Tanz für mich, Sing für uns!

By Ternoa

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Leichte Bekleidung, gedimmtes, violettes Licht, gaffende Augen und eine jede Menge Spaß - das ist die Welt vo... More

Kapitel 1 - Nach der Schule ist vor dem Spaß
Kapitel 2 - Meine ganz eigene Welt
Kapitel 3 - Adonis
Kapitel 4 - Mondenschein und Kerzenlicht
Kapitel 5 - Dans le love game
Kapitel 6 - Zu Besuch bei Bennylein
Kapitel 7 - Freundschaft
Kapitel 8 - Sehnsucht und Stolperdraht
Kapitel 9 - Nanana Come On!
Kapitel 10 - Picknick auf der Wiese
Kapitel 11 - Let me introduce you to my body
Kapitel 12 - Ein sonniger Tag am See
Kapitel 13 - Unter freiem Nachthimmel
Kapitel 14 - Teuflische Engel
Kapitel 15 - Zwei für eine Nacht
Kapitel 16 - Verwirrende Gespräche
Kapitel 17 - Kleiner Snack für Zwischendurch
Kapitel 18 - Dubiose Geschenke
Kapitel 19 - Unverhoffte Begegnungen und erleuchtende Worte
Kapitel 20 - Tanz für mich...
Kapitel 21 - ...Sing für uns!
Kapitel 22 - Aphrodite
Kapitel 23 - Gelbe und rote Rosen
Kapitel 24 - Das Gewitter
Kapitel 26 - Dunkle Schweigsamkeit
Kapitel 27 - Der dornenbesetzte Brief
Kapitel 28 - Verwelkte Rosen
Kapitel 29 - Leere Gläser
Kapitel 30 - Ein Ozean aus Nebel und Tränen
Kapitel 31 - Der goldene Ring

Kapitel 25 - Schweigsame Dunkelheit

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By Ternoa

Schwerfällig drehte ich mich in meinem Bett um und zog die verstopfte Nase hoch. Meine Hand tastete im Dunkeln meines Zimmers nach einem neuen Taschentuch - fand aber nur ein bereits benutztes, welches neben meinem Kopfkissen lag. Ohne zu zögern schnappte ich es, rotzte meine Nase frei und warf es achtlos in den Schlund der Finsternis. Durch die nun wieder freigelegte Nase atmete ich tief ein und wieder aus, bevor ich meinen Kopf zurück ins Kissen drückte. Letzteres war ekelhaft nass, als hätte man es in sumpfiges Gewässer getaucht und danach geradewegs in mein Bett geschmissen. Dem Bettlaken und der Decke erging es nicht anders - auch sie waren mit Feuchtigkeit bestrichen.


Mein Körper fühlte sich an, als hätte man ihn mit Leim bestrichen und ich schwitzte aus nahezu jeder Pore. Meine Haare waren plattgedrückt und klebten halbtot an Kopf und Stirn. Ich würde sie mir am liebsten herausreißen. Ich zog mir die Decke über den Kopf und drehte mich abermals um. Dabei entwich mir ein schweres Seufzen, gefolgt von einem Schluchzen. Ich wollte mich der Müdigkeit hingeben, einfach einschlafen - aber das versuchte ich bereits seit Stunden. Ich wusste nicht wie spät es war und alles Licht, was ich erhaschen konnte, waren die kümmerlichen Strahlen, welche sich durch das Schlüsselloch meiner Zimmertür quetschten. Die Jalousie war vollends heruntergelassen.


Ich wälzte mich noch weiter in meinem Bett herum, bis ich mich irgendwann aufrichtete und erneut schniefte. Die Nase war schon wieder verstopft. Als ich mir über die Wangen fuhr, klebte dort eine Art zweite Hautschicht. Es waren die Hinterlassenschaften der Tränen, welche mich die ganze Nacht über traktierten, während mich die Gedanken gnadenlos gefoltert hatten. Die wilden Rinnsale sind alle hinab auf mein Bett und Kissen geströmt, welche diesen sofort Unterschlupf boten. Ich streckte meinen Arm aus und tastete auf meinem Nachttisch unter all den benutzten Taschentüchern nach meinem Handy. Auf meiner Suche warf ich die Lampe um, welche klappernd auf den Teppich fiel. Fluchend zog ich erneut die Nase hoch und wischte mit meiner ganzen Armlänge sämtliche Rotzfahnen hinfort, welche in alle Zimmerrichtungen flogen.


Als ich endlich mein Handy zu packen bekam, ließ ich mich zurück in meine schweißgetränkte Matratze fallen. Ich schaltete mein Handy an und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das neuerdings zersplitterte Display, um die Uhrzeit zu erfahren. Die untere linke Ecke war nach dem Kuss mit der Wand von tausend kleinen Rissen zum Mosaik verwandelt wurden. Von dort aus zogen sich die Schluchten wie die Fäden eines Spinnennetzes über die gesamte Glasfläche, bis hinauf zur Kamera. Ich wusste nicht, ob sie es überlebt hatte - und ich hatte auch keine Ambitionen es in den nächsten Tagen herauszufinden.


14:37 Uhr


Ich blickte eine Zeit lang auf die Zahlen, welche dadurch immer mehr an Bedeutung verloren. Sie wandelten sich zu Gebilden von Strichen und Kurven ohne jeglichen Zusammenhang. Ich studierte ihre Konturen genauestens, bis sich mein Display wieder schwarz färbte. Erneut saß ich in völliger Dunkelheit. Ein Schniefen. Ein Seufzen. Ein verzweifeltes Blinzeln, um meine Augen zu beruhigen. Die Müdigkeit nagte an mir - die Nacht kam mir unendlich lang vor. Irgendwann spät abends sind Nico und Florian nach Hause gekommen. Ich konnte hören, wie sie sich amüsierten, miteinander witzelten, konnte förmlich sehen, wie sie sich sanft in den Armen hielten. Immerhin hatten sie ihren Spaß - während ich in meinem Zimmer beinahe ertrunken wäre. Ich hatte versucht mein Schluchzen zu ersticken, möglichst keinen Laut von mir zu geben - was jedoch nahezu unmöglich war.


Irgendwann hatte einer der beiden dann versucht mein Zimmer zu betreten - doch ich hatte abgeschlossen. Als sich die Klinke plötzlich nach unten drückte, schreckte ich unter meiner Decke kurz zusammen, keuchte aber dann die angehaltene Luft wieder aus, als sich derjenige entfernte. Kurz darauf hörte ich die beiden, wie sie sich in ihr Schlafzimmer zurückzogen - und das nicht gerade leise. Hastig kramte ich meine Kopfhörer hervor, presste sie mir in die Ohren und ließ die Musik so laut dröhnen, dass ich nichts anderes mehr hören konnte. Selbst mein Winseln wurde dadurch übertönt. Ich machte mir keine Sorgen, dass Nico oder Flo mich hören könnten, denn die beiden waren ausreichend mit sich selbst beschäftigt.


Unter fließenden Tränen, während mein Körper krampfhaft gezuckt hatte, bin ich tatsächlich irgendwann eingeschlafen - wenn auch nicht für lange Zeit. Immer wieder wurde ich wach, krümmte mich vor Schmerzen und schien wieder einzuschlafen - nur um wenig später erneut zu erwachen und die gleichen Qualen ein weiteres Mal zu erleben. Ich fühlte mich, als hätten zwei kräftige Pranken mich die ganze Nacht über ausgewrungen, wie ein pitschnasses Handtuch. Selbst wenn man mich nun zum Weinen bringen würde, ich könnte keine Tränen mehr vergießen. Des Weiteren fühlte ich mich auch genau wie ein verzwirbeltes Handtuch; mein Rücken und alle meine Glieder schmerzten, als hätte man mit einem Hammer darauf gedroschen.


Ich fuhr mir durch mein nasses und geplättetes Haar, als ich aufstand und mich wankend zum Fenster vorarbeitete. Bei nahezu jedem Schritt spürte ich, wie unter meinen nackten Fußsohlen die Haufen an benutzten Taschentüchern nachgaben. Am Fenster angelangt, tastete ich nach der Strippe und leierte die Jalousie nach oben. Eine regelrechte Flut brach über mir zusammen und spülte mich einige Schritte zurück. Ich kniff die Augen zusammen, welche sich erst noch an die Dunkelheit gewöhnen mussten, während mir ein weiteres Schniefen entwich.
Ich stolperte über die weiche Decke an weißen Tüchern zurück zu meinem Nachttisch, griff erneut nach meinem Handy und las die Nachricht, welche mir mein Onkel geschrieben hatte.


Ach, das ist echt Schade, vielleicht ein andernmal?


Noch bevor ich gestern Abend unsere Wohnung erreicht hatte, habe ich Nico eine knappe Nachricht geschrieben, dass wir das Kennenlernen für den Abend streichen mussten. Als ich eben jene Nachricht nur wenige Zentimeter darüber sah, stach ihr Anblick wie ein Dolch zwischen meine Rippen. Meine Finger verkrampften sich und ich kämpfte mit pochender Schläfe und gefalteter Stirn um meine Beherrschung. Dieses Mal verlor ich sie glücklicherweise nicht.


Eine zweite Nachricht von Nico prangte direkt darunter. Sie war von heute Morgen.


Guten Morgen, Langschläfer! Flo und ich sind den ganzen Tag über wahrscheinlich in der Bar. Es gibt ein paar Vorstellungsgespräche... Du weißt schon, Lars braucht ein wenig Unterstützung hier ;)
Falls du Lust hast, kannst du ja vorbeikommen.


Nein, nein das würde ich nicht. Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Nasenwurzel - die Taschentücher sind mir ausgegangen. Ich warf mein Handy achtlos zurück auf den Tisch und blickte mich in meinem Zimmer um. Der Boden war gesäumt mit vollgerotzten Tüchern. Auch meine Klamotten vom Vortag, sowie mein Schlafanzug lagen verstreut in sämtlichen Ecken und auf meinem Schreibtisch. Als ich gestern völlig durchnässt in mein Zimmer gestürmt kam, hatte ich mir die durchgeweichten Klamotten vom Körper gerissen und willkürlich gegen die Wand gedonnert. Als die nächtliche Hitze dann unerträglich wurde, folgte auch mein Schlafanzug.


Ich nahm eine neue Unterhose aus meinem Schrank und zog diese an. Mit schweren Gliedern und gefühlt drei Tonnen Blei im Magen machte ich mich daran meine Klamotten in den Wäschekorb im Bad zu schmeißen und die Taschentücher von meinem Boden aufzusammeln. Allesamt landeten in meinem Mülleimer unterm Schreibtisch, welcher diese Kost nicht gerade erfreut entgegennahm und einige wieder ausspuckte. Mit einiger Anstrengung, Drücken und Pressen passten sie dann doch hinein. Ich keuchte schwer. Meine Gedanken waren derzeitig ziemlich ruhig. Die wilde und stürmische See, die mit ihren riesigen Monsterwellen in der Nacht mein Schiff beinahe zum Kentern gebracht hatte, lag nun völlig idyllisch mit spiegelglatter Oberfläche da. Kein einziges Lüftchen wehte - bis ich ans Fenster trat.


Eine Windböe strich mit seidenhafter Hand meine Wange entlang und wuschelte mir durchs Haar. Von unserer Wohnung im vierten Stock aus konnte ich gerade so über die Kronen der Birken spähen. Doch alles was ich darüber hinaussah, war die Fassade des anderen Wohnhauses, welches an der anderen Straßenseite hockte. Dazwischen lag die Straße, gezeichnet durch die Elemente, an deren Seite auf Parkplätzen zahlreiche Autos standen. Automatisch lehnte ich mich ein wenig weiter aus dem Fenster. Es schien, als hätte die frische Luft einen Schlüssel mit sich gebracht, welcher nun die Kerkertür entriegelte und all die Gedanken, welche dort eingesperrt hockten, frei ließ. Stürmisch preschten sie heraus und kamen direkt in meinen Kopf gerannt. Sie schlugen Purzelbäume, sprangen umher, vollführten Saltos und andere halsbrecherische Dinge.


Was macht Kilian gerade?
Wo ist er?
Will er mich wiedersehen?
Wird er mir scheiben?
Meinte er das ernst? Das... das er mich hasst?


Dieser letzte Gedankenfaden schlug so kräftig zu, dass meine Wange wieder zu glühen begann. Vorsichtig legte ich eine Hand auf diese - sie brannte förmlich. All die Gedanken, all die tyrannischen Geister trampelten so wuchtig auf mir herum, dass all die Narben erneut aufplatzten. Mein Herz wurde hinterrücks erstochen, in meiner Seite pochte es schmerzhaft, um mein Kopf legte sich ein Stahlband, welches immer weiter zusammengezogen wurde.


Nein, er ist weg - für immer!
Du hast es versaut!
Du warst so dumm, so ein Idiot!
Er hat dich nicht verdient!


Meine Brust begann zu beben und die versiegt gedachte Quelle meiner Tränen sprudelte erneut los. Meine Lippen begannen zu zittern und ein Wimmern flog über sie hinweg. Es fühlte sich an, als hätte man mir in den Bauch getreten. Ich legte meine Hände auf die schmerzende Stelle und sackte auf die Knie. Nun konnte ich das Schluchzen nicht mehr halten, all die verschwunden gedachten Tränen schossen hervor, liefen über meine Wange, mein Kinn und tropften hinunter auf meinen Schoß. Tausend Messer bohrten sich mir in den Rücken, mein Körper zitterte, kämpfte ums Überleben, während klägliche Laute meinen Mund verließen. Ich schluchzte erneut ungehalten, bis es zu einem angestrengten und kräftezehrenden Weinen mutierte. Die spitzen Zähne der Reue gruben sich mir in den Nacken.


Es war alles meine Schuld! Ich hatte ihn verloren! Für immer!


Eine Erkenntnis konnte nicht treffender sein. Wie der Schlag eines Boxers hämmerte diese gegen meinen Schädel, brachte mich ins Wanken und schlussendlich knallte ich auf den Boden. Ich kauerte mich zusammen, zog die Beine an die Brust, wollte stark sein, zerbrach aber nur bei dem kleinsten Versuch. Die Tränen liefen ungehalten, die Gedanken lästerten frei nach Schnauze.


Der kalte Parkettboden bohrte sich mir in die nackte Haut, ganz gleich wie Dutzende Speere.






Schweigen. Stille. Die Gedanken waren verstummt. Das Herz in der Brust schlug nur noch, um genügend Blut durch meine Adern zu pumpen. Für andere Aktivitäten fehlte mir die Energie. Mit hängenden Schultern schlurfte ich auf dem Weg umher, welcher mich direkt in das kleine Wäldchen im Park leitete. Mein Kopf hing leicht, wodurch ich lediglich den Boden bestaunen konnte. Vielleicht war es auch besser so, denn jeder, der mich in diesem Moment anblicken würde, würde denken, ich sei von den Toten auferstanden. Die Augen glühten rot, sämtlicher Glanz fehlte ihnen. Mir schien es, als hätte man an meinen beiden Fußgelenken Ketten angebracht, die mit zwei Eisenkugeln verbunden waren, welche ich mit größter Mühe nun klimpernd hinter mir her schliff.


Ich lief ziellos umher, war ein Geflüchteter meiner selbst. Ich hatte es zu Hause nicht mehr ausgehalten und zu meinem Onkel wollte ich auch nicht - und so hatte ich mir meine Jacke geschnappt, die Schuhe angezogen und bin raus spazieren gegangen. Kaum fiel die Tür des Wohnhauses hinter mir zu, wehte der erste Windstoß auch schon all die an mir knabbernden Plagen hinfort - ob Gedanken oder Gefühle, sie waren verschwunden. Und sie hatten ihre Folterinstrumente mit sich genommen. Mein Kopf fühlte sich leer und angenehm leicht an, während meine Arme und Schultern wie mattes und schweres Blei gen Boden hingen.


Um mich herum gab es jetzt nur noch Bäume, kleine wie große, deren Blätterkronen im Wind raschelten und somit ein Lied anstimmten. Das Lied der Bäume. Ich schloss für einen Moment die Augen und nahm einen tiefen Atemzug durch meine noch immer halb verstopfte Nase. Meine Hände waren sicher in meinen Jackentaschen vergraben. Die Finger meiner linken Hand krampften sich um den goldenen Ring in deren Mitte. Auch unter meinen Füßen raschelte das abgefallene Blattwerk im Gleichklang mit dem Knirschen der Kieselsteine. Der Boden war teils aufgeweicht und kleinere Pfützen waren ebenfalls noch vom Vortag da. Die Sonne hingegen hatte sich hinter einer Mauer an Wolken versteckt. Ich hoffte innigst, dass es nicht erneut regnen würde - nicht, wenn ich noch hier draußen umherlief.


Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf den Beinen war, doch irgendwann versteiften sie sich und brachten mich zum Stillstand. Ich hob meinen Kopf und blickte auf eine Bank vor mir. Nein, nicht irgendeine Bank, es war die Bank. Die Bank, auf welcher... Kilian saß, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Augenblicklich kräuselte sich die Luft über der Sitzfläche, wellte sich und nahm Farbe an. Aus der unsichtbaren Leere formten sich die Konturen von Arme, Beine, selbst ein Kopf kam zum Vorschein. Es dauerte nicht lange und schon saß er wieder vor mir, so wie an jenem Tag. Den Kopf leicht gesenkt, sodass die Löckchen fröhlich mit den Füßen im Wind baumelten, die Beine überschlagen, einen Zettel in der Hand.


Plötzlich hob er den Kopf, blickte mich an. In seinem Blick lag nichts Vertrautes, nur eine bittere Kälte. Doch dann schmolz sie dahin, seine Augen hellten sich auf, ja sie strahlten geradezu richtig. Ein Lächeln zierte seine Lippen, was ich unweigerlich erwiderte. Genau wie an diesem einen Tag sah er umwerfend aus. Ich hatte ja bereits viele Typen gesehen, hässliche wie schöne, doch Kilian war... Ich weiß es nicht... Es gab keine Wörter, mit denen man ihn hätte beschreiben können...


Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich mich ihm genähert hatte. Als ich direkt vor ihm stand, schaute er mich noch immer an - und ich ihn. Keiner sagte etwas, unsere Augen, unsere Blicke sprachen ihre eigene Sprache. Doch als ich eine Hand ausstreckte, um seine Wange zu berühren, tickte die Zeit weiter. Kilians Bildnis löste sich auf, verschwamm zunächst, kringelte sich im Hauch des Windes und verschwand schließlich. Zurück blieb ich, ganz allein. Ich ließ meine Hand sinken, den Blick auf die Stelle gebannt, an der Kilian gerade eben noch saß.


In der Schnelle eines Blitzeinschlags drehte ich mich herum und hastete davon. Eine Passantin, welche ich beinahe umrannte, schreckte kurz auf und blieb stehen. Doch ich beachtete sie nicht. Ich nahm all meine verbliebene Kraft und steckte sie in meine Beine. Ich sprintete, rannte über Stein, Erde, Gras. Der Wind peitschte mir ins Gesicht, als würde er mich zum Umdrehen zwingen wollen. Nach kurzer Zeit keuchte ich bereits, denn in der schneidenden Kälte bekam ich nur schlecht Luft. Tränen tropften aus meinen Augen, sammelten sich in meinen Augenwinkeln und traten von dort ihren Flug an. Ich preschte voran, stürmte über Kies und Steinböden, vorbei an parkenden Autos, neben hochgewachsenen Hecken entlang - bis ich irgendwann japsend zum Stehen kam.


Ich ging leicht in die Hocke und stemmte meine Arme auf die Oberschenkel. Ich versuchte möglichst viel Luft in meine Lunge zu pumpen, dann stieg ich auch schon über das Tor, welches im Gartenzaun eingelassen war und mir nur bis zur Hüfte reichte. Mit großen Schritten näherte ich mich der Tür, während mein gesamter Körper anfing zu zittern. Das kleine Häuschen, in welchem Kilian und ich so viele gemeinsame Stunden verbracht hatten, erschien mir plötzlich eigenartig fremd. Ich kannte es nicht mehr, ich fühlte mich wie ein Eindringling, anstatt eines Besuchers.


Hatte mich sonst immer Kilian persönlich erwartet, stand dieses Mal vor der Tür nur mein Rucksack, welchen ich gestern nach der Schule mit zu Kilian gebracht hatte. Als ich nähertrat, sah ich, dass oben drauf ein Blatt Papier lag, festgebunden, damit es nicht wegflog.

Nimm den und dann verschwinde. Ich will dich nicht sehen.


Es waren zwei harmlose Sätze, in der sonst so schönen Schrift von Kilian geschrieben. Doch nicht dieses Mal. Dieses Mal schien es so, als hätte er die Worte nur achtlos darauf gekritzelt, als würde seine Schrift mich verhöhnen, mich anfauchen, wie eine Katze, wenn man ihr zu nahekam. Mein Herz stoppte für einen Moment und verwandelte sich in klotziges Eisen, dessen Schwere mich auf die Knie zwang. Ich sackte vor dem Rucksack nieder und streckte meine Hand aus. Kurz bevor ich ihn anfassen konnte, stieg erneut ein Schauer in mir auf und ich begann jämmerlich zu schluchzen.


Schnell riss ich den Zettel ab und warf ihn zur Seite, schulterte meinen Rucksack und rannte davon. Ich sprang über das mickrige Tor und schaute nicht zurück. Ich zog die Nase hoch und wischte mir die Tränen aus den Augen, während ich noch immer kläglich weinte. Ich wusste nicht, ob Kilian zu Hause war, aber ich wollte es auch nicht in Erfahrung bringen. Ich wollte fort, weg von hier, einfach irgendwo hin, wo... wo...


Wo Kilian bei mir ist...

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