den Kopf an den Haaren weit in den Nacken gezogen, dass seine ungeschützte Kehle ein leichtes Ziel für das Schwert des Lakaien bot. Sie hatte sich bereits gefragt, warum Cailleachs Gehilfen sie nicht von ihrer Herrin wegrissen, ihr Zögern gab ihnen ausreichend Zeit. Nun erhielt sie die Antwort. Während der eine Teàrlach auf den Knien hielt, würde ihm der andere den Kopf von den Schultern trennen.
»Hat er dich nicht verraten? Verdient er es nicht mit seiner Verbündeten zu sterben?«, wisperte Cailleach heiser.
»Nein.« Rioghain nahm ihren Arm herunter, nahm den Druck von ihrer Kehle und trat einen Schritt zurück. Der Dolch entglitt ihren kraftlosen Fingern und sie gab sich keine Mühe, seinen Fall zu verhindern. Die Klinge klirrte auf dem felsigen Boden.
»Du verschonst diesen Fealltóir
Cailleach zog ihre Kapuze zurecht und verbarg vor aller Augen, was selbst ihre ergebenen Speichellecker entsetzte. Rioghain hatte es in ihrem Blick gesehen, wie auch die Hexe, die es vorzog, sich zu verhüllen. Sie war ein eitles Weib. Wie sehr andere sie für ihr Tun hassten oder fürchteten, war ihr gleichgültig, wenn es sie überhaupt berührte, trug es wohl allein zu ihrem Amüsement bei. Unverhohlene Abscheu wegen ihres Aussehens traf sie ins verkommene Mark, das verriet sich durch die Hast, mit der sie die Kapuze an ihren Platz zerrte.
»Er wandte sich an mich, um ...«
»Ich will seine Motive nicht aus deinem Mund hören.«
Rioghain hielt dem unter der Kapuze auf sie gerichteten Blick stand, den sie mehr spürte als sah. Die Hexe würde keinen Zweifel in ihrem Gesicht erkennen. Sie nagten an ihr, aber sie waren nicht für Cailleachs schwarze Augen bestimmt.
»Ich kann ihn dazu bringen, sie selbst darzulegen.«
Rioghain roch das Blut ihres Leathéan, lediglich eine Spur. Sie drehte sich langsam zu Teàrlach um. Eine dünne rote Linie zog sich über die Kehle ihres Gefährten. Der Lakai hatte mit der Klinge seines Schwerts die Haut nur leicht angeritzt.
»Befiehl deinen Speichelleckern, ihre Hände von ihm zu nehmen.« Ihre Stimme war tonlos, so frei von Emotionen, wie sie es eben noch bewerkstelligen konnte.
»Du willst ihn selbst bestrafen, ich verstehe.«
Rioghain nahm die Bewegung, mit der sie ihren Lakaien befahl, sich zurückzuziehen, nur am Rande wahr, aber sie sah den Dolch aus dem Augenwinkel, den Cailleach vom Boden hob und ihr anbot.
»Verschwindet! Lasst uns allein!« Sie sagte das auch zu dem dunkelhaarigen Fremden, der hinter Teàrlach aufragte. Wollte er ihren Gefährten bestraft sehen? Wie sie selbst, wenn sie tief in sich hineinhorchte? Seine Miene verriet nichts, er schien nur auf sie konzentriert, als wäre sie der Mittelpunkt seiner Welt – wo diese auch sein mochte.
Rioghain nahm den Dolch, ohne sich zu der Hexe umzudrehen. Sie behielt die dämonischen Lakaien im Auge, die links und rechts an ihr vorbeigingen, um sich zu ihrer Herrin zu gesellen. Sie standen jetzt alle drei hinter ihr, als wäre sie ihre Nêrah und nicht die Insassin des Kerkerlochs. Sie erblickten nicht, was ihre Augen sahen, warteten aber möglicherweise auf dasselbe, wie der Unbekannte: dass sie ihren verräterischen Leathéan bestrafte. Erwartete auch Teàrlach das von ihr?
Wie er so auf den Knien blieb, den Kopf gesenkt, das Gesicht verborgen hinter den kastanienbraunen Strähnen seines Haares und die Arme an seiner Seite. Handflächen nach außen gedreht – zum Zeichen seiner Unterwerfung. Thurisaz auf seinen Handgelenken wölbte sich stärker hervor. Die Brandwunden waren feuerrot, sie pulsierten, als würde ein eigenständiges Herz in ihnen schlagen. Nun verstand sie seine Gleichgültigkeit, die Hexe befahl es ihm über Thurisaz. Steckte sie ebenfalls hinter seiner Unterwerfung? Oder erwartete er ein Gottesurteil von ihr? Sie war nicht seine Göttin, sie wollte nicht einmal seine Königin sein, nicht mehr und nicht weniger als seine Gefährtin wollte sein. Sah er sie nicht an, um ihr die Entscheidung zu erleichtern?
Sie suchte den Blick des Mannes, der ihren nicht mied. Der ihren Kerker so wenig verlassen wollte, wie die Hexe und ihre Lakaien.
»Geht!«, fuhr sie die drei in ihrem Rücken an. »Das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Du hast gewonnen Hexe, verschwinde und genieße deinen Triumph.«
Solange er währt.
Zu ihrer eigenen Überraschung zog Cailleach sich zurück. Keine Häme kam über die zerstörten Lippen, wahrscheinlich erachtete sie Teàrlach und Rioghain keines weiteren Wortes wert. Als sie sich zu ihrem Gefährten umdrehte, war der auf seine Fersen zurückgesunken, aber immer noch präsentierte er ihr seine leeren Handflächen und Thurisaz auf seinen Handgelenken.
Sollte sie das richtige tun oder sollte sie ihrem Herzen folgen? Stets hatte sie sich für Letzteres entschieden, für Teàrlach. Das trug ihr das Unverständnis ihrer Familie ein. Deren Mitleid.
Hilf mir.‹ Sie sah über Teàrlachs gesenkten Kopf zu dem Fremden, sprach in ihren Gedanken zu ihm, scherte sich nicht darum, dass Teàrlach sie womöglich ebenfalls über die Bhannah hörte. ›Sag’ du mir, was ich tun soll. Ich kann es nicht entscheiden. Ich will es nicht.
Er antwortete nicht, stattdessen kam er zu ihr, schritt durch Teàrlach hindurch. Der erschauderte, aber er hob nicht den Kopf. Der Fremde überragte Rioghain um mehr als Haupteslänge, ein Vorteil, der seine fehlende Bewaffnung ausglich, sollte er ihr in Schnelligkeit und Kraft nicht nachstehen, sollte er nur ein Mensch sein. Aber er war nicht auf ein Kräftemessen aus und ein Mensch war er ebenfalls nicht, wenn ihm möglich war, die Grenzen eines Trugbilds zu überschreiten und ihr Gesicht zu umfangen. Sie verwehrte ihm nicht, sich ihre Züge einzuprägen, wie sie die seinen, um an einer Erinnerung zu rütteln, die für die Gaukelei ihres Verstandes verantwortlich zeichnete. Wann hatte er ihren Weg gekreuzt? Wie musste ihre Begegnung verlaufen sein, dass er in ihrem Gedächtnis verblieben war? Sein Lächeln löste etwas in ihr aus, er war ihr vertraut, aber nicht wie eine Erinnerung. Ohne Zögern schloss sie die Augen, als er den Kopf neigte und seine Stirn gegen ihre lehnte. Sie spannte sich nicht an, sobald seine Hände über ihre Schultern strichen und ihre Arme hinabwanderten. Ihre Finger schlossen sich nicht fester um den Dolchgriff, so dass es ein Kinderspiel für ihn war, ihr die Klinge zu entwinden, die klappernd auf den feuchten Stein zu ihren Füßen fiel. Er fand eine andere Beschäftigung für ihre Hände, legte sie auf seine Brust, auf dass sie seinen Herzschlag spürte, das Heben und Senken seiner Atemzüge, die er als Trugbild nicht nehmen sollte.
»Ich kann dir diese Entscheidung nicht abnehmen.«
Er sprach nicht allein innerhalb ihres Kopfes, aber so leise, um die Illusion zu erwecken, dass Teàrlach ihn nicht hörte. Rioghain sah an dem Fremden vorbei. Die Haltung ihres Leathéan war unverändert geblieben, wie erstarrt in Erwartung ihres Urteils. Alles um sie herum schien wie eingefroren in der Zeit, nur der Unbekannte und sie bewegten sich in einer Blase.
»Du hast einen Eid geleistet, die Schwachen zu schützen«, fuhr der Fremde fort, sobald er sich ihrer Aufmerksamkeit gewiss war.
»Teàrlach ist schwach, obwohl er stark für dich sein wollte. Er glaubt selbst in diesem Augenblick, dass er sein Wort dir gegenüber hält. Er wäre bereit, dafür den Tod zu empfangen, aus deiner Hand. Aber das wird er nicht, du bist nicht rachsüchtig und nicht von abgrundtiefer Boshaftigkeit.« Er schwieg, als wollte er ein noch nicht, das in seinen Worten mitschwang, nicht laut aussprechen.
»Tief in deinem Innern weißt du, dass er es aus Liebe getan hat. Tötest du ihn, bestrafst du ihn für seine Liebe zu dir. Nichts ändert den Lauf der Geschichte: er wird nicht durch deine Hand sterben und du nicht durch die seine. Teàrlach wird seinen Fehler einsehen, aber dann wird es zu spät sein. Es ist so bestimmt. Wir sind füreinander bestimmt.« Er versiegelte ihre Lippen mit einem Finger und erstickte ihren Widerspruch, sie könnte nicht zwei Männer lieben. Sie schob seine Hand beiseite.
»Bist du derjenige, den Aislinghs Traum angekündigt hat?«
Statt einer Antwort zauberte er das Amulett aus dem Nichts. Der Bernstein sprühte dieselben goldenen Funken wie im Braun seiner Augen. Er teilte eine Strähne ihres Haares ab und flicht das Amulett hinein.
»Ich werde auf dich warten am Ende der Zeit.« Seine Erscheinung wurde blasser und löste sich schließlich wie eine Nebelschwade auf.
»Warte. Sag’ mir, was geschehen wird. Werde ich dich am Ende der Zeit erkennen? Wie kann ich frei für dich sein, da ich an Teàrlach gebunden bin? Wie kann ich dich lieben?« Er war fort und ihr blieb nur das Amulett als Beweis seiner Existenz oder die Tatsache, dass ihr Verstand über Teàrlachs Verrat zersplittert war.
Rioghain hob den Dolch zu ihren Füßen auf und überwand die Distanz zu ihrem am Boden zusammengesackten Gefährten, dessen Schultern sich in Erwartung ihres Urteils straften. Er sah seinem Tod wie ein Krieger entgegen, würde die Hand nicht abwehrend erheben, wenn sie seinen Kopf an den Haaren zurückriss, um seine Kehle bis zum Knochen aufzuschlitzen und anschließend das verräterische Herz aus seiner Brust zu schneiden. Es war seine Entscheidung und kein Zwang, dem ihm Thurisaz auferlegte – die Brandwunden an seinen Handgelenken waren wieder nur das: Brandwunden. Sie sank auf die Knie, setzte sich auf ihre Fersen und drehte den Dolch in ihrer Hand so, dass die Klinge auf ihren Leib zeigte. Teàrlach hob den Blick, Verwirrung und Kummer lag in seinen Augen.
»Nimm ihn.«
Teàrlach Hand zitterte, als er den Dolch entgegennahm und in die Scheide an seinem Gürtel steckte.
»Versprich mir eines, Leathéan
»Alles. Ich werde alles wiedergutmachen. Ich werde ...« Sie verschloss seine Lippen mit ihren Fingerspitzen.
»Das Schicksal wird seinen Lauf nehmen und sich für oder gegen uns entscheiden.« Ihr Blick huschte über Teàrlachs Schulter, doch der Fremde war nicht da. War er wahrscheinlich niemals. »Erfülle mir diese Bitte: kümmere dich um Agronah. Sorge für ihre Sicherheit.«
Er befreite sich sanft von dem Siegel seiner Lippen.
»Ich wusste nichts von Agronah, das musst du mir glauben.«
Sie zweifelte daran so wenig, wie am Motiv für sein Handeln: Liebe. Ihr Argwohn galt nur dem Weg, den er eingeschlagen hatte. Sich ausgerechnet die Schwarze Hexe als seine Verbündete auszusuchen, passte nicht zu dem Mann, den ihre harsche Zurückweisung bei ihrer ersten Begegnung nur ermuntert hatte, sich noch unverzagter um sie zu bemühen, statt sich eine willigere Braut zu suchen. Dieser Mann hätte früher oder später das offene Wort gesucht und sich gemeinsam mit ihr ihren Problemen gestellt. Vielleicht hatte er es bereits versucht und war an ihrer Furcht vor der unvermeidlichen Auseinandersetzung gescheitert, vor einem Bruch, den sie unmöglich überwinden konnten. Rioghain hatte sich hinter ihrer Geduld verschanzt und Teàrlach in Cailleachs Intrigennetz getrieben, jetzt blieb ihr nur, ihm den Dolch auszuhändigen, sich aus den engen Maschen zu befreien – und Agronah.
»Ich habe nicht geahnt, dass Cailleach einen Hinterhalt plante. Unsere Abmachung belief sich auf ...« Schmerzfalten bildeten sich um seine Augen. Rioghain blickte auf Thurisaz. Brennend rot und pulsierend.
»Sch-sch«, gebot sie ihm Einhalt. »Wichtig ist, dass Agronah freikommt. Jetzt gleich. Sie befindet sich ganz in der Nähe.« Mit Teàrlach in ihrer Nähe schien die Druiden-Magie an Macht zu verlieren und sie war wieder in der Lage, ihre Schwester zu spüren.
Alle Fiannah teilten eine Verbindung, sie war nicht so stark wie die Bhannah unter Gefährten und selten zielgerichtet, aber mit ein wenig Anstrengung wurde die Verbindung stärker. Seit die Erinnerungen an den Hinterhalt zurückgekehrt waren, wurde aus einem unbestimmten Gefühl zunehmend Gewissheit.
»Cailleach wird dich an nichts hindern, das nicht in Zusammenhang mit mir steht.«
Sie hatte ihm durch Thurisaz verboten, den Inhalt ihrer Vereinbarung offenzulegen, aber Agronah war nur eine Randfigur. Eine unerfahrene Nekromantin, die mehr der Entlohnung und dem Vergnügen ihrer Lakaien und weniger ihren Plänen diente. Für Rioghain war ihre Schwester kein unbedeutendes Bauernopfer – nicht mehr – Agronah hatte sich ihr als tapfere Fiannah und liebende Schwester erwiesen.
Sie rief die Toten um meinetwillen.
Der Gedanke war immer noch unfassbar. Asarlaír war mit Agronahs Unterweisung ins Hintertreffen geraten und er hatte sie eindringlich gewarnt, ihre Féirín einzusetzen, ehe er ihr nicht alle Fallstricke aufzeigte. Rioghain hätte an seiner Statt die Unterweisungen übernehmen können, vielleicht war das der Wunsch ihres Vaters gewesen, um seine Töchter einander näherzubringen. Doch sie hatte sich zu sehr in ihrem Stolz verletzt und um ihre Zukunft betrogen gefühlt. Es war zu spät für Bedauern, aber nicht zu spät, Agronah ihren Mut, ihre Tapferkeit, Treue und Liebe zu vergelten.
»Geh’, Teàrlach!«
Sie umfing sein Gesicht, küsste ihn und lehnte ihre Stirn gegen seine. Sie wollte ihm ein letztes Mal nah sein und vergessen, wo sie sich befanden, was er getan und sie dazu beigetragen hatte. Das Angesicht des Fremden blitzte hinter ihren geschlossenen Lidern auf, erinnerte sie, wie trügerisch dieser Moment war. Sie schuldete Teàrlach mehr als diese Illusion, sie schuldete ihm die Möglichkeit, seinen Verrat wiedergutzumachen.
»Agronah darf nicht für unsere Fehler büßen.«
»Das wird sie nicht. Auch du wirst nicht für meine Fehler büßen. Ich ...«
»Geh’ jetzt«, bat sie ihn, erhob sich und verweigerte ihm nicht, ihre Handgelenke zu küssen. Auch einen innigen Kuss auf ihren Mund gestattete sie ihm und eine letzte Umarmung zum Abschied. Sie sah ihm nicht nach, hoffte nicht, dass er in der Pforte stehen blieb und sich ein letztes Mal zu ihr umdrehte.

Teàrlach - Das Legat der FiannahWhere stories live. Discover now