Tanz für mich, Sing für uns!

By Ternoa

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Leichte Bekleidung, gedimmtes, violettes Licht, gaffende Augen und eine jede Menge Spaß - das ist die Welt vo... More

Kapitel 1 - Nach der Schule ist vor dem Spaß
Kapitel 2 - Meine ganz eigene Welt
Kapitel 3 - Adonis
Kapitel 4 - Mondenschein und Kerzenlicht
Kapitel 5 - Dans le love game
Kapitel 6 - Zu Besuch bei Bennylein
Kapitel 7 - Freundschaft
Kapitel 8 - Sehnsucht und Stolperdraht
Kapitel 9 - Nanana Come On!
Kapitel 10 - Picknick auf der Wiese
Kapitel 11 - Let me introduce you to my body
Kapitel 12 - Ein sonniger Tag am See
Kapitel 13 - Unter freiem Nachthimmel
Kapitel 14 - Teuflische Engel
Kapitel 15 - Zwei für eine Nacht
Kapitel 16 - Verwirrende Gespräche
Kapitel 17 - Kleiner Snack für Zwischendurch
Kapitel 18 - Dubiose Geschenke
Kapitel 19 - Unverhoffte Begegnungen und erleuchtende Worte
Kapitel 20 - Tanz für mich...
Kapitel 21 - ...Sing für uns!
Kapitel 22 - Aphrodite
Kapitel 23 - Gelbe und rote Rosen
Kapitel 24 - Das Gewitter
Kapitel 25 - Schweigsame Dunkelheit
Kapitel 26 - Dunkle Schweigsamkeit
Kapitel 27 - Der dornenbesetzte Brief
Kapitel 28 - Verwelkte Rosen
Kapitel 29 - Leere Gläser
Kapitel 31 - Der goldene Ring

Kapitel 30 - Ein Ozean aus Nebel und Tränen

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By Ternoa

Irgendwo flog eine Tür zu. Grummelnd drehte ich mich rum und versuchte kläglich die Augen zu öffnen. Schläfrig setzte ich mich im Bett auf. Plötzlich überfiel mich ein Schwindelgefühl, welches meinen Magen kitzelte und mich zurück in das Kissen warf. Mein Kopf dröhnte, meine Sinne spielten verrückt. Mein ganzer Körper war zerfressen von Schmerz und schrie auf. Ich stöhnte mit ihm und rollte mich vom Leid gepeinigt fester in die Decke ein.


Es war alles nur ein böser Traum. Ich bin noch gar nicht aufgewacht, aber gleich! Gleich wache ich auf und mit einem Schnipsen der Finger sind all die Schmerzen verflogen! Ich verharrte noch ein wenig länger in meiner Position und wartete auf eine Erlösung, auf das sehnlich herbeigewünschte Aufwachen - doch es blieb aus. Lediglich nach weiter verstreichender Zeit ebbten die Schmerzen ab und lösten ihre festgezogenen Fesseln.


Ich setzte mich wieder auf, hielt mir jedoch den schmerzenden Kopf. Als ich mich umblickte begann mein Herz zu rasen. Wo war ich hier gelandet?! Alles war mir fremd und nichts kam mir bekannt vor. Ich befand mich in einem völlig fremden Bett, in einem völlig fremden Zimmer, in einem völlig fremden Haus! Ich musste noch träumen!


Überall auf dem Boden lagen verstreut Klamotten herum, als wäre der Kleiderschrank explodiert. Ich erspähte mein Shirt... Meine Hose... Und... Zwei weitere Hosen... Und auch andere mir unbekannte Sachen... Die mussten jemand anderem gehören... Panik machte sich breit und überfiel mich hinterrücks. Was machte ich hier?! Was ist nur passiert?! Ich blickte an mir herunter und sah, dass ich nackt war. Oh nein nein nein...


»Guten Morgen, Dornröschen«, ertönte eine Stimme von der Tür aus. Erschrocken fuhr ich zusammen und blickte zu dem halbnackten Mann, der im Türrahmen stand und mich begrüßte. Ich kannte ihn nicht, es war ein mir völlig fremder. Seine Blicke fuhren lüstern über meinen Körper. Nun setzte er sich in Bewegung und kam näher auf mich zu. Nein nein nein nein nein! Er setzte sich neben mich und grinste mich an. Als er nach der Decke greifen wollte, umklammerte ich diese nur noch fester und rutschte so weit wie möglich fort von ihm.


»Was hast du denn?«, fragte er verdutzt. »Du warst doch gestern Abend und die ganze Nacht über nicht so schüchtern und ängstlich.« Nein nein nein nein! Das kann doch nicht wahr sein!!
»Es war wirklich schön mit dir«, flüsterte er mir zu und krabbelte über das Bett bis zu mir. Dann sah er mich an und wartete, wartete, dass ich etwas sagte, oder mich regte.
»Wollen wir das nicht nochmal wiederholen?«, feixte er und kam mit seinem Gesicht immer näher. Er trug nur eine Boxershorts und diese war ihm nun deutlich zu eng geworden. Panisch und fast schon reflexartig schüttelte ich mit dem Kopf. Er hielt inne und schaute mich verwirrt an. Dann zuckte er mit den Schultern.


»Vielleicht ist Morgensex nicht deins, schon gut... Dann warte ich eben wieder bis zum Abend, wenn du wieder genauso drauf bist wie gestern.« Wie gestern? Oh nein, wie war ich denn gestern drauf? Nein! Verdammt!
»Also ich gehe mich jetzt duschen«, teilte er mir mit und sprang vom Bett auf, »willst du mitkommen?« Wieder schüttelte ich verstört mit dem Kopf. Erneut zuckte er mit Achseln.
»Du taust schon wieder auf, Süßer«, meinte er und verließ den Raum. »Falls du etwas essen möchtest, der Kühlschrank steht dir gerne zur Verfügung!«, rief er mir noch durch die Wohnung zu, bevor er eine Türe zuknallte.


Steif vor Schock und Entsetzen konnte ich mich nicht bewegen. Ich starrte zur Tür, aus welcher der Typ gerade gelaufen ist. Langsam schlichen sich all die Erinnerungen, an den Abend und an die Nacht, zurück in mein Gedächtnis... Und ich musste vor Ekel würgen. Wie ist das alles bloß passiert?! 


Ganz plötzlich kehrte auch mein Gespür für meinen Körper zurück und binnen weniger Sekunden sprang ich aus dem Bett. Ich sammelte hektisch meine Klamotten ein und zog mich rasch an. Nur war meine Unterhose verschwunden... Egal, ich wollte keine paar Minuten länger hier in dieser Wohnung verbringen! Ich schlüpfte hastig auch ohne Boxershorts in meine Jeans und eilte durch die Tür. Verloren blickte ich mich um. Von irgendwo her hörte ich den Wasserstrahl einer Dusche.


Ich wartete nicht länger und lief los, rannte durch den Flur. Ich rannte auch an der Küche vorbei, wollte mir aber ganz sicher nichts aus dem Kühlschrank holen - zumal dort noch jemand saß, eine weiterer Mann, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er sah mich und rief mir irgend etwas hinterher, doch ich achtete nicht auf ihn, hastete einfach weiter. Ich erblickte einen Kleidungsständer, an dem meine Jacke hing. Ich schnappte meine Jacke, riss die Tür auf und fand mich in einem Treppenhaus wieder.


Ich wollte weg hier, weg weg weg! Schneller als drei Lidschläge stand ich auch schon draußen auf dem Pflasterstein, rannte jedoch weiter und streifte währenddessen mir meine Jacke über. Irgendwann blieb ich stehen und lehnte mich keuchend an einen Baumstamm. Es dämmerte gerade erst und es war verdammt kalt. Aber wenigstens hatte ich es geschafft dort rauszukommen...


Gestern Abend... Ich war so dumm! Wieso hatte ich auch so viel getrunken?! Nico hatte mich doch ständig gewarnt, meine Finger von solchen Sachen zu lassen! Und dann auch noch in dieser Menge! Und dann kamen die beiden... Sebian? Se... Se... Sebastian! So hieß der eine doch! Diese Mistkerle! Die haben es verdammt nochmal ausgenutzt, dass ich so stockbesoffen war! Sie haben sich an ich ran gemacht und... Und ich mich auch an sie... Dann sind wir mit ihrem Auto hier her gefahren und... Nein! Diese widerlichen Kerle!


Sie haben ihre Lust an mir ausgelassen, als wäre ich eine kostenlose Hure für jedermann! Diese ekelhaften Wichser! Ich erschauderte, vor Kälte und wegen dem Geschehenen. Wütend trat ich gegen den Baum. Mein Atem kleidete sich ein ein weißes Dunstkleid und verschmolz mit der vor Kälte klirrenden Luft. Ein leichtes Nebeltuch lag über der Stadt und bedeckte die Hochhäuser. Ich fröstelte, selbst mit Jacke. Man könnte meinen, es wäre Winteranbruch.


Ich nahm noch einen tiefen Atemzug - welcher in meiner Nase brannte - und lief anschließend weiter. Ich musste mich aufwärmen... Und meinen Kopf frei bekommen, irgendwie! Ich rannte und rannte und rannte. Irgendwann keuchte ich nur noch und wurde langsamer. Ich hatte keinen Schimmer, wo ich mich gerade befand, doch ich wollte nur noch nach Hause.
»Verzeihung«, sprach ich eine vorbeilaufende Frau an und fragte sie nach dem Weg zu meiner Straße, in welcher ich wohnte.


»Also ich habe von so einer Straße noch nie gehört, tut mir leid.«
»Achso, ähhmm... Können sie mir dann wenigstens verraten, wie ich zum Rathaus gelange? Von dort aus schaffe ich es auch selbst nach Hause.« Die Frau überlegte kurz, bevor sich ihre Augenbrauen zusammen zogen und sich fast berührten.
»Sicher, aber das ist ziemlich weit entfernt. Das Rathaus liegt am anderen Ende der Stadt, direkt neben dem Wasserturm.« Neben dem Wasserturm? Was war hier los? Moment... Aber... Nein, das kann doch nicht sein...


»Ähh... Welche Stadt ist das überhaupt hier?«, fragte ich vorsichtig, obwohl ich die Antwort nicht hören wollte. Als die Frau sie mir dennoch gab, setzte mein Herz zwei Schläge aus. Aber wie nur? Das war doch so weit weg! Meine Hand suchte eilig nach meinem Handy in meiner Hosentasche... Fand jedoch nichts. Die Panik kam zurück und ließ mir übel werden. Es war nicht da, mein Handy war fort! Verdammt! Vielleicht lag es noch bei diesem Sebastian! Nein, verdammt!


Ich hätte heulen können. Völlig alleine stand ich hier also, in einer fremden Stadt, ohne Handy, mein Geldbeutel war auch fort, niemand wusste wo ich bin. Gestern Nacht hatte ich mir den Kopf zugesoffen und wurde daraufhin von diesen zwei Typen begrapscht und vergewaltigt! Wie konnte es denn nur dazu kommen?! Mein Hals wurde abgeschnürt und meine Beine machten schlapp. Mein Magen zog sich zusammen und mir wurde wieder übel. Meine Augen wurden feucht. Scheiße Scheiße Scheiße! Was soll ich jetzt nur machen?!


»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich die Frau besorgt, »Sie sehen etwas mitgenommen aus.« Ich nickte stumm und begann zu schluchzen. Das alles war zu viel für mich. Zu viel, viel zu viel.
»Hey, ganz ruhig«, versuchte die Dame mich zu beschwichtigen und führte mich zu einer nahe gelegenen Bank.
»Was gibt es denn, kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Das Schluchzen ebbte langsam ab und ich konnte wieder sprechen.
»Ich... Ich will nur wieder nach Hause«, stammelte ich, »Aber ich bezweifle, dass sie mir da helfen können.« Ein weißer Schleier verließ beim Sprechen meinen Mund. Noch immer froren mir die Eier ab.


»Wo wohnen Sie denn?« Als ich ihr den Namen meiner Stadt verriet, grinste sie erfreut. 
»Das trifft sich perfekt, ich wollte gerade zu meinem Wagen. Ich muss nämlich in genau diese Richtung fahren. Ich kann sie also gerne mitnehmen, wenn sie möchten.«
»Das... Das wäre wirklich zu nett«, stotterte ich und zog meine Nase hoch, woraufhin die Frau mir ein Taschentuch hinhielt. Dankend nahm ich es an. Wir liefen zu ihrem Wagen, stiegen ein, fuhren los und waren auch fast schon wieder angekommen. Die Zeit rannte plötzlich wahnsinnig schnell. Größtenteils schwiegen wir, nur manchmal erklärte ich der Frau, deren Namen ich noch immer nicht kannte, in welche Straße sie jetzt genau einbiegen müsste. Sie war viel zu nett, viel zu freundlich. Vor wenigen Minuten hatte ich gedanklich schon mit meinem Zuhause abgeschlossen, aber scheinbar komme ich wohl doch wieder nach Hause.


Die meiste Zeit über blickte ich stumm aus dem Fenster. Noch immer war mir übel, schwindelig und auch die Panik war noch immer nicht verflogen, sondern krallte sich in mein Fleisch. Ich bemühte mich meine Tränen für die ganze Fahrt zurückzuhalten, was mir auch tatsächlich gelang. Diese ganze Situation, in der ich mich befand, war so absurd... Ich trank doch eigentlich nie... Und ich hatte doch auch sonst absolut keine Probleme damit, wenn Männer mich anfassten und so - im Gegenteil... Aber warum setzt mir der Gedanke dennoch zu, gestern mit den beiden Typen geschlafen zu haben? Und seit wann reagiere ich so emotional und aufbrausend? Seit wann fing ich einfach so an in der Öffentlichkeit zu Schluchzen? Die ganze Situation machte mich einfach fertig und raubte mir all meine Energie. Und das alles nur, wegen... Wegen... Kilian...


Unvermittelt blieb das Auto stehen, wir waren tatsächlich zu Hause angekommen. Erleichtert atmete ich aus und stieg aus dem Wagen. Ich lief schnurstracks zur Tür. Ob sich Nico und Florian wohl schon Sorgen gemacht haben? Quatsch... Sie waren es gewöhnt, dass ich manchmal sehr spät nach Hause komme... Oder auch gar nicht... Sie werden sich bestimmt nicht um mich sorgen. Wahrscheinlich denken sie, dass nichts weiteres passiert ist - und ich wünschte es wäre so.


Hinter mir hörte ich es rascheln und ich drehte mich um. Die Frau folgte mir. Ich weiß nicht, was mich dazu antrieb, doch plötzlich hastete ich auf sie zu und umarmte sie stürmisch. Sie wirkte völlig perplex, weshalb ich schon bald wieder von ihr ab ließ. Sie schaute mich verwirrt an.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe! Ohne Sie hätte ich nicht gewusst, wie ich wieder nach Hause komme«, bedankte ich mich aufrichtig bei ihr und rang mir auch ein kleines Lächeln ab. Auf Ihrem Gesicht stand unverkennlich die Frage geschrieben, weshalb ich vorhin so aufgelöst Ihr gegenüber getreten bin, doch ich werde Ihr wohl nie eine Antwort darauf geben. Doch dann lächelte auch Sie.


»Ich bin froh, dass ich Ihnen helfen konnte. Wenn ich noch etwas...«
»Nein keine Sorge, alles ist gut«, unterbrach ich Sie, wenn auch etwas unhöflich, »Sie haben mir schon so unvergesslich doll geholfen! Vielen vielen Dank!« Die Frau nickte lächelnd und verabschiedete sich, wohl wissend, dass sie mich wahrlich gerettet hatte. Gerettet, vor meiner eigenen Dummheit...


Ich lief zurück zum Gebäude, drückte auf die richtige Klingel und wartete. Ich vergrub meine Hände in den Ärmeln meiner Jacke und hoffte, dass dadurch die Eiseskälte des frühen Morgens endlich von mir ablassen würde. Obwohl es beinahe Sommer war, war die Kälte unerträglich. Ich wünschte, ich könnte mich in eine warme, kuschelige Decke werfen, einen heißen Kakao trinken und... Und eine zärtliche Umarmung... Nein... Nicht daran denken Sam, nicht jetzt.
Ich atmete tief durch und schloss die Augen. Ich spürte, wie die Tränen in mir aufstiegen. Je höher sich sich reckten, desto schwerer fühlte ich mich, desto inniger drückten sie mich zu Boden. Doch ich konnte sie zurückhalten... Zumindest vorerst...


Endlich brummte es, was mir signalisierte, dass die Tür endlich entriegelt war. Ich schlüpfte schnell hinein, nur um festzustellen, dass es hier drinnen nicht viel wärmer war als draußen. Ich zog meine Nase hoch und begann die Stufen nach oben zu steigen. Jeder Schritt fiel mir so unendlich schwer, als hängten ganze Eisenkugeln an meinen Beinen, die verhindern sollten, dass ich entfliehen konnte...


Was hatte ich mir nur gestern dabei gedacht? Einfach so alleine abzuhauen, alles, was es zu ertrinken gilt, in ganzen Ozeanen von Alkohol und dröhnender Musik zu ersaufen... Ich konnte mich nicht zügeln, gab mich dieser Stimme hin... Dabei meinte sie es doch nur gut mit mir. Sie wollte mir den Schmerz nehmen, für wenigstens einen Abend ein Mittel zur Verfügung stellen, sodass ich mich wieder... glücklicher fühlte...


Ich schüttelte mit dem Kopf und begann leise zu lachen, während ich mich weiter die Stufen empor hangelte. Wie absurd das doch alles ist! Wo bin ich hier gelandet?! Vor einem Monat, da dachte ich nur an Schwänze und all sowas, Liebe war mir ein Fremdwort... Und jetzt?! Jetzt kommt es mir so vor, als spielte ich die Hauptfigur in einem dieser blöden und kitschigen Romantikfilmen, gerade nachdem die große Liebe geplatzt und deren Reste durch den Abfluss gespült wurden. Was war nur mit mir geschehen?


Es war dieser eine Tag... Dieselbe Stimme... Sie hatte mir zugeflüstert, ich sollte doch im Park eine kleine Runde gehen. Ich gehorchte ihr, genauso, wie ich ihr gestern verfallen bin... Und dann traf ich Kilian. So ganz allein, ein Engel von einem Mann, saß er dort auf der Bank... Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kommt es mir so vor, als wäre all das geplant gewesen, als hätte irgend jemand gewollt, dass alles so läuft, wie es geschehen ist. Wenn dem so ist, dann ist dieser Jemand ein verdammt guter Stratege, der das Planen wirklich beherrscht... Und ein riesiges Arschloch noch dazu!


Wieder drückte ich die Tränen zurück, atmete schwer und nahm mir die letzte Treppenfront vor. Ich fühlte mich, als würde dort oben Kilian auf mich warten. Es war wie an diesem Tag - nur wenige Schritte trennten uns und... und dann war da die Laterne... Und als ich das erste Mal sein Lächeln gesehen habe, da... Dieses Bedürfnis, mich in seine Arme zu werfen, seinen Atem auf meiner Haut und meinen Lippen zu spüren... Was hat er mit mir nur angestellt?! Mir den Kopf verdreht?! Mir Schmetterlinge in den Bauch gepflanzt?! Das sind doch alles nur leere Phrasen, die nicht einmal ansatzweise beschreiben können, was in mir vorging! Und jetzt ist alles vorbei!! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn und mich auch!! Wie konnte er?! Ich hasse ihn! Und... und trotzdem will ich, dass er zurückkommt...


Ich hörte das Knacken und das Brechen. Die Risse wurden größer, fraßen sich durch die nun fragile Mauer aus Stein. Das dahinter angestaute Wasser, Wasser aus aber tausenden Wolken, schmiss sich mit aller Wucht gegen den Damm, ließ ihn ächzen und stöhnen... Ich konnte nicht mehr, ich wollte nicht mehr... Lass ihn brechen... Soll das Land doch überspült und geflutet werden...


Ich setzte meinen Fuß auf die Bodenplatte. Der Widerhall von den Wänden ertönte wie ein ohrenbetäubendes Erdbeben. Ich blickte nach vorne und versuchte mich gerade hinzustellen - was mir kläglich misslang. Durch die geöffnete Türe fiel das Licht aus dem inneren bis direkt vor meine Füße, stoppte aber jäh, als hätte es Angst vor mir, als wäre ich giftig und todbringend. Im Türrahmen stand Nico und schaute mich an. Besorgnis glänzte in seinen Augen, aber auch Freude, dass ich endlich wieder hier war.


Ich machte weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Mit jedem Schritt schlug ein gigantischer Hammer auf den Wall ein, immer und immer kräftiger. Meine Sicht trübte sich. Meine Augen füllten sich mit Wasser, meine Arme und Beine begannen zu zittern, mein Körper begann zu beben. Als Nico schließlich die Arme ausbreitete, war es geschehen. Ein bestialischer Donner brach los, der Damm zersprang in tausend Stücke und das Wasser, all das Wasser löste seine Ketten und rauschte brüllend hinunter ins Tal. Nun brach es aus mir heraus.


Ich begann zu schluchzen und rannte vor der Flut davon. Tränen flossen meine Wangen herunter und ich warf mich Schutz suchend in die Arme meines Onkels, der seine Arme behutsam um mich schlang. Ein wahrer Sturm brach los und ich hielt es dieses Mal auch nicht zurück. Ein Erdbeben erfasste meinen Körper, ich sackte in den Armen meines Onkels zusammen - all meine Kraft schwand. Ich heulte bitter und heulte ohne Halt. Ich schrie förmlich all meinen Frust heraus und wollte nichts anderes als weinen.


Ich wollte etwas zerstören, irgend etwas schlagen, all die Wut, den Hass, die Trauer, die Reue und so viel mehr beim Halse packen und erwürgen, sie treten, auf sie einschlagen, schreien, in meinen eigenen Tränen ersaufen lassen.
Mein Weinen hallte durch das ganze Treppenhaus und bevor wer anders noch heraus kam, oder ich weiter in mich zusammensackte, zog mich Nico hinein in unsere Wohnung und schloss die Tür hinter mir. Wie dumm ich doch war! Das alles hatte ich nun davon! Ich hatte es von Anfang an gesagt! Ich wollte nie lieben! Mir war es scheißegal! Mehr als das! Aber ich habe nicht auf mich gehört, das eine Mal, wo es sinnvoll gewesen wäre! Wie ich mich hasste, IHN hasste, ALLES hasste!!


Am Rande meines Bewusstseins und getrübt durch einen weiteren Schwall an Tränen bemerkte ich noch, wie mich Nico in unser Wohnzimmer brachte und mich auf die Couch legte. Ich bemerkte ebenfalls, dass Florian herbeigeeilt kam, um zu sehen, was sich hier abspielte. Sie blieben beide bei mir, redeten auf mich ein. Doch nichts was sie sagten konnte ich hören. So wie sie mich berührten, konnte ich sie nicht fühlen. Das Schluchzen und Heulen wurde immer stärker, wurde immer kräftiger und türmte sich auf zu einem gigantischen Sturm, der das ganze Land hinwegfegen konnte! Ich zerbrach, hörte Scherben klirren und Glas zerspringen. Ich spürte, wie mein ganzer Körper zerrissen wurde, zerrissen, von all den Händen, die an mir zerrten.
Wie dumm ich doch war! Und wie sehr ich mich hasste!! Er ist fort, für immer fort! Ich war so unendlich dumm!!! In jeder Hinsicht! Gott! Wenn es dich gibt, zeige dich und deine Barmherzigkeit! Beende all das hier sofort... Beende es... Beende es...


Er ist fort... Fort für immer... Er wird nie wieder kommen und mich halten, seine Arme um mich schließen, seine Blicke über mich fahren lassen, meine Lippen küssen, mir ins Ohr flüstern... Eine neue Woge des Schmerzes fegte über mich hinweg, riss mir die Haut vom Leibe und ließ mich schreien, schreien, sodass all jenen, die mich hörten, die Ohren platzten. Tausend Lanzen durchstießen meinen Körper, Gift ätzte mein Fleisch hinfort und Krallen schnitten den Rest von mir in immer kleinere Stücke.


Es fühlte sich an, als würde sich all die Trauer, all die Wut auf mich selbst, die sich über so viele Jahre angestaut hat, genau in diesem Moment entladen. Ganze Ozeane strömten aus meinen Augen und stürzten wie tosende Wasserfälle meine Wangen hinunter. Sie drohten mich zu ertränken, mich meiner Luft zum Atmen zu berauben. Doch das war mir egal... Es war mir alles egal...


Ich wollte nur eines... Ein kleiner Wunsch, der so einfach war... Aber ich wusste, dass ihn niemand mir jemals erfüllen könnte... Stattdessen stach der Gedanke an diesen Wusch mir einen Dolch zwischen die Rippen...
Alles was ich will, alles was ich jemals will, ist doch nur, dass Kilian, dass mein Kilian zurück kommt, mich in seine Arme nimmt, mich an seine Brust drückt und mir ins Ohr flüstert, dass doch alles wieder gut werden würde... 


Und erneut brachen ungehaltene Tränen aus mir heraus...

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