Tanz für mich, Sing für uns!

By Ternoa

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Leichte Bekleidung, gedimmtes, violettes Licht, gaffende Augen und eine jede Menge Spaß - das ist die Welt vo... More

Kapitel 1 - Nach der Schule ist vor dem Spaß
Kapitel 2 - Meine ganz eigene Welt
Kapitel 3 - Adonis
Kapitel 4 - Mondenschein und Kerzenlicht
Kapitel 5 - Dans le love game
Kapitel 6 - Zu Besuch bei Bennylein
Kapitel 7 - Freundschaft
Kapitel 8 - Sehnsucht und Stolperdraht
Kapitel 9 - Nanana Come On!
Kapitel 10 - Picknick auf der Wiese
Kapitel 11 - Let me introduce you to my body
Kapitel 12 - Ein sonniger Tag am See
Kapitel 13 - Unter freiem Nachthimmel
Kapitel 14 - Teuflische Engel
Kapitel 15 - Zwei für eine Nacht
Kapitel 16 - Verwirrende Gespräche
Kapitel 17 - Kleiner Snack für Zwischendurch
Kapitel 18 - Dubiose Geschenke
Kapitel 19 - Unverhoffte Begegnungen und erleuchtende Worte
Kapitel 20 - Tanz für mich...
Kapitel 21 - ...Sing für uns!
Kapitel 22 - Aphrodite
Kapitel 23 - Gelbe und rote Rosen
Kapitel 24 - Das Gewitter
Kapitel 25 - Schweigsame Dunkelheit
Kapitel 26 - Dunkle Schweigsamkeit
Kapitel 27 - Der dornenbesetzte Brief
Kapitel 29 - Leere Gläser
Kapitel 30 - Ein Ozean aus Nebel und Tränen
Kapitel 31 - Der goldene Ring

Kapitel 28 - Verwelkte Rosen

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By Ternoa

»Sam!«, rief eine mir bekannte Stimme hinter mir. Genervt stöhnte ich auf und beschleunigte meine Schritte, um endlich nach Hause zu kommen - möglichst weit weg von diesem Schulgebäude.
»Sam, jetzt warte doch!« Plötzlich packte mich eine Hand an der Schulter und brachte mich somit zum Stehen. Ich wirbelte herum und schlug den Arm weg. Verärgert funkelte ich den Jungen vor mir an.


»Was willst du?«, fuhr ich Ben an, welcher keuchend Luft holte.
»Ich will mit dir reden, Sam. Was ist denn nur mit dir los?«, fragte er und ich war mir sicher, dass seine Augen vor Sorge aufblitzten. Ohne ein Wort, als hätte ich seine Frage gar nicht gehört, drehte ich mich um und setzte zähneknirschend meinen Weg fort.


»Sam, jetzt bleib doch mal stehen!«, forderte Ben, holte zu mir auf und legte seine Hand erneut auf meine Schulter. Dieses Mal stellte er sich direkt vor mich, sodass ich nicht mehr so einfach davonlaufen konnte.
»Hör auf mir nachzurennen«, knurrte ich ihn an. Für einen Moment vergaß er, was er sagen wollte. Ben war zu sehr von meiner fast schon animalischen Stimme geschockt - genauso wie ich selbst. Doch er blinzelte zweimal schnell hintereinander und fing sich wieder.


»Nein, nicht bis du mir geantwortet hast.« Doch ich antwortete nicht. Mein Mund blieb geschlossen.
»Du verhältst dich die letzten Tage, als wären Mina und ich Luft für dich. Ständig ignorierst du uns. Ständig bist du mit den Gedanken was weiß ich wo. Was ist denn los?« Mit jedem gesprochenen Wort presste ich meine Lippen stärker aufeinander, um zu verhindern, dass mir unüberlegte Wörter aus dem Mund rutschten. Meine Zähne bohrten sich in meine Unterlippe, während mein Blick zu Boden ging.


»Man, Sam!«, donnerte Ben los und rüttelte mich leicht an den Schultern, »Wir machen uns Sorgen. Wir wollen dir doch nur helfen.« Zum Ende hin brach seine Stimme und wurde immer leiser. Daraufhin hob ich meinen Kopf und unsere Blicke trafen sich. Seine Pupillen sprangen unruhig umher und musterten jeden Millimeter in meinem Gesicht. Es schmerzte ihn so verzweifelt vor mir zu sehen - doch ich konnte nicht.
»Ben, wenn du mir helfen willst, dann lass mich einfach in Ruhe, ja?« Sanft schob ich seine Hände von meinen Schultern, während sein Kopf sich senkte. Mit enttäuschtem Blick starrte er zu Boden.


»In Ordnung.« Es war ein zarter Hauch, kaum zu hören. Schnell wandte ich mich von ihm ab, drehte mich wieder um und ging weiter. Ich wollte so weit wie möglich weg von ihm.
»Aber vergiss nicht, ich bin immer da, wenn du mich brauchst«, rief er mir noch hinterher, als ich schon in die nächste Seitenstraße einbog. Meine Lippen begannen zu schlottern und ich spürte, wie sich erneut die Tränen heran bahnten. Es war gerade erst einmal Mittwoch, doch es fühlte sich bereits an, als würde ich meine Trauer seit Jahren mit mir herumschleppen. Vielleicht tat ich das ja auch. Immerhin hatte ich seit damals nicht mehr geweint, keinen einzigen Tropfen vergossen.


Ich wusste nicht, wo ich hinlaufen sollte. Willkürlich bog ich an Ecken und Straßen ab, welche mich weder nach Hause noch in unsere Bar führten. Ich fühlte mich leer, als hätte man mir meine Organe aus dem Torso gerissen. In diesem Moment verfluchte ich mich selbst und wünschte mich in die Hölle, dass ich Ben so abweisend behandelt hatte. Er hatte das nicht verdient. Gerade in diesem Moment wünschte ich, er könnte an meiner Seite sein. Reue schlängelte sich einer Schlange gleich an meinem Körper aufwärts, legte sich um meinen Hals und drückte immer weiter zu. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und schrieb Ben eine Nachricht, in welcher ich mich so knapp wie möglich bei ihm entschuldigte.


Gerade als ich mein Handy wieder zurückstecken wollte, verharrte ich auf der Stelle mitten auf dem Fußweg. Ein Mann, der fast in mich hereingelaufen war, schnaubte verächtlich und drängelte sich an mir vorbei. Mein Blick fiel auf einen Chatverlauf, den ich seit zwei ganzen Tagen nicht mehr angerührt hatte. Die bloße Tatsache, dass ich von ihm noch immer keine Nachricht erhalten hatte, ließ mein Herz schmerzhaft zusammenzucken. Ich schaltete mein Handy aus und drückte es an meine Brust - die Augen kniff ich zu, um die sich anbahnenden Tränen aufzuhalten. Plötzlich wusste ich, in welche Richtung ich nun gehen musste.


Wie von selbst setzten sich meine Beine in Bewegung und trugen mich durch das Getümmel der Stadt geradewegs zu meinem Ziel. Zunächst ging ich wie jeder andere vor mich hin, doch bald beschleunigten sich meine Schritte, ich lief schneller bis ich gar rannte. Mein Rucksack wurde ordentlich durchgeschüttelt und ratterte auf meinem Rücken - doch das ließ mich nicht stoppen. Die Häuser lichteten sich, die abwechselnd tristen und bunten Fassaden wichen bald schon den Bäumen, Büschen und grünen Wiesen.


Ich flitzte über den Schotterweg, sodass es unter meinen Schuhsohlen angeregt knirschte. Wenige Minuten später fand ich mich zwischen zwei hohen Hecken wieder und lief in ihrem Schlund entlang, bis ich vor einem kleinen Zaun zum Stehen kam. Ich sackte in die Hocke und holte mehrmals tief Luft - einerseits, weil der Sprint sämtlichen Sauerstoff aus meinen Lungen gepumpt hat, andererseits, um mich zu beruhigen. Als ich mich aufrichtete, wummerte mein Herz noch immer bis hoch zu meinen Ohren. Ich öffnete das niedrige Zauntor ohne auch nur hinzuschauen - die Abläufe sind mir mittlerweile ins Fleisch übergegangen. Ich trat auf das Grundstück und ließ hinter mir das Tor wieder ins Schloss fallen.


Erst jetzt fiel mir ein, dass er um diese Uhrzeit meist noch arbeitete. Die Erkenntnis traf mich wie eine Ohrfeige und eine glühende Kälte schlich sich in meine Wangen. Ich seufzte einen Fluch und trat auf die Wohnungstür zu. Ich hatte nicht das Interesse den ganzen Weg wieder zurückzulaufen und so ließ ich mich einfach vor der Tür auf den kalten Stein nieder. Die Sonnenstrahlen wurden durch das kleine Vordach abgehalten, sodass der Wind mir kühl um die Ohren wehte. Ich zog die Beine näher an meinen Körper und legte meinen Kopf samt Arme darauf.


Eine Zeit lang saß ich einfach nur da - und atmete. Irgendwo in der Ferne zwitscherten Vögel, Wasser plätscherte in einem der Nebengärten. Das Blättergerüst der Bäume raschelte vergnügt, während eine Hummel laut brummend über den Rasen flog und nach frischen Blumen Ausschau hielt. Ich ordnete meine wirren Gedankengänge und versuchte mir krampfhaft die Worte zurechtzulegen. Ich hatte nur eine Chance - würde ich diese nicht ergreifen, würde der letzte Faden, an welchem mein Herz über der Schlucht baumelte, ebenfalls reißen.


Ich schlug mit der flachen Hand auf den Steinboden, was ein Klatschen hinaus in die Welt sandte. Mein Herz wollte sich einfach nicht beruhigen, sondern pumpte stattdessen ununterbrochen ganze Ströme an Blut durch meinen Körper. Meine Adern hatten sich längst zu Stromschnellen verwandeln. So konnte ich mich nicht konzentrieren, mir nicht überlegen, was ich sagen sollte. Unüberlegt sprang ich auf, wodurch meine Welt kurzzeitig ins Wanken geriet. Als ich mein Gleichgewicht wiedererlangt hatte, klopfte ich schließlich an die Tür. Keine Sekunde später wich ich einen Schritt zurück. Ich hatte so laut dagegen gehämmert, dass selbst ein tauber Mensch aus seinem Tiefschlaf gerissen worden wäre.


Enttäuscht seufzte sich auf, als meine Hoffnung verpuffte und die Tür sich nicht öffnete. Ich sollte also recht behalten - er war noch immer auf der Arbeit. Kurzerhand fasste ich den Entschluss, bis zum Abend hier zu bleiben und auf ihn zu warten. Etwas anderes blieb mir nicht übrig, wenn ich ihn sehen wollte.


Gerade als ich mich wieder vor die Tür kauern wollte, öffnete sich diese einen Spalt weit.






Augenblicklich stockte Sam der Atem und sein Herz stand für wenige Sekunden lang still. Seine Augen weiteten sich, als er den Mann im Türrahmen erblickte, welchen er sich all die Tage so sehnlichst herbeigewünscht hatte. Kilians Haut schien eingefallen zu sein, als wäre er in den letzten Tagen um vierzig Jahre gealtert. Seine sonst so strahlenden Augen waren matt, ihnen fehlte jegliches Glitzern. Tiefe, dunkle Augenringe zogen sich darunter entlang. Seine Haare sahen aus, als wäre jedwedes Leben aus ihnen herausgeflossen. Der Bart spross ungehindert über sein Kinn bis hinauf zum Ohransatz.


Beide starrten sich nur wenige Sekunden lang an - für sie selbst schien es jedoch wie eine ganze Ewigkeit. Ihre Blicke verbanden sich miteinander, umschlangen sich und teilten mit dem jeweils anderen in ihrer eigenen Sprache allen Schmerz, alles Leid, aber auch die unendliche Freude einander wiederzusehen. Dennoch standen beide starr und stramm und bewegten sich nicht. Sie schienen aus dem Nichts versteinert zu sein. Nicht einmal ein Blinzeln unterbrach diesen magischen Moment, welcher die beiden gleichsam im Magen kitzelte.


»Darf ich... reinkommen?«, unterbrach Sam kleinlaut die Stille. Es war lediglich ein zarter Hauch. All seine Worte, die er hatte sagen wollte, waren fortgeweht.
Kilian zögerte. In ihm tobte ein Kampf. Die eine Seite brannte vor Wut, wollte Sam anschreien, ihn fortjagen. Die andere Seite aber brach in Freudentränen aus, wollte Sam umarmen, ihn nie wieder gehen lassen. Kilian knabberte an seiner Unterlippe und kratzte mit seinem Fingernagel über die Türklinke. Doch dann nickte er Sam wortlos zu, trat jedoch erst nach einem Dutzend Herzschlägen zur Seite, um ihn vorbei zu lassen. Sam zögerte, seine Schritte schienen vorsichtig und mit Bedacht gesetzt. Er mied den Blick Kilians und streifte sich stattdessen die Schuhe von den Füßen, so wie er es auch schon die letzten Wochen immer wieder getan hatte. Aus Gewohnheit stellte er sie an den alten Platz, neben der Kommode auf den Teppich - direkt neben Kilians Schuhe.


Noch immer stumm schloss Kilian die Tür und ging voran, direkt ins Wohnzimmer. Sam streifte sich noch hastig den Rucksack von den Schultern und stopfte seine Socken in die Schuhe - dann folgte er dem Älteren. Die Luft war stickig, als hätte man seit Langem nicht mehr gelüftet. Die Jalousien waren in jedem Raum soweit heruntergelassen, dass nur gedimmtes Licht durch die kleinen Ritzen in die Zimmer fiel. Die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen, was Sam verwunderte, da er es gar nicht anders kannte, als das die Tür immer offenstand.


Als er schließlich die Türschwelle zum Wohnzimmer überschritt, hatte sich Kilian dort bereits auf dem Boden niedergelassen. Sam setzte sich ebenfalls auf den Boden, wahrte jedoch einen beachtlichen Abstand zu Kilian. Mit flüchtigen Blicken musterte er den Raum. Eine Decke lag über dem Sofa ausgebreitet, darauf lagen einzelne Bücher. Auch der Rest des Raumes war von Büchertürmen gesäumt. Der Papierkorb unter dem Schreibtisch quoll vor lauter Taschentücher über. All das erschreckte Sam. Alles hatte sich verändert, in eine Richtung, welche der Junge niemals hatte einschlagen wollte.


Niemand sagte etwas, beide schwiegen einander an. Den Blick hatten sie starr auf den Boden gerichtet, direkt vor die Füße des anderen. Beide trauten sich nicht, ihren Kopf zu heben und dem Blick des anderen zu begegnen. Die Verbindung an der Tür hatte ihre Gedanken aufgewirbelt, ihr Herz zum Flattern gebracht, ihnen die Kehle zugeschnürt. Die Luft schien schwer und lag wie Blei auf ihren Schultern.


Sowohl Sam als auch Kilian bemerkten die Spannung, welche in der Luft lag, als könnte letztere jeden Moment zerreißen. Eine unsichtbare Mauer tat sich zwischen ihnen auf, eine Mauer, welche die beiden auf ewig trennen würde. Man konnte sie nicht einfach einreißen, einfach beseitigen. Beide fühlten das Gleiche, beide hingen denselben Gedanken nach. Sie hatten beide wissentlich Fehler begangen, Fehler, welche nun ihren Tribut forderten. Auf dem Altar dieser schmerzlichen Erkenntnis lag als Opfergabe die Liebe.


Ein Grummeln durchbrach die Stille. Sam zog seinen Bauch ein, als könnte er damit das hungrige Knurren unterdrücken. Den ganzen Tag über hatte er nichts gegessen - er war viel zu sehr mit sich und seinen Gedanken beschäftigt gewesen. Kilian zwang sich zu einem Lächeln, als er aufstand und an Sam vorbei aus dem Zimmer ging.


»Warte.« Dann war er auch schon nebenan in der Küche verschwunden. Sam blieb unverrichteter Dinge sitzen, starrte weiter auf den Boden. Er presste die Lippen zusammen, während seine Sicht hinter dem Tränenschleier verschwamm. Doch er blieb sitzen und wartete - wie lange wusste er nicht.


Irgendwann kam Kilian zurück und setzte sich neben den Jungen auf den Boden. Dieses Mal trennten die beiden nur wenige Zentimeter. Kilian hielt Sam eine Tasse dampfenden Tee hin, in seiner anderen Hand lag ein rötlich schimmernder Apfel. Sam nahm beides nickend entgegen - er konnte dem Älteren noch immer nicht in die Augen sehen. Er hielt die Tasse unter seine Nase und zog die sich kräuselnden Dampffahnen, welche wie verspielte Drachen anmuteten, mit einem Atemzug in die Nase. Ein süßer Geschmack legte sich auf seine Zunge als er an der Tasse nippte - Erdbeere. Als er die Tasse absetzte und auf den Boden stellte, bemerkte er, dass es dieselbe Tasse war, aus welcher er immer schon getrunken hatte, wenn er bei Kilian war.


Erneut herrschte stilles Schweigen zwischen den beiden. Lediglich ein knackendes Schnorpsen unterbrach dieses, immer, wenn Sam von seinem Apfel abbiss. Kilian nippte immer mal wieder an seiner eigenen Tasse Tee und schielte nicht allzu auffällig zu dem Jungen neben ihm, welcher an seinem Apfel knabberte. Als nur noch das Kerngehäuse übrig war, landete eben jenes im Mülleimer. Nun begann auch Sam aus dem Augenwinkel zum anderen herüber zu schielen. Ihre Blicke trafen sich, trennten sich jedoch wieder genauso schnell.


»Also... Naja... Ich... Ich wollte...«, stammelte Sam vor sich hin. Seine Zunge spielte ihm einen Streich und verweigerte ihm das Sprechen. Er hielt inne und nahm einen tiefen Atemzug, der das stürmisch pochende Herz ein wenig beruhigen konnte.
»Es tut mir leid«, flüsterte Sam. Mit einem wehleidigen Blick schaute er zu Kilian herüber, welcher leicht nickte.
»Ich weiß«, erwiderte dieser, ebenfalls flüsternd. »Aber wem nützt das jetzt noch?«


»Ich wollte... Kilian...« Nachdem Sam den Namen seines Geliebten aussprach, flossen die Tränen aus seinen Augen heraus. Er begann zu schluchzen, zog die Nase hoch. Kilian regte sich nicht, saß teilnahmslos daneben und wartete, dass Sam sich wieder beruhigte. Er musste selbst darauf achten, nicht unter der Tränenlast zusammenzubrechen.


Als Sam die Tränen bändigen konnte, streckte er einen Arm aus. Er wollte Kilians Hand ergreifen. Doch bevor ihm dies glückte, schoss aus dem Nichts eben jene Hand herbei und packte ihn am Handgelenk.
»Nein«, presste Kilian zwischen den Zähnen hervor. An seinen Lippen klebte Zorn, Verachtung triefte in seiner Stimme. Sein Groll rammte sich wie ein Speer in Sams Brust und zerfetzte dessen Lunge. Sein Mund verwandelte sich in eine Wüste - kein Tropfen Wasser weit und breit. Seine Worte blieben ihm im Hals stecken, sein Atem ging nur noch stoßweise. Die beißende Kälte in Kilians Blick trieb seine Tränen weiter voran - stumm flossen sie in Rinnsalen über seine Wangen. Er wollte ihn doch nur berühren, seine Haut auf seiner eigenen spüren, so wie in den etlichen Stunden, die sie gemeinsam verbracht hatten.


»Es widert mich an«, meinte Kilian trocken. Kalt. Jegliches Gefühl ist seinen Worten entflossen. Sam zog tief die Luft in seine Lunge und nahm seine Hand zurück.
»Wieso bist du hier?«, fragte Kilian plötzlich. Sam konnte nur mit dem Kopf schütteln und mit den Schultern zucken.
»Ich weiß es nicht«, hauchte er. Doch, er wusste weshalb er hier war. Er vermisste Kilian, wie die Sonne den Mond, die Flut die Ebbe, das Licht die Dunkelheit. Solange Kilian nicht bei ihm war, fühlte er sich unvollständig, leer. Ihm Kilian zu nehmen, kam einem Entzug von Wasser, Luft und Schlaf gleich. Lieber würde er sich freiwillig auf ein Schafott begeben und seinen Hals unter die Klinge legen. Alles, was er wollte, war Kilian zu sehen. Morgens, wenn er aufstand. Abends, wenn er einschlief. Seine Hand zu halten, seinen Atem zu spüren, seine Berührungen zu genießen.


»Ich... Ich wollte das alles nicht.«
»Ich noch viel weniger, Sam.« Als er seinen Namen aus Kilians Mund hörte, zuckte er ungewollt zusammen - eine prickelnde Gänsehaut breitete sich über seinem Körper aus. Er schaute zu dem anderen, wie dieser an seiner Tasse nippte.
»Aber es ist so wie es ist. Und ich bleibe dabei. Ich kann das nicht, ich.. ich will das nicht.« Worte können töten - Sam hatte es irgendwann irgendwo einmal gelesen. Er hatte es nicht geglaubt, wie auch? Es waren nur Worte, nur Laute, Schwingungen des Kehlkopfes. Doch in diesem Moment spürte er die Bedeutung dieses unscheinbaren Satzes. Sam legte eine zitternde Hand auf die Brust. Kilian hatte ihm mit seinen Worten die Spitze eines Schwertes an die Brust gesetzt - und er hatte nicht gezögert dessen Klinge in Sams Leib zu versenken. Dem Jungen stockte der Atem, seine Lippen bewegten sich willkürlich, als versuchte er zu sprechen, ohne das Laute seinen Mund verließen. Doch er wollte leben, leben, mit Kilian an seiner Seite.


»Aber... das...«, stammelte er vor sich hin. Kilian stellte seine Tasse auf den Boden - sie war leer.
»Sam, es war eine wunderschöne Zeit mit dir. Ich hatte gehofft, dass hier niemals sagen zu müssen, aber...« Seine Stimme brach - Tränen flossen ungehalten.
»Ich habe dich geliebt. Ich liebe dich noch immer - aber ich kann das nicht...« Ein markerschütterndes Zittern erfasste Kilian und ließ ihn stoppen.
»Das mit uns Sam...« - beide schauten einander hinter einem Vorhang aus Tränen an - »... das hat keine Zukunft.« Worte können töten - doch vorher foltern sie. Keiner der beiden war in der Lage diesen überdimensionalen Tsunami aufzuhalten. Mit voller Wucht brach er über den beiden zusammen, die sich ein letztes Mal fest umklammert hielten. Ihre Arme schlangen sich umeinander, während die Tränen sie auspeitschten und die Flut sie letztendlich fortspülte. Nur ihre Umarmung hielt sie zusammen - für immer. Sie schrien leidvoll, sie heulten schmerzhaft auf, schluchzten gepeinigt, während ihre Körper die Schwelle zum Tod überschritten - gemeinsam.


Irgendwann jedoch - es könnten Stunden gewesen sein - lösten sie sich wieder voneinander. Keiner der beiden hatte noch Tränen über, der gesamte Boden hatte sich in einen See verwandelt. Sie sind der Flut entkommen - doch sie hatten schwere Verletzungen davongetragen. Der Tod hatte sie verschont, doch hatte er ihnen ein Geschenk vermacht. Er kam nicht persönlich, sondern hatte seine Kinder geschickt. Es würden Narben werden, etliche Narben, die Sam und Kilian für immer tragen würden, bis sie dem Tod in die Arme liefen.


»Du solltest jetzt gehen«, wisperte Kilian mit zittriger Stimme gegen Sams Ohr. Ihre Gedanken waren stumm, ihre Körper ausgelaugt. Beide erhoben sich gleichzeitig, zogen sich einander hinauf. Ein letztes Mal in diesem Leben verbanden sich ihre Blicke, ein letztes Mal konnten sie hinter die Fassade des anderen schauen. So viele unausgesprochene Worte lagen zwischen ihnen, so vieles, was nie gesagt, aber in diesem Moment gefühlt wurde. Zwei Seelen, einst fusioniert, wurden in diesem Moment auseinandergerissen.


Es brauchte nicht viel und Sam überbrückte die letzten Zentimeter. Ihre Lippen legten sich aufeinander. Es war wie am ersten Tag. Doch es hielt nicht lange. Kilian schob Sam von sich fort und schaute ihn verwirrt, entsetzt, dankbar und liebevoll zugleich an.


»Bitte verzeih mir«, flehte Sam seinen Gegenüber an. »Ich liebe dich.«


Sam drehte sich um und rannte aus dem Raum.






Ich weinte trockene Tränen, als ich in den Flur stürmte und heulend meine Schuhe und Rucksack schnappte. Ich riss die Tür auf und sprang heraus. Mein Inneres war zerrissen, zerfetzt von tausend Klauen, die ohne Pause auf mich eindroschen. Ich schluchzte wild, schrie schmerzhaft auf und stolperte barfuß über den Schotterweg davon. Der Tod saß mir im Nacken, stimmte seine liebste Hymne an und wetzte mordlustig die Messer. Ich schrie all mein Leid hinaus, ignorierte den stechenden Schmerz in meinen Füßen und Herz, wehrte mich nicht, sondern ließ mich langsam in die tröstende Umarmung der Schatten ziehen.


Ich bemerkte nicht einmal, dass es begann zu regnen...

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