Die Gemeinschaft der Nachtalb...

By Sandra_Caterina

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~ Spoiler-Warnung: Das ist der zweite Teil einer Buchreihe ~ Erys Marblod ist zurück in der Gemeinschaft. Vo... More

Das große Lexikon der Alben II: Alfheim, der Ursprung
Prolog - Die Heimkehr
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15

Kapitel 3

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By Sandra_Caterina

„Großartig, die Antagonisten meiner Geschichte", murmelte ich und fing noch im selben Moment den tadelnden Blick meines Großvaters auf. Seine Augen waren beinahe so scharf wie sein raspelkurz geschnittenes Haar.

„Hüte besser deine Zunge vor ihnen, Epherys. Du hast ihrer Familie geschadet und das werden sie dir niemals vergessen. Dir sollte viel daran liegen, es wieder gutzumachen."

Und mit diesen Worten stolzierte er in Richtung der Grimlores los, die sich gerade etwas zu trinken besorgten. Ich folgte ihm widerwillig an den langen Tisch mit Champagner auf Silbertabletts, wo die Matriarchin der Familie in weinrotem Samt auf uns wartete.

Caellis Blick wurde eiskalt, als er auf mir zu liegen kam, aber sie verschwendete ihre Energie damit. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde nämlich von dem jungen Mann neben ihr vereinnahmt.

Überrascht starrte ich in ein Paar freundlich blinzelnde, haselnussbraune Augen. „Ian?"

Verlegen zupfte der Werwolf an seinem dunkelblauen Revers herum, obwohl es bereits perfekt saß. Ein Maßanzug. Der wurde nicht über Nacht gefertigt.

Wie lange war Ian bereits in der Gemeinschaft?

„Ich wusste, wir würden uns früher oder später treffen, Erys. Lange nicht gesehen."

„Lange nicht ... was zum Teufel tust du in –", setzte ich an, doch das Räuspern meines Großvaters ließ mich augenblicklich verstummen.

Ich wusste, ich sollte mich von meiner besten Seite zeigen, um die Grimlores gnädig zu stimmen. Statt Ian hier und jetzt darüber auszuquetschen, was er in der Gemeinschaft suchte, verschob ich meine Fragen deshalb auf später.

„Ich meine, es ist schön dich zu sehen. Wie geht's dir?"

„Ganz gut", erwiderte Ian vage.

Für einen kurzen Moment ließ ich den Gedanken zu, dass Caellis ihn gegen seinen Willen festhalten könnte. Doch welchen Grund sollte sie dafür haben? Ian war trotz seiner Abstammung mütterlicherseits weder ein Sukkubus noch ein Inkubus. Streng genommen gehörte er überhaupt nicht zu den Nachtalben und war somit entbehrlich für den Kreis.

Das erklärte natürlich nicht, weshalb er freiwillig hier sein sollte.

„Gratulation zu deiner Aufnahme, Epherys", sagte Caellis, als Stille zwischen ihrem Sohn und mir eintrat. „Deine Familie ist mit Sicherheit erleichtert, dich endlich im Kreis zu wissen."

Mir entging der spitze Unterton nicht, mit dem sie die Worte erleichtert und endlich betonte, aber er brachte mich nicht aus der Ruhe.

„Danke, Caellis. Ich hoffe, dass ich die Erwartungen übertreffen kann." Wenn auch nicht eure.

„Gut. Man erwartet immer Großes von den Marblods."

Der junge Werwolf an ihrer Seite warf einen Blick über die Schulter und fror ein. „Mutter, sie –"

„Nicht jetzt, Ian."

„Aber sie kommt zu–", begann er, bis sich seine Stimmlage abrupt änderte. Sie lag mindestens eine brüchige Oktave höher, als er fortfuhr. „Oh, hey. Hast du bekommen, was du wolltest?"

Ian machte dabei einen Schritt zur Seite, um Platz für eine Fremde zu machen; zumindest dachte ich das, bis ich mit Grauen erkannte, wen ich vor mir hatte.

Auf den ersten Blick wirkte die Mittzwanzigerin, die eben mit einer randvollen Sektflöte zu ihrer Familie zurückgekehrt war, harmlos. Das himmelblaue Satinkleid, das locker um ihren Körper drapiert war, und die weichen Locken, in denen sie ihr blondes Haar trug, ließen sie engelsgleich strahlen. Doch ich wusste, was unter den Perlen und adretten Kleidern steckte.

Ich fühlte meinen Mund trocken werden, als sich Valencia Grimlores dunkelblaue Augen in meine bohrten und das Lächeln auf ihrem Gesicht verblasste.

Wenn Blicke töten könnten.

Nach einem Moment der Überlegung streckte sie mir jedoch ihre perfekt manikürte Hand entgegen.

Mir war nicht minder bewusst, dass die Blicke aller Anwesenden auf uns lagen, also ergriff ich sie steif. Erinnerungen an den Kiesplatz und Valencias Fingernägel, die sich in meinen Oberarm bohrten, schossen durch meinen Kopf. Auch an den Schmerz, der gefolgt hatte – und an meine Besuche im Krankenflügel.

Doch sie blieben Erinnerungen. Valencia schenkte mir ein schmales Lächeln aus Höflichkeit, dann zog sie ihre Hand eilig wieder zurück.

„Was für eine Überraschung ... dich wiederzusehen..." Die Worte waren heraus, bevor ich sie überdacht hatte. Meine eigentliche Frage ging darin unter: Was zum Teufel tust du hier in aller Öffentlichkeit?

„Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen."

In einem Anflug von Trotz – und Unbedachtheit – schob ich die Unterlippe vor und wagte es nachzufragen. „Wie geht es dir in der Gemeinschaft? Hast du hier alles, was du brauchst, um glücklich zu sein?"

Valencia Grimlore sollte nicht inmitten ihrer Freunde und Familie den besten Sekt der Gemeinschaft trinken, sondern in einem modrigen Loch sitzen, bis sie runzlig wie eine Rosine war. Dass es jedoch anders kommen würde, hatte ich bereits zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung gewusst. Die Übergabe an die Gemeinschaft hatte sie immerhin geradewegs in die Arme des Kreises geführt – und der bestand aus den letzten Menschen, die Valencias Verhalten bestrafen wollten.

Falls die Temperatur zwischen uns bisher noch nicht den Tiefpunkt erreicht hatte, dann tat sie es in diesem Moment. Valencias Augen verengten sich zu Schlitzen, als sie durch gepresste Zähne hindurch ein Alles ist bestens herausbrachte, und Zephael beschloss, dass er einschreiten musste. Mit kräftigem Griff schob er mich halb hinter sich und entschuldigte seine unbeholfene Enkelin, die einen langen Tag hinter sich hatte.

Dann steuerten wir auch schon an den Grimlores vorbei in eine stillere Ecke, in der ich – so nahm Zephael vermutlich an – niemanden blamieren könnte.

Ich konnte geradezu hören, wie er mit den Zähnen knirschte, und spürte die altbekannte Wut in mir aufsteigen. Wut darüber, dass er mir nicht meinetwegen den Rücken stärkte, sondern der Blutlinie wegen. Darüber, dass er die psychopathische Tochter der Grimlores mir vorzog. Darüber, dass er den Befehl gegeben hatte, unschuldige Studenten zu töten, um ...

Mein Blick glitt über sein verbissenes Profil. Um was genau zu tun? Selbst nach zwei elendslangen Wochen als Zephaels Handlanger konnte ich nicht im Ansatz erahnen, was er mit diesen Angriffen bewirken hatte wollen. Die Lichtalben auf diese Art und Weise zu provozieren war gefährlich, da die Nachtalben bedeutend in der Unterzahl waren.

Wie viel stände es? Fünfhundert zu Fünfzigtausend? Keine vielversprechende Rechnung, was selbst Zephael in seinem Wahn erkennen müsste.

Nach einem neuen Glas Wein und einer Flut an gezischten Ermahnungen hellte sich das Gesicht meines Großvaters plötzlich auf. Drei Männer hatten den Raum Seite an Seite betreten und steuerten zielstrebig auf eine stille Ecke zu.

Unsere stille Ecke.

Zephael empfing sie mit offenen Armen, während ich mich unsichtbar zu zaubern versuchte. Das Gespräch mit den Grimlores mochte vorbei sein, aber mein Blut wallte bei jedem Gedanken an Valencias luxuriöses Leben von Neuem auf. In dieser Verfassung konnte ich mich nicht zu einer weiteren Runde diplomatischen Smalltalks durchringen.

„Wir haben uns schon Sorgen gemacht, dass ihr gar nicht mehr erscheinen würdet", rief mein Großvater den Neuankömmlingen entgegen, noch bevor sie zum Stehen gekommen waren.

Die Freude in seiner Stimme klang so echt, dass ich darüber meine Wut auf Valencia vergaß. Stattdessen lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Konnten unsere neuen Gäste sogar schlimmer als die Grimlores sein?

Vorsichtig ließ ich den Blick über die schlaksigen Männer vor uns gleiten, als sich das verschwommene Bild von einem ungesund blassen, aschblonden Mann am Gründertisch in meiner Erinnerung manifestierte. Der Fernvale-Gründer von heute Morgen war Teil der Gruppe.

Diese Erkenntnis milderte meine Sorge nicht; ich wusste nichts über die beiden, außer den Gerüchten, die im Umlauf waren. Aufmerksam beobachtete ich daher, wie die drei sich vor Zephael und mir aufbauten.

Der älteste Fernvale, dessen Gesicht mehr Furchen und Falten aufwies als die Rinde des Seelenbaums, lächelte mir nach einem Moment der Begutachtung wohlwollend zu.

„Wie erwachsen du aussiehst, Epherys. Wie eine richtige Dame." Gleich kneift er mir in die Backen und gibt mir einen Zwanziger. „Ich hätte dich kaum wiedererkannt."

Mein leeres Stieren musste verraten haben, dass ich ihn nicht wiedererkannte, denn er fuhr mit einem Hauch von Verlegenheit in der Stimme fort.

„Ich bin Segnim Fernvale, weißt du noch? Das sind meine Söhne Vinthis und Yven." Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er auf seine beiden Begleiter.

Keiner von ihnen hatte ein sonderlich einprägsames Gesicht, doch ihr Äußeres machte seine Vorstellung überflüssig. Sie waren zweifelsfrei Fernvales. Von der milchig-grauen Haut über die farblosen Locken und den trügerisch feinen Knochenbau gab es genügend Hinweise auf ihre ungewöhnliche Abstammung.

Vinthis zögerte nicht, mir forsch die Hand zu drücken. „Wir haben uns heute bereits gesehen, bei der Versammlung. Ich habe inzwischen den Platz meines Vaters übernommen."

Ich nickte ihm als Zeichen dafür zu, dass ich mich erinnerte.

„Und den zweiten Platz beanspruche ich", fügte Yven hinzu, der optisch eine jüngere Kopie seines Bruders war. Ihn erkannte ich aus der Schule der Gemeinschaft wieder. Er musste ungefähr in meinem Alter sein. „Ich hätte mich schon früher vorstellen sollen, aber heute Morgen war ich leider ... verhindert."

Zephael winkte ungewohnt versöhnlich ab. „Es war eine wirklich kurze Zusammenkunft und mehr Formalität als alles andere. Für das wahre Kennenlernen ist der heutige Abend gedacht."

Die Männer tauschten ein ebenso professionelles wie oberflächliches Lächeln aus, das ich nach Kräften zu imitieren versuchte.

„Epherys ist noch grün hinter den Ohren und sie muss sich schnell einleben", sinnierte Zephael in die eintretende Stille hinein und ich fragte mich, worauf er hinauswollte. Es gefiel ihm, mich vor anderen bloßzustellen, aber für gewöhnlich verfolgte er noch ein anderes Ziel. „Deshalb hoffe ich, sie kann in Zukunft auf eure Unterstützung zählen."

Köpfe senkten sich für ein höfliches Nicken, aber Zephael war noch nicht fertig. Seine stahlgrauen Augen hatten den jüngsten der Fernvales gefunden und hielten sich an ihm fest wie ein Ertrinkender an einem Floß.

„Yven. Mein Guter. Du weißt bestimmt noch wie es war, ein neues Mitglied im Inneren Kreis zu sein."

„Als wäre es gestern gewesen."

„Aber du hast dich prächtig eingelebt."

Für einen Moment meinte ich Yvens Hand zucken zu sehen. Vermutlich suchte er nach einem Sektglas, an dem er sich festhalten konnte.

Er war nicht der Einzige, dem die Fragen meines Großvaters unangenehm wurden, also nahm ich einen großen Schluck von meinem Getränk.

„Ich gebe mein Bestes, um unsere Familie nicht zu enttäuschen", fuhr Yven inzwischen fort. „Obwohl ich noch viel lernen muss."

Zephael schenkte ihm das strahlende Raubtierlächeln, welches sofort dafür sorgte, dass die Alarmglocken bei mir schrillten.

„Geh nicht zu hart ins Gericht mit dir. Ich würde gerne mit Söhnen wie euch angeben können."

Die Blicke der älteren Männer trafen sich bei diesen Worten über ihren Gläsern und nun mutierte auch Segnims Lächeln zu einer Grimasse, die nichts Gutes versprach.

„Am Inneren Kreis teilzunehmen ist eine große Umstellung, aber ich bin mir sicher, deine Erbin wird sie meistern", sagte er langsam und deutlich. „Und meine Söhne werden ihr selbstverständlich dabei zur Seite stehen."

Vinthis nickte und Yven bekräftigte die Worte seines Vaters mit einem zurückhaltenden Lächeln.

„Falls ich dir irgendwie behilflich sein kann, Epherys, dann sprich mich ruhig an. Es würde keine Umstände machen", versicherte mir der jüngste Fernvale.

Mit einem Mal beschlich mich eine böse Vorahnung, was die Absichten meines Großvaters anging, also entschied ich mich dafür, keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Ich lächelte höflich in Yvens Richtung und murmelte ein knappes Dankeschön. Dann senkte ich meinen Blick in mein Sektglas, ohne das Thema zu vertiefen.

Wie üblich folgte ein Schwall an inhaltslosem Smalltalk und bedeutungslosen Floskeln, den ich in Gedanken versunken an mir vorbeiziehen ließ. Schlussendlich zog es die Fernvales zur Getränkebar und ich war aus dem Gespräch entlassen, das mich beinahe die Grimlores zurückwünschen hatte lassen.

Während mein Großvater in Richtung der Dorndraus wanderte, ließ ich den Blick schweifen. Die Fernvales wurden gerade von den Grimlores beschlagnahmt und die Solskins unterhielten sich mit einer Gruppe mir unbekannten Gesichtern. In anderen Worten, ich erkannte die seltene Gelegenheit mich leise davonzustehlen, ohne jemandem aufzufallen.

Ich packte mein Sektglas also fester und steuerte zielstrebig auf die offene Tür zu, die zwischen mir und einem gemütlichen Abend auf der Couch stand. Mit jedem Schritt wuchs meine Hoffnung. Doch an der magischen Grenze angekommen, passte mich Zephael mit strengem Gesichtsausdruck ab.

Als hätte er einen verdammten GPS-Sender an mir befestigt.

„Wohin willst du? Der Abend ist noch nicht beendet."

Ich schluckte, denn sein Tonfall ließ die Luft ums uns herum gefrieren. Was auch immer die Dorndraus zu ihm gesagt haben mochten, es hatte ihn seine gute Laune vergessen lassen. Ob das ein gutes Zeichen war, was Mercia und Tandriels Einstellung anging?

„Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen, bevor ich mit den Solskins ins Gespräch komme", log ich.

Zephael blieb an Ort und Stelle, anstatt den Weg freizugeben. Meine hastig erfundene Ausrede schien ihn nicht zur Gänze überzeugt zu haben; erst nach einer kleinen Ewigkeit, in der wir uns gegenseitig taxiert hatten, gab er auf und trat beiseite. Vor den anderen Kreismitgliedern wollte er wohl keine Szene machen.

„Yven Fernvale", sagte er leise, als ich an ihm vorbeiging, „wäre eine großartige Partie. Wenn wir unsere Familien verbinden könnten, hätten wir vier Sitze. Natürlich nur begrenzt ... offiziell."

Ein Verstoß gegen das alte Gesetz der Gründer, sich nicht mehr als zwei Sitze anzueignen, erkannte ich. Diesmal war ich jedoch klüger, als Zephael die Anschuldigung direkt um die Ohren zu werfen.

„Aber ist nicht eine unserer Vorfahrinnen den Bund mit einem ..."

„... Fernvale eingegangen?", beendete Zephael den Satz für mich, und lächelte sein kaltes Raubtierlächeln. „Es ist schön zu sehen, dass du mitdenkst, Erys, aber darüber musst du dir keine Gedanken machen. Es ist zwar zu einer Hochzeit gekommen, aber sie hatten nie Kinder. Es steht euch also nichts im Weg."

***

Die kalte Nachtluft war eine Wohltat nach der stickigen Mischung aus Räucherstäbchen und Parfum, die heute Abend durch die Innenräume dieses Hauses waberte. Tief einatmend überquerte ich die hölzerne Veranda und ließ mich auf eine der Stufen sinken, die hinunter auf die Grasfläche hinter dem Haus führten.

Nach einer Weile hörte ich die Terrassentür ein zweites Mal aufgehen. Schwere Schritte in meinem Rücken, dann ließ sich jemand mit einem lauten Plumps auf die Stufen neben mich fallen.

Ein paar vertrocknete Blätter schlitterten von der Verandatreppe zu Boden.

„Mein Platz ist besetzt."

Anstelle eine Entschuldigung zu murmeln, sah ich bloß fragend über die Schulter. Mein Mund war voller Sekt, aber selbst wenn ich gekonnt hätte, wären mir die Worte nicht über die Lippen gekommen.

„Hast du auch genug von dem Affentheater dort drinnen? Ich wollte eigentlich nur raus, um eine zu rauchen, aber gegen vernünftige Gesellschaft hätte ich nichts einzuwenden."

Müde musterte ich den Mann, der mir vage bekannt vorkam. Eine unordentliche Frisur, die dem Wind verdächtig gut standhielt, ein einzelner Ohrring, einige Sommersprossen. Wo hatte ich ihn bereits getroffen?

Ein schelmisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, während ich mir den Kopf zermarterte.

„Caleb Marwen. Wir haben uns heute Morgen gesehen", fügte er hilfsbereit zu, als mir auch sein Name nicht weiterhalf.

„Natürlich", sagte ich mit einem entschuldigenden Lächeln, da ich ihn nun wieder zuordnen konnte. Mr. Salvatore. „Du hast mich heute Morgen abgeholt und zur Versammlung gebracht."

Er nickte und stützte sich nach vorne auf seine Knie. „Für den Job waren sich die Herrschaften dort drinnen wohl zu fein."

Nachdenklich wanderte mein Blick von seiner Lederjacke hin zu den schwarzen Schnürstiefeln.

„Ist das nicht klar? Dafür müssten sie sich unters gemeine Volk mischen", erinnerte ich ihn sarkastisch, nachdem ich meine Begutachtung abgeschlossen hatte. Er wirkte nicht wie ein Spion meines Großvaters und ich konnte es noch immer auf die zwei Gläser Sekt schieben, falls doch etwas von diesem Gespräch an Zephaels Ohren gelangte.

Calebs Augen blitzten auf, noch bevor sein Grinsen in die Breite wuchs. Offenbar dachten wir ähnlich über das elitäre Verhalten dieser Menschen – doch das hieß noch lange nicht, dass er sich nicht im Ernstfall auf die Seite schlagen würde, gegen die er gerade heimlich rebellierte. Ich hatte das gut sichtbare Tattoo an seinem Handgelenk nicht vergessen.

„Ich nehm's zurück, dieser Platz gehört ab heute offiziell uns beiden. Aber ich habe eine neue Beschwerde: Wieso kommst du jetzt erst vorbei?"

Wir wussten wohl beide, dass ich die letzten 2 Jahre auf einer supergeheimen Geheimmission an der Akademie der Lichtalben verbracht hatte, also sparte ich mir den Hinweis.

„Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin der Einzige, dem die Gründer mit ihren Star-Allüren auf die Nerven fallen. Der Rest der Gemeinschaft scheint das einfach hinzunehmen."

„Du bist bestimmt nicht der Einzige, aber du weißt, wie gut sie es verkaufen. Sie haben dieses Dorf gegründet, also sind sie so etwas wie die Retter der Nachtalben. Ohne ihre Vorfahren gäbe es die Vorfahren der anderen nicht und so weiter und so fort."

Caleb richtete sich abrupt auf. „Das ist doch Unsinn. Die heutigen Mitglieder des Inneren Kreises haben genauso viel mit der Gründung der Gemeinschaft zu tun wie jeder andere hier."

Ich zuckte mit den Schultern, um meine Ohnmacht anzudeuten. „Ich bin deiner Meinung."

Danach schwiegen wir, da uns das Thema beide ins Grübeln gebracht hatte. Ich konnte die leisen Zweifel nicht verstecken, die mich befielen, wenn ich daran dachte, dass ich meinen Status auch allein aufgrund meiner Vorfahren erhalten hatte. Etwas Besonderes für die Gemeinschaft geleistet, das hatte ich bestimmt noch nicht.

Das haben Zephael und die anderen genauso wenig, erinnerte ich mich streng. Und sie geben ihren Posten niemals freiwillig auf, also würde ich ihnen bloß das Feld räumen, wenn ich meinen Sitz aufgebe.

Caleb stand auf und das Knarzen der alten Bretter schreckte mich ebenfalls aus meinen Gedanken auf.

„Jetzt habe ich die Stimmung versaut", gab er schuldbewusst zu. „Kann ich das irgendwie wieder wettmachen?"

„Schon gut, ich wollte sowieso aufbrechen. Ich bin ziemlich erledigt."

„Oh? Dann begleite ich dich noch ein Stück und hau auch ab."

„Das ist nicht notwe-"

„Da drinnen hält mich nichts", sagte er mit einer Bestimmtheit, die ich ihm beinahe abgekauft hätte.

Wenn nur das Tattoo nicht gewesen wäre.

***

Wir hatten vor dem höchsten der jahrhundertealten, aber gut in Stand gehaltenen Ziegelbauten angehalten, deren zentrale Lage den Bewohnern freie Sicht auf den Dorfplatz und sein Highlight ermöglichte. Die Blätter des Seelenbaums raschelten leise und unaufdringlich in der nächtlichen Brise. Den Gesprächslärm und die parfümierte Luft der Abendgesellschaft hatten wir lange hinter uns gelassen.

Nur die Mitglieder des Inneren Kreises durften sich eine verschwenderisch großflächige Wohnung im Haupttrakt erwarten, der vor uns aufragte. Der Rest der Gemeinschaft war nach Bedarf und Verfügbarkeit in Wohnungen und Zimmern der beiden anderen Wohnhäuser untergebracht. Erinnerungen an meine Schulzeit in luftigen Schlafsälen, die größtenteils mit Tüchern und Paravents unterteilt waren, stiegen in mir hoch. Es war laut und unpraktisch gewesen, vor allem für jemanden, der seine Privatsphäre schätzte. Viele hatten deshalb die Option gewählt, weiterhin bei ihrer Familie zu leben; aber mit Zephael und Aidrel als einzige lebende Verwandten waren mir die chaotischen Schlafsäle als das kleinere Übel erschienen.

Dass ich selbst von heute an eine Wohnung zwischen den Gründern belegen würde, hatte ich nach zwei Gläsern Sekt und einem langen Tag schlichtweg vergessen. Caleb zum Glück nicht. Er hatte mich zielsicher an den richtigen Ort geführt, obwohl meine Füße sich danach sehnten aus den schwarzen Pumps zu schlüpfen und in das schlichtere Gebäude nebenan zu laufen.

„Hier trennen sich unsere Wege, Gründerin Marblod. Schlafen Sie gut auf Ihrem Seidenkissen."

Calebs Züge trugen die Spuren eines sarkastischen Lächelns und ich verdrehte die Augen. Er gab sich alle Mühe mit seinem Look, seinen bissigen Kommentaren und dem schiefen Lächeln, doch egal wie sehr Mr. Salvatore auch den Rebellen spielte, indem er zum äußeren Kreis gehörte, stand er bereits hoch oben in der Rangordnung der Gemeinschaft.

„Danke, Caleb. Ich hoffe, dein eigenes Seidenkissen ist frisch gewaschen."

Als hätte ich etwas Nettes gesagt, lachte der Salvatore-Verschnitt ein letztes Mal auf, bevor er in die unbeleuchtete Nacht davonstapfte.

Mit gemischten Gefühlen verharrte ich unbeweglich im Türrahmen, nachdem er gegangen war. Der sanft beleuchtete Gang vor mir schien zu einer anderen Welt zu gehören, einer Welt, in die ich nicht zu gehören schien. Ich hatte gewusst, dass mein Weg mich früher oder später an diesen Ort führen würde, doch nun da es soweit war ...

Es ist nur ein Zimmer, schalt ich mich für meine lächerliche Angst, den ersten Schritt zu wagen. Doch es war mehr als das und ich wusste es. Ich gab mein letztes bisschen Freiheit und Kontrolle auf, indem ich sie selbst das Zimmer, in dem ich schlafen würde, bestimmen ließ. Aber es gab keinen anderen Weg.

Es ist nur ein Zimmer und es ist temporär, erinnerte ich mich und fasste Mut, bevor ich den ersten Fuß auf die Türmatte setzte. Nichts geschah; ich wurde nicht vom Blitz getroffen, weil ich einen Verrat an den Gründerfamilien plante; ich verwandelte mich nicht in eine zweite Version meines Großvaters; alles war wie immer.

Mein Herz sprang wie wild gegen meinen Brustkorb, als ich mir meinen Weg durch den schlichten Gang und die Treppe hinauf bahnte, vorbei an den Türen der Gründerfamilien. Ich kannte die Namensschilder alle auswendig und im Schlaf: Im Erdgeschoss lebten die Meadows und Solskins in drei separaten Wohnungen, während die nächsten beiden Stockwerke von den Grimlores, Dorndraus und Marblods dominiert wurden. Im vierten und letzten Stock passierte man die drei Namensschilder der Fernvales in der Reihenfolge ihres Alters.

Erst am Ende des Flurs erwartete mich schließlich ein nagelneues Namensschild mit der Inschrift Marblod, Epherys. Sein Metall reflektierte das grelle Kunstlicht, in welches die Flure getaucht waren.

Mein Herzschlag, der sich eben erst beruhigt hatte, beschleunigte erneut, als ich nach dem Umschlag griff, der an der Tür befestigt war, und ein beschriebenes Blatt herauszog. In den ordentlichen Zügen von Zephaels Handschrift war eine kurze Botschaft darauf festgehalten.

Willkommen in deinem neuen Zuhause. Yven Fernvale hat angeboten, ab und an nach dir zu sehen und mit dem Einzug zu helfen.

Ich freue mich zu sehen, dass du dich endlich in die Gemeinschaft einfügst. Wir erwarten Großes.

C.B.

Freu dich nicht zu früh, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf. Zephael würde noch sein blaues Wunder erleben, wenn ich ihm erst die Zügel dieses durchgegangenen Pferdes aus den Händen gerungen hatte.

Der Umschlag war verdächtig schwer und ich drehte ihn um. Prompt fiel mir eine weiße Schlüsselkarte in die Hände, die zu dem modernen Schloss an der Tür zu gehören schien. Kein Vergleich zu dem Gebäude nebenan, das etwas altmodisch, aber gemütlich und vertraut gewesen war. Der kleine Schlüssel aus Messing hatte zu den geräumigen Schlafsälen mit alten Doppelfenstern und abgenutztem Parkett geführt; diese Karte öffnete die Tür zu etwas völlig anderem. Ich kannte die elegante Wohnung meiner Großeltern aus meiner Kindheit und hätte nichts anderes in meinen eigenen Räumen erwarten sollen, doch wie lange war es her, dass ich tatsächlich dort gewesen war?

Andächtig wurde ich meine mitgenommene Lederjacke im Vorzimmer los, das sich zu einem Wohnzimmer mit bodenhohem Fenster auf den Dorfplatz hin öffnete. Das graue Rauledersofa in Verbindung mit den farblosen Wänden und der schwarze Tisch mit seinen durchsichtigen Sesseln ließen den Raum kalt und unpersönlich wirken. Die Einrichtung wirkte wie wahllos aus einem Katalog bestellt. Hinter dem Sofa zierte ein großes abstraktes Gemälde die Wand und ich fühlte mich an einen dieser Tintenklecks-Tests erinnert, die Psychologen angeblich machten. Was sah ich darin? Einen Schmetterling? Eine große Schlacht zwischen den Alben?

Nichts. Nur einige schleißig gezogene Pinselstriche.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und durchquerte den Raum in Richtung der letzten beiden Türen, um einen Blick dahinter zu werfen. Wie erwartet führte die erste zu einem modernen Badezimmer mit Wanne und Regenwalddusche.

Hinter der anderen lag das Schlafzimmer – sofern es diesen Namen verdient hatte. Die einzigen Möbel waren ein großer Kasten, der eine der Wände zur Gänze abdeckte, und ein Doppelbett, das bereits mit weißem Satin bezogen war. Kein Teppich und kein bequemer Polstersessel auf dem man die Zeit vergessen konnte. Mit müden Augen sah ich mich nach einem solchen Platz in der Wohnung um, doch ohne Erfolg.

Sehnsucht nach meinem vertrauten Zimmer in der Akademie begann sich in mir breit zu machen, doch ich erstickte diese Gedanken schnell im Keim, da sie zu nichts führen würden. Stattdessen warf ich mich auf das neue Bett und zog mir die Strumpfhose von den Beinen. Die Feier hatte mir die letzten verbliebenen Kräfte geraubt und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als bis zum nächsten Mittag zu schlafen. Oder noch besser, bis ich Zephael und die Grimlores endgültig losgeworden war.

***

Trotz der bleiernen Schwere, die auf meinen Knochen lag, und meine Augenlider niederdrückte, wollte mein Kopf keine Ruhe geben und so stand ich zwei Stunden nach dem ersten Versuch einzuschlafen an dem großen Fenster im Schlafzimmer. Die Vorhänge hatte ich zurückgezogen, um den tiefschwarzen Nachthimmel betrachten zu können. In der Gemeinschaft gab es keine anderen Siedlungen oder Städte in der Nähe und unsere wenigen Häuser sorgten nicht für genügend Lichtverschmutzung, um das Licht der Sterne zu überstrahlen.

Weit unter mir war die Gemeinschaft zur Ruhe gekommen und die Stille, die sich über den Hauptplatz gelegt hatte, war absolut. Bis auf das Rauschen des Windes und das gelegentliche Rufen eines Tiers störte sie nichts. In Momenten wie diesen, wenn ich in den scheinbar endlosen Himmel sah, konnte ich mir vorstellen, hier glücklich zu sein. Doch eine Viertelstunde an Zephaels Seite genügten, dass sich wieder Geschwüre in meiner Magengegend bildeten.

Nachdem ich eine Weile in halbwachem Zustand an dem Fenster gelehnt hatte, beschloss ich gerade, dem ungewohnten Bett noch eine Chance zu geben, als mir Bewegung auf dem Dorfplatz auffiel. Die schwarze Lederjacke des Mannes verschwamm mit der Nacht und machte ihn beinahe unsichtbar. Mit mildem Interesse verfolgte ich Calebs Weg zu der einzigen Bar, die es in der Gemeinschaft gab, bevor ich mich von dem Fenster abwandte und die Vorhänge schloss.

Ich durfte nicht vergessen, dass ich nicht die Einzige war, die auf Veränderung hoffte.

***

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