Back to Life

By _time_to_fly_

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*** WATTYS 2018 GEWINNER *** Nachdem Betty den Kampf gegen den Krebs verloren hat, hinterlässt sie nichts als... More

Prolog
1. Brief
Challenge Nr. 1
1. Antwort
2. Brief
Challengen Nr. 2
2. Antwort
3. Brief
Challenge Nr. 3
3. Antwort
4. Brief
Challenge Nr. 4
4. Antwort
5. Brief
Challenge Nr. 5
5. Antwort
6. Brief
Challenge Nr. 6
6. Antwort
7. Brief
Challenge Nr. 7
7. Antwort
8. Brief
Challenge Nr. 8
8. Antwort
9. Brief
Challenge Nr. 9
9. Antwort
10. Brief
Challenge Nr. 10
10. Antwort
11. Brief
Challenge Nr. 11
11. Antwort
12. Brief
12. Antwort
Epilog
Danksagung

Challenge Nr. 12

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By _time_to_fly_





Februar. Ihr Todestag.

Ich stehe am Grab. Meine zittrigen Hände halten ihren Brief fest - ihren letzten Brief. Die Sonne versucht sich zwischen den dicken Wolkendecken hindurchzudrücken. Es gelingt ihr eher spärlich. Der letzte Schnee schmilzt. Es ist nicht wirklich kalt, nicht im Vergleich zu den letzten Tagen. Ich friere dennoch. Schlucke, als ich zum wiederholten Male die Worte meiner bester Freundin lese. Immer wieder muss ich innehalten. Die Tränen zur Seite blinzeln. Mir ist schlecht. Ich glaube ich habe nach wie vor nicht so richtig realisiert, dass das hier wirklich der letzte Brief sein wird. Der letzte Brief den ich hier auf dieser Erde von meine besten Freundin erhalten werde.

Sie schreibt über Neuanfänge. Es ist absurd, gerade an diesem Tag davon zu lesen, an dem ich nichts lieber tun würde, als für immer in der Vergangenheit zu bleiben und nie wieder aufzutauchen.

Ich vermisse sie.

Ich vermisse ihr Lachen, ich kann mich selbst nach einem Jahr noch so gut daran erinnern. An die fröhlichen Laute, die tief aus ihrem Herzen ihren Mund verlassen. Manchmal die Schweinchengeräusche, die sich dazwischen mischen, wenn sie so sehr die Kotrolle verliert, dass sie sich schließlich, den Bauch haltend auf dem Boden wälzt.

Ich vermisse ihre Ausgelassenheit mehr als wohl jemals zuvor. Ihre spontanen Aktionen, ihre verrückten Ideen, ihr nicht vorhandenes Denken. Einfach machen, leben, ohne Angst und Sorge was jegliche Folgen beträfe.

Ich vermisse unsere Gemeinschaft. Ich vermisse das was wir tag täglich geteilt haben. Jegliche Gefühle, alle Erlebnisse, fröhliche und weniger fröhliche Momente.

Ja, ich vermisse sogar die traurigen Momente. Die Momente einer schlechten Diagnose. Momente der Tränen und des "Nicht mehr weiter Wissens". 

Ich vermisse alles.

Ganz besonders unsere Liebe zu Gott. Unsere gemeinsame Gebete, Gespräche mit und über unseren König. 

Ich vermisse das ermutigen im Glauben, das gegenseitige pushen, Gaben entdecken, in Jesus verbunden zu sein.

Ich vermisse es so sehr.

Ich fühle mich leer und ausgelaugt. In diesem Moment scheinen tatsächlich jegliche Fortschritte der letzten Monate ohne Bedeutung. Es ist als wäre sie erst gestern von uns gegangen.

Mein Blick schweift zurück zu der Tinte auf dem Papier. Meine Hände zittern so sehr dass es mir schwer fällt überhaupt zu lesen. Meine Tränen tropfen auf die sowieso schon krakelige Schrift. ich kann mich nicht konzentrieren. 

Neuanfänge.

In mir wehrt sich alles dagegen.

Ich will nicht neu anfangen. Ich will nicht dass diese Briefe aufhören, ich will nicht an all das denken was vor mir liegt und über was ich einfach absolut keine Macht habe.

Ich will mich festhalten an all dem Vergangenen und gleichzeitig wird mir schmerzlich bewusst, dass heute nicht nur ihr Todestag ist. Heute halte ich nach einem ganze Jahr nicht einfach nur ihren letzten Brief in der Hand, nein heute erscheint tatsächlich auch mein erstes Buch, meine erste CD, meine Poetry Slams gehen auf den Markt.

Meine Gedanken werden ab heute für alle möglichen Menschen zugänglich sein. Es sind keine intimen, persönlichen Texte mehr, die lediglich Betty lesen darf, nein es sind Texte, die sogar vertont wurden, ein ganzes Buch, eine CD für die man Geld ausgeben kann, um damit an meinen Gedanken teilzunehmen und diese Gedanken vielleicht sogar auf sein eigenes Leben anzuwenden.

Es macht mir Angst, es ist so absolut unrealistisch und gleichzeitig freue ich mich. Ich freue mich so sehr und ich kann nicht anders als zu lächeln, wenn ich daran denke, dass heute wirklich der Tag gekommen ist, dem ich mich schon so lange entgegensehen und der gleichzeitig voller Sorge und Ungewissheit ist.

Wenn Betty nur wüsste.

Wenn meine beste Freundin nur den blassesten Schimmer hätte was für Neuanfänge momentan wirklich vor meiner Türe stehen. 

Wenn sie nur die geringste Ahnung hätte was heute für ein Tag ist.

Ihr Todestag und der Tag der Veröffentlichung meines Buches.

Tiefe Trauer, absolute Freude und schreckliche Ungewissheit gleichzeitig.

Ein ganz schön großes emotionales Chaos auf jeden Fall.

Wenn sie nur annähernd wissen würde wie es mir in diesem Moment geht.

Vielleicht weiß sie es ja.

Vielleicht weiß sie wie durcheinander und zerrissen ich bin. Wie meine Gefühle innerhalb weniger Millisekunden wechseln. Wie dieser Tag ein einziges Auf und Ab ist. Wie anstrengen es ist und wie ich schon zu dieser Tageszeit absolut müde und geschafft bin, verwirrt sowieso.

Ich schaue auf meine Armbanduhr. Stelle erschreckend fest wie lange dieser Tag noch sein wird.

Es ist gerade einmal 8.00 Uhr morgens und ich habe heute schon so viel geweint, dass ich eigentlich komplett ausgetrocknet sein müsste. Zum Mittagessen bin ich mit meiner Oma verabredet, heute Abend ist ein Essen mit Uta, Anayo und Philipp angesetzt, zu Feier der Veröffentlichung.

Allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht. Am liebsten würde ich mich heute in meinem Zimmer vergraben, weinen und schreiben. Genauso wie ich es vor einem Jahr gemacht habe, als  ich von Bettys Tod erfahren habe, genauso wie ich es die ganzen ersten Monate gemacht hatte. Mich verschanzt hinter meinen eigenen Mauern, bloß nicht heraus kommen. Und tja dann trat Philipp in mein Leben und Milena gleich mit. Anayo und Uta ebenfalls und irgendwie hat sich alles so schnell verändert und ich bin dankbar dafür, aber nicht heute, heute will ich nichts damit zu tun haben. Ich weiß nicht ob ich an diesem Tag die Kraft habe mich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen.

Aber was muss das muss, vor allem wenn man laut Uta ab jetzt in der Öffentlichkeit stünde (etwas übertrieben meiner Meinung nach), dennoch mag ich das junge Ehepaar total und ich verbringe gerne Zeit mit ihnen.

Trotz alledem wird mir ganz komisch, wenn ich daran denke. Wenn ich daran denke, dass ich mich heute Abend gleichzeitig auch noch mit Philipp auseinandersetzten muss. Ein weiterer Neuanfang oder auch nicht Neuanfang. Eine Beziehung, vielleicht auch nur Freundschaft. Was ist das überhaupt zwischen uns? Die letzten Wochen bin ich ihm größtenteils aus dem Weg gegangen, jedenfalls habe ich es gekonnt vermieden Zeit mit ihm allein zu verbringen. Meist war Milena dabei. Wir waren gemeinsam im Zoo oder Kino oder haben einfach nur ellenlange Spieleabende gemacht. Doch sobald Milena schlafen gehen musste oder wir nach Hause gekommen sind, habe ich mich beeilt schnellst möglichst abzuhauen. Ich verdrängte die Tatsache gekonnt, dass wir wohl irgendwann reden mussten. So richtig versucht hatte aber auch er es noch nicht, jedenfalls nicht ganz so offensichtlich, vielleicht ist das auch schwer ohne Sprache - keine Ahnung.

Ich lese noch einmal Bettys Brief. Ein paar Tränen kann ich mir natürlich selbst nach dem 10. Mal Lesen nicht verdrücken, gut dass ich an diesem frühen Morgen allein hier bin.

Anschließend schlendere ich über den Friedhof, bete ein wenig, kann mich nicht konzentrieren und lege mich schließlich wieder in mein Bett und weine mich in einen unruhigen Schaf, nur so lange bis mich meine Oma weckt, um zu fragen, ob wir gemeinsam kochen wollen. 

Der Tag vergeht schneller als gedacht. Als ich mich schließlich für unser Abendessen richte, versuche ich meine Augenringe etwas zu überschminken, was mir allerdings eher schlecht als recht gelingt und gebe mich letztendlich mit etwas Wimperntusche zufrieden.

Uta begrüßt mich mit einer herzlichen Umarmung, als ich ihr die Türe öffne. Gemeinsam mit ihrem Mann fahren wir zu einem schicken, kleinen asiatischen Restaurant. Ich liebe asiatisches Essen, dennoch habe ich heute keinen Hunger. Ich will nicht essen, ich will zurück in mein Zimmer, in meine eigenen Gedanken.

Doch so geht das nicht. Heute ist ein Tag der Neuanfänge und dazu gehört auch dieses Treffen. Ich reiße mich zusammen, bin ganz begeistert als Anayo mir mein eigenes, erstes Buch unter die Nase hält. Er lächelt. 

"Es gehört dir!"

Ich kann es gar nicht glauben, ich bin ganz aufgeregt, natürlich habe ich die fertige Ausgabe schon einmal in den Händen gehalten, um zu überprüfen, ob alles passt und ob ich zufrieden bin, aber nun ist es tatsächlich geschafft. Es ist beendet und es gehört mir und in naher Zukunft werde ich nicht mehr die Einzige sein, die dieses Buch in den Händen hält, die es liest und in ihrem Bücherregal stehen hat, es wird bei vielen anderen genauso sein.

Das Ganze macht mich etwas sentimental. Ich lächle und weine zur selben Zeit, irgendetwas dazwischen. Uta ist absolut euphorisch und will mit dem trockenen Rotwein, den wir zur Feier des Tages geöffnet haben, immer und immer wieder anstoßen. Anayo versucht alles um sie daran zu hindern.

"Du weißt ganz genau, dass du Alkohol nicht allzu gut verträgst.", warnt er seine Frau liebevoll.

Diese winkt nur lachend ab. 

"Heute ist ein ganz besonderer Tag, heute ist das kein Problem."

Als wäre sie an diesem anscheinend so besonderen Tag weniger anfällig für den Alkohol. 

Wir unterhalten uns über alle möglichen Dinge, Philipp wird inzwischen im Lippenlesen immer besser und versteht praktisch jeden Witz. Möglicherweise haben wir uns inzwischen einfach auch daran gewöhnt langsam und deutlich zu sprechen und ihn dabei anzusehen. Die Zeit vergeht vorbei wie im Fluge und ich denke kaum an Bettys Tod. Stattdessen bin ich ausgelassen und entspannt und fühle mich einfach wohl in der Gegenwart dieser drei ganz besonderen Menschen, die mich inzwischen erschreckend gut kennen.

Doch irgendwann neigt sich auch diese kleine Feier dem Ende zu. Die Teller sind leer, der Wein ausgetrunken und Uta redet inzwischen ohne Strich und Komme teilweise etwas sehr zusammenhangsloses Zeug. Anayo beschließt, vernünftig wie er ist, dass es nun Zeit ist nach Hause zu gehen, dass wir jungen Leute, aber gerne noch ein wenig bleiben können. Er würde uns Geld dalassen, ein Eis zum Nachtisch hätte noch niemandem geschadet.

Ich springe auf. Wehre sofort eifrig ab. Erzähle irgendetwas von wegen ich sei müde, der Tag wäre lange gewesen und ich müsse dringend schlafen gehen. Anayo hört mir völlig entspannt zu, bezahlt unser Essen dann bei einer jungen Kellnerin und bestellt gleich zwei Eisschokoladen für uns beide. Er weiß genau wie sehr wir diese Zeug lieben, selbst wenn es eigentlich noch Winter ist. Ehe ich mich noch einmal verteidigen kann, ist das junge Ehepaar auch schon verschwunden.

Ich stöhne auf, drehe mich einmal um mich selbst, bevor ich mich wiederwillig wieder auf meinen Stuhl fallen lasse.

"Na super", sage ich leicht genervt. Manchmal ist es vielleicht echt gut, dass Philipp lediglich meine Mimik, nicht aber meine Tonlage deuten kann. Wie in Zeitlupe zieht er die Schultern einmal nach oben und lässt sie dann wieder fallen. 

"Ich brauche dich nicht zum Eis essen, die zwei Eisbecher kann ich auch allein leeren."

Ich bin immer wider überrascht über sein Reden. Es ist erschreckend wie normal sich seine Worte inzwischen anhören. Manchmal habe ich mich schon gefragt ob er nur vorgibt nicht hören zu können und stattdessen jegliche angepisste Tonlage meinerseits genauestens interpretieren kann. Zugegebenermaßen, dreht mein Gehirn mit meinen sehr weit hergeholten Gedanken manchmal etwas durch.

Vermutlich habe ich den Zeitpunkt zum Antworten irgendwie verpasst, jedenfalls steht Philipp auf und streift sich seine Jacke über. 

"Dann gehe ich wohl mal nach Hause und sage der Kellnerin, dass wir das Eis doch nicht wollen."

Ich schlucke. Als er an mir vorbei gehen will, halte ich ihn am Arm fest.

"Warte, ich dachte du würdest die beiden Eisbecher auch allein essen."

Als er sich zu mir umdreht und mich kalt mustert, muss ich meine Worte noch einmal wiederholen, er kann ja schließlich schlecht Lippenlesen, wenn er mir den Rücken zuwendet. Vielleicht ist es manchmal ganz gut, dass er mich anschauen muss, um mich überhaupt zu verstehen, ich bin mir sicher, dass er nach meinem nicht allzu klugen Argument sonst einfach gegangen wäre.

"Würde ich ja, aber ich habe keinen Bock mir von deiner schlechten Laune den Abend verderben zu lassen."

Seine Worte sind kalt und abwesend, während er sich erneut umdreht und auf gar keine Antwort mehr zu warten scheint. Er reißt sich von mir los und geht in Richtung Ausgang. 

Ich springe auf, hechte ihm hinterher und wäre beinahe über meine eigenen Beine gestolpert. Ich glaube so richtig verstanden, was in diesem Moment eigentlich passiert, habe ich noch nicht.

"Vielleicht will ich ja doch mit dir ein Eis essen und bin gar nicht so müde.", rufe ich ihm hinterher und hasse zum ersten Mal die Tatsache, dass er taub ist und mich nicht hören kann. Seine Schritte werden immer schneller. Leichte Schneeflocken fallen vom Himmel, als wir draußen angekommen sind. Ich beginne zu sprinten, um ihn einzuholen und stelle mich mit verschränkten Armen vor ihn.

"Höre auf dich so kindisch zu benehmen.", blaffe ich ihn an.

Er bleibt stehen, verschränkt ebenfalls seine Arme vor der Brust. 

"Wer benimmt sich hier kindisch?"

Auch er scheint wütend, auf jeden Fall klingen seine Worte längst nicht mehr ganz so entspannt.

"Ist ja schon gut, von mir aus können wir gemeinsam Eis essen."

Er schüttelt den Kopf. Sein Blick trifft genau auf meinen. Irgendetwas in seinen Augen verändert sich, es scheint als wäre er nicht mehr zornig, eher traurig, seine folgenden Worte treffen mich mitten ins Herz.

"Es ist okay, du brauchst nicht so tun, als würdest du mich mögen und gehst mir dennoch ständig aus dem Weg. Wenn es immer noch wegen der Sache zwischen Betty und mir ist oder wegen was auch immer, dann sage mir einfach ins Gesicht, dass du mich hasst und dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Aber tue nicht ständig so scheinheilig als wären wir Freunde, nur weil du immer zu allen nett sein willst."

Ich starre ihn an. Tränen bilden sich in meinen Augen. Selbst wenn ich nicht wirklich friere beginne ich plötzlich zu zittern wie Espenlaub. 

"Sind wir denn Freunde?", flüstere ich.

Er wendet seinen Blick ab. "Nach all dem was wir erlebt haben, glaube ich nicht, dass sich Freunde so verhalten."

Und damit dreht er sich um und geht und ich bleibe einfach stehen und beginne hemmungslos zu weinen und alles bricht über mich hinein.

Ich hatte ihn verletzt, all die letzten Wochen in denen ich ihm aus dem Weg gegangen bin. Auf seine ernstgemeinten Fragen hatte ich stets nur mit oberflächlichen Antworten geantwortet. Anstatt ihn nach seinem Befinden zu fragen hatte ich lieber mit Milena geredet. Gekonnt bin ich jedem Blickkontakt ausgewichen. Hat er mir zugelächelt habe ich mich abgewandt, wen wir nebeneinander saßen, bin ich extra ein Stückchen zur Seite gerutscht, nur um einen möglichst großen Abstand zwischen uns zu bringen.

Und warum das alles? Warum nur hatte ich so dämlich verhalten?

Weil ich egoistisch war. Weil ich nur auf mich selbst geachtet hatte. Auf das Durcheinander in meinem Herzen, ich habe versucht alle Gefühle die ich für Philipp empfinde zu verdrängen und wollte mir gleichzeitig nicht eingestehen, dass ich vielleicht einfach mal mit ihm reden müsste. Über das was in meinem Inneren so abgeht, darüber, dass ich mir Gedanken mache ob das was ich für diesen Jungen empfinde tatsächlich Liebe ist und darüber, dass ich momentan vielleicht einfach einmal mein eigenes Leben auf die Reihe bekommen sollte. 

Freunde redeten miteinander auch wenn es schwierig war. Und ja Freunde hatten auch miteinander zu reden, wenn sie vielleicht Gefühle füreinander hatten. Reden hätte unsere Freundschaft vielleicht auf die Probe gestellt, schließlich ist diese ganze Sache mit der Liebe schon ziemlich kompliziert, aber immerhin hätten wir dann gewusst was der andere denkt oder eben auch nicht. Stattdessen hatte ich es geschafft mit meinem egoistischen Verhalten unsere Freundschaft ganz zu zerstören. Philipp war nun davon überzeugt ich würde ihn hassen und ich war mir nach wie vor weder im Klaren was meine Gefühle gegenüber ihm betrafen und andersherum genauso.

In diesem Moment wird mir so einiges bewusst. Besonders bewusst wird mir vor allem, dass ich vielleicht nicht weiß was richtig ist, dass ich keine Ahnung habe, ob es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll ist mit Philipp eine Beziehung einzugehen oder ob ich nicht doch lieber erst einmal an meiner Beziehung zu Jesus arbeiten sollte, aber über was ich mir vollkommen im Klaren bin ist, dass ich diesen Jungen mit den ausdrucksstarken braunen Augen keinesfalls hasse, eigentlich ist er mir demgegenüber sogar ziemlich wichtig und deshalb muss ich nun die Initiative ergreifen und wenigstens versuchen unsere Freundschaft zu retten.

Ich setzte mich in Bewegung noch ehe ich meinen Gedankengang zu Ende gedacht habe. Ich laufe zurück zum Restaurant, hole mir dort meine Jacke und sage der Kellnerin Bescheid, dass wir zum Eis essen nicht wieder auftauchen würden. Dann jogge ich durch die leeren, dunklen Straßen in Richtung Philipps Haus. Es ist spät und er wohnt in der Nähe und ich habe keine andere Erklärung als die, dass er nach Hause gegangen sein muss.

Vielleicht betätige ich etwas zu energisch den Klingelknopf, habe ein wenig Panik, dass er nicht öffnet, tut er auch nicht, stattdessen steht seine kleine Schwester im Türrahmen. Sie trägt ein Nachthemd, sieht ziemlich verschlafen und irgendwie traurig aus.

"Oh Gott", ich beuge mich zu ihr hinunter, "habe ich dich geweckt?"

Sie schüttelt den Kopf. "Philipp hat gerade schon geklingelt, er hat seinen Schlüssel vergessen und hat geweint. Was hast du mit ihm gemacht?"

"Ich..." 

Im ersten Moment will ich abstreiten, dass ich an dieser Situation Schuld war, aber leider hatte Milena recht und ich will sie nicht anlügen.

"Ich war böse zu ihm.", versuche ich ihr mit zitternder Stimme zu erklären.

"Magst du ihn?"

Ich lächle leicht.

"Natürlich tue ich das, sehr sogar."

"Wie sehr?", bohrt sie weiter. Ich habe keine Ahnung wo uns dieses Gespräch noch hinbringen soll, Milena sollte eigentlich längst wieder im Bett sein und außerdem steht die Wohnungstüre noch offen. Ich schließe sie langsam und verhindere damit, dass noch mehr kalte Luft in die warme Wohnung strömt.

"Ich habe dir eine Frage gestellt. Wie sehr magst du ihn?"

Sie lässt nicht locker. Ich schlucke und hebe entschuldigend die Arme.

"Sehr eben - keine Ahnung."

"Also er mag dich mehr als sehr.", gibt sie zur Antwort, dieses Mal formt sie die Worte gleichzeitig in Gebärdensprache.

Meine Stimme ist nicht mehr als ein Hauchen, als ich mich traue zu fragen:

"Was heißt mehr als sehr?"

Als Milena auch meine Worte in Gebärdensprache übersetzt werde ich stutzig. Erschrocken drehe ich mich um und da steht er. Verloren mitten im Hausflur. Vermutlich hat er uns schon die ganze Zeit beobachtet und Milena hatte ihm zumindest den letzten Teil unserer Unterhaltung übersetzt. Immerhin konnte er aus seiner Position schlecht meine Lippen lesen. Seine Augen sind rot und ganz glasig. Ich bin mir dessen völlig bewusst, dass er geweint hat und es tut  mir unglaublich leid.

Ich starre ihn einfach nur an, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Stattdessen ergreift er die Initiative.

"Du magst mich also?"

Ich nicke sofort.

"Das ist gut, ich mag dich nämlich auch, sehr sogar, ich..."

Er schluckt.

"Ich habe mich in dich verliebt Leica."

Er mag mich.

Er hat sich in mich verliebt.

Plötzlich hüpft Milena wie wild durch die Gegend und ich habe gar keine Zeit so richtig zu verarbeiten, was er da gesagt hatte. 

Sie singt und jubelt und ich verstehe ihr Verhalten im ersten Augenblick so überhaupt nicht.

"Supi, dupi, ach ich freu mich so. Philipp jetzt seit ihr ein Paar und wir könne jeden Tag Ausflüge miteinander machen und jetzt müsst ihr euch küssen, dass macht man doch so."

Sie hüpft einfach weiter und freut sich und wiederholt ihren Satz immer wieder und Philipp schaut mich an und ich schaue mir Milena an, wie sie hüpft und so ausgelassen ist und vermutlich noch so gar keine Ahnung von Liebe und verliebt Sein und Freundschaft hat. Sie ist unschuldig und doch liebt sie Jesus und sie liebt ihren Bruder und irgendwie weiß sie ja auch, dass Philipp wegen mir traurig war und eben auch wegen mir wieder glücklich sein konnte.

Milena ist noch ein unschuldiges Kind und selbst wenn ich schon deutlich älter bin, als ein Kind, so weiß ich doch, dass ich vor Gott noch ein Kind bin. Ein kleines, unschuldiges Kind, das keine Ahnung vom Leben hat und das noch so viel lernen muss. Und es gibt Zeiten im Leben und für manches gibt es Neuanfänge und für anderes eben nicht. Mein Neuanfang besteht in dem Buch, das heute veröffentlicht wurde und mein Neuanfang besteht in einem Leben außerhalb meiner Gedanken, in dem ich noch so viel von Gott lernen und können will und in diesem Augenblick wird mir bewusst. Mein Neuanfang besteht zu diesem Zeitpunkt so schmerzlich es auch sein mag eben nicht aus einer Beziehung, weil ich vor Gott war, wie Milena vor uns und in diesem Stadium war es nicht dran eine Liebesbeziehung zu führen.

Ich schlucke schwer.

Tränen bilden sich in meinen Augen, während ich Philipps Blick begegne, der sich in diesem Moment vermutlich nichts sehnlicheres wünscht, als dass ich auf ihn zulaufe, ihn umarme und ihm sage, dass ich mich ebenfalls in ihn verliebt habe.

Stattdessen gehe ich zwei langsame Schritte auf ihn zu, zwei weitere Schritte vermutlich back to life, ich weiß es nicht genau, schlucke den Klos in meinem Hals hinunter, schaue in seine wunderschönen Augen, ergreife mit meiner zitternden Hand seine und flüstere ohne Stimme:

"Können wir reden?"





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