Back to Life

By _time_to_fly_

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*** WATTYS 2018 GEWINNER *** Nachdem Betty den Kampf gegen den Krebs verloren hat, hinterlässt sie nichts als... More

Prolog
1. Brief
Challenge Nr. 1
1. Antwort
2. Brief
Challengen Nr. 2
2. Antwort
3. Brief
Challenge Nr. 3
3. Antwort
4. Brief
Challenge Nr. 4
4. Antwort
5. Brief
Challenge Nr. 5
5. Antwort
6. Brief
Challenge Nr. 6
6. Antwort
7. Brief
Challenge Nr. 7
7. Antwort
8. Brief
Challenge Nr. 8
8. Antwort
9. Brief
9. Antwort
10. Brief
Challenge Nr. 10
10. Antwort
11. Brief
Challenge Nr. 11
11. Antwort
12. Brief
Challenge Nr. 12
12. Antwort
Epilog
Danksagung

Challenge Nr. 9

38 11 3
By _time_to_fly_





Ich hänge an meinem Handy, habe Kopfschmerzen, Durst und kann mich definitiv schon längst nicht mehr konzentrieren.

Dennoch komme ich hier her. Woche für Woche. Genieße die Zeit, obwohl ich gegen Ende wirklich jedes Mal beinahe einschlafe. Lerne eine neue Sprache - Gebärdensprache.

Warum ich hier bin? Immer und immer wieder? Ich weiß es nicht genau, ich habe wirklich keine Ahnung. Weil es Spaß macht - irgendwie? Weil ich Betty damit einfach einen Gefallen tun will? Weil es für Philipp ist und ich es nach wie vor nicht schaffe diesen Idioten aus meinem Herzen oder gar aus meinen Gedanken zu verbannen? Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Ich scrolle wahllos durch irgendwelche Instagramprofile, bleibe nirgends wirklich hängen. Es interessiert mich nicht, ich beginne mich nur sofort wieder aufzuregen. Über die viel zu dünnen Models, abgemagerten Mädchen, den Photoshop und all das sonstige, weltliche und bescheuerte Zeug was eben so über social media verbreitet wird.

Gerade als ich mein wertes, mir unglaublich zeitraubendes Ding endlich weg packen will, um mich wenigstens noch für die letzten 10 Minuten zu konzentrieren, leuchtet mein Bildschirm auf. Ich erhalte eine Mail, einer mir höchst unbekannten Adresse. Die Nachricht dahinter ist aber doch mehr als interessant.


Hallo Frau Sturm,

herzlichen Dank für die Einsendung Ihres Manuskriptes. Ihre Poetry Slams haben uns auf eine ganz besondere Art und Weise mitgenommen, angeregt und begeistert. Gerne würden wir Ihre Texte deshalb nicht nur veröffentlichen, sondern sie zusätzlich aufnehmen und eine CD herausbringen. Spannend fänden wir es, die Stimme der eigentlichen Autorin dort zu vertonen, nämlich Ihre. Wäre es Ihnen möglich am kommenden Samstag (18. November) um 11.00 Uhr zu uns ins Studio zu kommen, damit wir sie besser kennenlernen und bei beidseitigem Interesse erste Aufnahmen starten könnten?

Bei Rückfragen dürfen sie sich gerne bei uns melden.

Mit freundlichen Grüßen. Wir freuen uns.

Ihr Verlagsteam (Uta Krause)


Ich lese die E-Mail, wieder und wieder. Starre auf die Linien, Worte und Buchstaben, nehme zu Beginn nicht wirklich ernst was da steht. Die heutige Unterrichtsstunde endet. Ich lasse mein Handy in meine Tasche gleiten. Verabschiede mich mittels Gebärdensprache. Mache mich auf dem Weg nach Hause. Erst im Bus erinnere ich mich wieder an die Mail. Hole das Handy hervor und lese erneut Zeile um Zeile, während ich immer wieder nach draußen schaue, um das kühle, bunte Herbstwetter zu bestaunen.

Meine Hände zittern. Ich kann nicht glauben, dass Philipp meine Texte geschickt hat, obwohl wir uns gestritten und seit Wochen keinen Kontakt mehr hatten. Damit hatte ich nicht gerechnet, auf gar keinen Fall, noch weniger vielleicht, als mit dieser Antwort hier. Ich hatte es geschafft, sie würden es tatsächlich veröffentlichen. Meine Texte, meine Slams, in einem Buch, das man früher oder später in jeder Buchhandlung kaufen konnte. Meine CD... Moment...

Noch einmal lese ich was da geschrieben steht. Sie wollen sie aufnehmen, die Texte. Sie wollen meine Stimme aufnehmen, sie wollen eine CD daraus machen. Ich erstarre und verpasse beinahe meine Bushaltestelle. Hetzte außer Atem nach draußen. Die Kälte umfängt mich. Ich schließe den Reisverschluss meiner Jacke und ziehe die Schultern nach oben. Irgendwie muss das Frieren doch aufhören. 

Zurück in meinem warme Zimmer setzte ich mich auf meine Fensterbank. Starre nach draußen. Der Wind bewegt die bunten Blätter. Es ist dunkel, beinahe mystisch, ich schlucke.

Ich kann nicht sprechen. Seit dem Streit mit Philipp sowieso nicht mehr. Manchmal frage ich mich, es je gekonnt zu haben. Es fühlt sich nicht so an, es ist als hätte ich noch nie mit Hilfe meiner Stimme am Geschehen dieser Welt teilgenommen. Vielleicht nehme ich auch allgemein nicht daran teil. Am Geschehen dieser Welt.

Meine Augen füllen sich mit Tränen. Gleichzeitig drücke ich auf antworten und beginne zu schreiben, ohne es wirklich zu realisieren. So gerne will ich mitwirken, am Geschehen dieser Welt, noch viel mehr am Reich Gottes bauen. Ich kann reden, ich muss es können und wenn nicht, kann es Gott durch mich.

Meine Finger gleiten über die Tasten, es ist als hätten sie mein Leben lang nichts anderes getan. Als wäre das Alles das Normalste auf der Welt. Ich empfinde keine Freude oder Aufregung, nicht einmal Schmerz. Da ist einfach nichts. Nur die Buchstaben, die ich zu Worten und Sätzen forme und auf abschicken klicke ohne noch einmal darüber gelesen zu haben, geschweige denn, einen Gedanken daran verschwendet zu haben, was ich hier gerade tue. Was diese Nachricht bezwecken konnte. Für meine Zukunft, mein Sein, mein Sprechen und mein Schweigen.


Sehr geehrtes Verlagsteam,

ich freue mich sehr über Ihr Interesse. Gerne komme ich am Samstag zu Ihnen ins Studio und bin schon sehr gespannt, wie sich das Ganze noch entwickeln wird.

Mit freundlichen Grüßen

Leica Sturm


Ich kapiere es erst Stunden später, wieder auf der kalte Fensterbank meines sonst eigentlich relativ warmen Zimmers. Dennoch sitze ich dort umhüllt von einer dicken Decke. Vielleicht ist es mir nicht wirklich kalt, nicht von außen, aber das was da am Samstag auf mich zukommen wird, lässt mich vor Angst erschaudern, beinahe erstarren, einfach eingefrieren. Nicht einmal weinen kann ich, weil die Tränen irgendwie nicht fließen wollen und dennoch ganz fies in den Augenwinkeln brennen.

Ich schlucke ohne Spucke. Mein Hals ist trocken und tut weh. Ich versuche zu reden, irgendwie, muss es ja üben, doch kein Ton verlässt meine Lippen. Reflexartig laufe ich zu meinem Nachttisch, öffne die Schublade, nur um dann erschrocken festzustellen, dass all meine dort stets wohl behüteten Texte verschwunden sind. Natürlich, Philipp hat sie mitgenommen, um sie abzutippen und an einen Verlag zu schicken. Damit sie vielleicht ein Buch mit meinen Slams veröffentlichen, aber doch keine CD, bitte keine CD. Nicht mit meiner Stimme, die doch eigentlich gar nicht vorhanden ist.

Was ist wenn ich es nicht schaffe? Wenn ich schließlich in diesem Tonstudio stehe und kein Wort meine Lippen verlässt, kein einziger Ton. Wenn die Situation nicht peinlicher sein könnte und die Verleger erkennen müssen, dass ich unfähig bin, stumm, es nicht auf die Reihe bekommen. Wenn sie mich rauswerfen und diese große Möglichkeit Gottes Wort zu verbreiten einfach so flöten geht. Wegen meiner Stimme, meiner nicht vorhandenen Stimme.

Das kann nicht sein und das darf nicht sein. Es ist die Möglichkeit, vielleicht ein Traum, den ich mich nie getraut habe zu träumen. Es ist ein Wunder, dass ausgerechnet ich es geschafft habe, mein Buch, meine Worte, meine Texte. Gott ist es, der mich so weit gebracht hat, von einem Moment auf den anderen, er muss doch einen Plan haben, das Ganze kann doch nicht einfach so ins Leere verlaufen nicht wahr?

Ich straffe meine Schultern, als ich exakt 5 Tage später vor der großen Eingangstüre des Tonstudios stehe. Meine Knie zittern etwas, dennoch habe ich das Ganze erstaunlich gut unter Kotrolle. Es liegt nicht in meiner Hand, es liegt in seiner.

Zaghaft öffne ich die Türe. Eine angenehme Wärme umfängt mich, ich friere trotzdem. Der Gang ist breit und hell, der Holzboden knarzt unter meinen schweren und viel zu langsamen Schritten. Alle zwei Meter bleibe ich stehen und schaue verzweifelt nach oben. Fühle mich so überhaupt nicht behütet und beschützt. Ich habe Angst, ich habe eine furchtbare Angst.

Von irgendwo weit hinten höre ich Schritte, die mir immer näher kommen. Schnelle Schritte, laute Schritte, ich ordne das nervtötende Klappern High Heels zu. Es ist wie in der Schule, bevor die Lehrerin ins Klassenzimmer stolziert kommt und alle genervt aufstöhnen. Die Sekunden verrinnen, als wären es Stunden, die Erde dreht sich einfach ungestört weiter, ohne bemerkt zu werden.

Eine große, schlanke Frau kommt auf mich zu, vielleicht ist sie auch nur wegen ihren Schuhen mit den centimeterhohen Absätzen so groß. Sie wirkt jung, ich schätze sie auf Anfang dreißig. Ihre braunen Wellen sind zu einem straffen Pferdeschwanz nach Hinten gebunden. Sie trägt eine enge Jeans und eine weiße, in den Bund gesteckte Bluse.

"Hey, du bist Leica, nicht wahr?", auffordernd streckt sie mir die Hand entgegen. Ich verstehe einen Moment zu spät, bin verwundert, dass sie mich mit dem Vornamen anspricht, reagiere dann aber doch. Ihr Händetruck ist fest, passend zu ihrem selbstsichren und gekonnt professionellem Auftreten. 

"Mein Name ist Uta. Uta Krause. Freut mich dich kennenzulernen. Wenn du mir folgen würdest."

Ihrer undefinierbaren Handbewegung leiste ich sofort folge, froh darüber nichts sprechen zu müssen. Ihre Schritte sind energisch und um einiges zu schnell. Ich hetzte ihr hinterher. 

"Unser Tonstudio ist ganz hinten, die vielen Türen hier, das sind die Büros unserer Mitarbeiter. Die meisten haben heute jedoch frei. Sie sind alle durchaus total nett, du wirst sie mögen. Ich weiß nicht, wie viel du über unseren Verlag weißt, aber..."

Ich schalte irgendwann ab, während ich versuche mit ihr Schritt zu halten und sie mir fleißig und binnen Sekunden sämtliche Zahlen um den Kopf wirft. Neuerscheinungen pro Jahr, Mitarbeiter, Vollzeit, Halbzeit, Anzahl der Lektoren, der Illustratoren und so weiter, so ganz schaffe ich es nicht ihr zu folgen.

"Herzlich willkommen in unserem kleinen Reich." Sie stößt eine Türe auf, hinter der sich ein vollgestopfter Regieraum befindet. Tausende Knöpfe, Computer, Mischpulte, Tonbandmaschienen, Effektgeräte und sonstige Dinge stehen hier, die ich alle nicht richtig zuordnen kann. Hinter einer großen Glasscheibe, darf ich einen ängstlichen Blick ins Aufnahmezimmer wagen. Deutlich größer, längst nicht so vollgestopft und auf dem Boden türmen sich massen an Legos, Männchen und ganzen Bauwerken. Dazwischen sitzen zwei kleine Mädchen, Zwillinge, eineiig, höchstens fünf Jahre alt, gemeinsam mit einem gut aussehenden, breit gebauten und vor allem dunkelhäutigen Mann.

"Das ist Anayo, mein Ehemann und Rilana und Svenja, meine beiden Töchter. Meine kleine Familie ist hier für alle Tonaufnahmen zuständig, die nichts mit Instrumenten, sondern lediglich mit Sprache zu tun haben. Du glaubst garnicht wie dankbar ich hierfür bin, ständig bei der Familie zu sein und dennoch zusammen zu Arbeiten ist ein wahres Geschenk des Himmels. Wir sind jetzt schon über 8 Jahre gemeinsam bei diesem Verlag, Anayo und ich haben uns hier auch kennengelernt und vor 6 Jahren geheiratet. Unsere beiden Töchter sind inzwischen schon vier Jahre alt und wachsen viel zu schnell."

Sie redet zu viel, oh ja sie redet definitiv zu viel. Vielleicht bin ich so etwas auch einfach gar nicht gewöhnt, schließlich haben Philipp und ich nie geredet, sondern nur geschrieben.

"Hallo ihr zwei."

Anayo kommt zu uns. Sein Akzent ist schon nach den ersten wenigen Worten herauszuhören. Sein Händedruck ist ebenfalls fest, seine Ausstrahlung jedoch um einiges ruhiger und konzentrierter.

"Du bist also die wohl berüchtigte Leica, mit den atemberaubenden Poetry Slams. Freut mich dich kennenzulernen." 

Ich nicke. Das Ganze ist mir irgendwie zu viel. Ich bin total steif und schaffe es lediglich meinen Kopf zu bewegen. Dass meine eigentliche Aufgabe heute darin besteht meine selbst geschriebenen Texte aufzunehmen ignoriere ich gekonnt.

"Wie alt bist du denn, wenn ich fragen darf. Du wirst noch sehr jung."

Ich versuche meine Stimmbänder zu aktivieren, wenigstens mein Alter werde ich doch sagen können, doch Uta kommt mir zuvor.

"Leica ist 19 Jahre alt. Ist es nicht faszinierend in diesem Alter schon solche Texte zu verfassen, ich bin mir sicher unser gemeinsames Projekt wird großartig."

Sie zwinkert mir zu. Ich lächle sie vorsichtig an. "Jedenfalls freue ich mich auf eine gemeinsame Zusammenarbeit. Wir beide sind übrigens 32 Jahre alt, falls das von Bedeutung ist."

Zusammenarbeit? Anayo scheint auch zu stutzen. Darüber hatten wir jetzt auch noch nicht geredet.

"Uta, nur mit der Ruhe.", weist er seine Frau liebevoll zurecht, "vielleicht sollten wir der jungen Dame erst einmal ein wenig etwas über unseren Verlag und über die Vorstellungen von unserer Seite aus informieren."

Die aufgeweckte Frau schüttelt energisch den Kopf. "Schon geschehen", meint sie prompt, "Ich habe ihr bereits all unsere Strukturen bis aufs Kleinste erklärt und verdeutlicht."

Nun schüttelt ihr Ehemann lachend den Kopf. Ich stehe einfach nur daneben und beobachte die beiden. Sie scheinen sich tatsächlich perfekt zu ergänzen. 

"Du nimmst das alles zu genau Schatz, lasse uns doch einfach gleich mit den ersten Aufnahmen beginnen, ich will unbedingt einmal einen solchen Slam hören und nicht nur lesen. Es wird magisch sein."

"Es wird definitiv magisch sein." 

Dieses Mal ist es Anayo, der mir lächelnd zuzwinkert. 

"Na dann, lass uns die langweilige Arbeit auf einen späteren Zeitpunkt verschieben und mit dem spaßigen anfangen."

Uta ballt die Hände zu Fäusten und hüpft voller Begeisterung ein paar mal auf und ab. In diesem Moment wirkt sie definitiv nicht, als wäre sie 32, sondern nicht viel älter als ihre beiden Töchter, die sich irgendwie gerade streitend durch den ganzen Aufnahmeraum jagen, hören kann ich davon leider nichts. Der gleiche Gedanke hat wohl auch ihr Ehemann. 

"Uta", er nimmt ihre Hand beschwichtigend in die seine, "schau mal nach unseren zwei Mäuschen, sie haben dich vermisst und brauchen glaube ich gerade einen Streitschlichter."

Gemeinsam schauen wir der jungen Mutter hinterher, wie sie ohne Kommentar verschwindet und sich einfach mitten ins Geschehen wirft. Gemeinsam mit den Mädels jagt sie durch den kompletten Raum. Streitschlichten sieht meiner Meinung nach irgendwie anders aus, aber vielleicht war es ja auch gar kein richtiger Streit, sondern einfach ein nicht zu definierendes Spiel unter Kindern.

Anayo lacht, ich auch. Ich fühle mich wohl, irgendwie. Die entspannte, ungezwungene Atmosphäre macht mich selbst gleich viel lockerer. Hier entsteht nicht wirklich der Eindruck, als befänden wir uns in einem professionellen Arbeitsverhältnis.

"Setzte dich doch."

Er deutet auf einen bequemen Schreibtsichstuhl und ich nehme lächelnd Platz. 

"Nicht, dass ich meine Frau entschuldigen will, aber sie hat eine leichte Form von ADHS und weigert sich vehement dagegen Medikamente zu nehmen."

Ich nicke verständlich.

"Wie dem auch sei, kommen wir zu dir. Nachdem du nun einen kurzen Einblick in unser Chaos Familienleben erleben durftest, hast du das Recht auch von meiner Seite noch einmal zu hören, wie sehr uns deine Texte angesprochen haben. Die Lektoren kamen auf uns zu und fragten mich und meine Frau, ob wir diese wundervollen Texte nicht vertonen wollen, einfach um sie noch ein wenig ausstrucksstärker zu machen und um mehr Menschen zu erreichen. Von unserer Seite haben wir sofort zugestimmt, stellt sich nur allerdings die Frage, ob du es einmal ausprobieren willst."

Bei seinen schmeichelnden Worte werde ich ganz rot, nicke dennoch.

"Hast du deine eigenen Texte denn schon einmal laut vorgetragen?"

Dieses Mal schüttele ich den Kopf, nicke gleichzeitig. Anayo schaut mich fragend an.

"Nicht in der Öffentlichkeit. Nur allein Zuhause in meinem Zimmer."

Meine Stimme klingt schwach, dennoch bin ich erstaunt über mich selbst. Hätte nicht damit gerechnet so ganz ohne nachzudenken einfach Sätze formen zu können. 

"Na dann lasse es uns doch einfach einmal versuchen. Du hast keine Vorgaben, völlige Freiheit was Betonung und so weiter betrifft. Versuche einfach deutlich zu sprechen und wir haben alle Zeit der Welt das Ganze wieder und wieder zu versuchen."

Als die Kinder und Uta den Aufnahmeraum schließlich aufräumen, merke ich die Ernsthaftigkeit des Ganzen erst so richtig. Ich bin tatsächlich hier um meine eigenen Texte aufzunehmen, um eine CD produzieren zu können. Nicht einfach nur um ein chaotisches Familienleben oder den Verlag kennenzulernen, sondern um wirklich zu arbeiten, um wirklich zu sprechen.

Ich fühle mich in diesem Augenblick tatsächlich so, als könnte ich es schaffen. Es hört mir ja niemand zu, es ist nicht einmal jemand im Raum, außerdem ist Gott auf meiner Seite. Ich fühle mich, als könnte ich alles meistern, als wäre ich nicht abhängig von anderen Menschen, von Betty oder gar von Philipp. Das Ganze fühlt sich so leicht an, so völlig easy, bis zu jenem Moment, an dem ich vor dem Mikro stehe. Mein Blick dem von Anayo begegnet, der mir aufmunternd zunickt und dann jenem von Uta, die inzwischen ihre aufgedrehte Phase hinter sich gelassen hat und konzentriert ein paar Knöpfe am Mischpult hin und her dreht.

Ich bekomme Panik, Panik in jenem Moment, in dem ich erkenne wie normal das Sprechen für die beiden ist. Als sie sich einander zudrehen, sich anlächeln, irgendetwas zueinander sagen. Es gehört zum Alltag, es ist etwas was man einfach tut, was man nicht hinterfragt und was so absolut gar kein Problem darstellt.

Und ich? Ich stehe hier vor diesem Mikrofon. Im Mittelpunkt, der Mitte des Raumes. Allein und doch beobachtet, beobachtet von zwei Menschen, die so gar keine Ahnung haben was gerade in meinem Inneren abgeht. Etwas in mir rebelliert. mein Hals ist ganz trocken, meine Knie zittern, die Tränen, die sich in meinen Augen bilden wische ich zur Seite.

"Alles okay bei dir?", fragt mich Anayo über meine Kopfhörer. Ich nicke entschlossen. Sie alle reden und ich bin stumm und dabei brauchen sie momentan nichts außer meine Stimme. Es geht um mich, es geht um meine Texte und dabei nicht einfach nur um die Schrift sondern um meinen Klang, meine Ausdrucksweise, meine Artikulation.

"Mache dich ganz locker, du kannst nichts falsch machen. Aller Anfang ist schwer."

Das sagte er so einfach, er hatte ja keine Ahnung wie es war stumm zu sein. Er hatte ja keine Ahnung, dass das was ich hier gerade versuchte zu tun eigentlich unmöglich ist.

"Ich kann das nicht."

Kein Wort verlässt meine Lippen. Ich beginne zu weinen. Ich kann das wirklich nicht. Es geht nicht darum, dass ich einfach nur wenig rede, weil ich viel mehr mit meiner eigenen Gedankenwelt beschäftigt bin, es geht darum dass ich es tatsächlich einfach nicht mehr kann. Dass ich es verlernt habe, irgendwann während der Zeit, seit Betty tot ist. Dass ich keine Chance habe, selbst wenn ich es will, schon gar nicht unter dem Blick der beiden Menschen hinter dieser großen Glasscheibe, die beiden Menschen, die mich in diesem Moment gar nicht beobachten, sie scheinen sich angeregt zu unterhalten. Dann öffnet sich die Türe. Ich rechne damit Ärger zu bekommen, dass sie sagen, dass es so einfach nicht gehen kann, dass sie ihr Unverständnis ausdrücken, oder mich gleich ganz rauswerfen. Nichts von dem geschieht. Im Gleichschritt gehen sie energisch auf mich zu. Vielleicht sollte es mir Angst machen, tut es aber nicht, meine Furcht vor dem Sprechen ist so viel größer. Uta legt mir entschlossen und ohne nachzufragen die Hand auf die Schulter. Ich erstarre unter ihrer Berührung. Anayo schaut mich wenigstens einmal fragend an, als ich nicht reagiere, mindestens genauso fragend zurück schaue, da tut er es seiner Frau gleich und dann beginnen die beiden zu beten, mit einer Leidenschaft und Stimmigkeit, wie nie zuvor gehört. Flatternd schließen sich meine Augen. Atemlos sauge ich auf was sie sagen, sich hierbei perfekt ergänzen, sie nie unterbrechen und sich dennoch ständig abwechseln. Ich merke wie sich etwas in mir verändert, langsam jedoch ziemlich radikal und als sie ihr Gebet mit einem Amen beenden, da werde ich ganz schlaff, das Zittern weicht und jegliche Angst. Ich werde einfach ruhig und gleichzeitig von Uta bestimmt in eine feste Umarmung gezogen.

"Keine Ahnung wie der Weg aussehen soll, denn Gott da mit dir gehen wird, aber du wirst es schaffen."

Ich nicke ihr zu. Bin total motiviert, nur um Sekunden später in das gleiche Loch zu fallen. 

"Ich kann das nicht.", flüstere ich, ehe die beiden den Raum ganz verlassen haben. Glaube nicht gehört zu werden, doch Anayo hält inne, dreht sich um, kommt zurück und hält mich an beiden Schultern fest.

"Gehe nach Hause Leica und lege dich hin, ruhe dich aus und habe Geduld. Gott wird dir im richtigen Moment deine Stimme zurück geben und dann wird es ein leichtes sein, hier wieder herzukommen und deine Texte aufzunehmen."

Ich schlucke. Woher weiß er...? Wie kann er Dinge erkennen, die ich nie ausgesprochen habe?

"Du wirfst sie raus?"

Uta stampft auf ihren Mann zu, stemmt entschlossen die Hände in die Hüfte.

"Sie kann das schaffen."

Anayo lächelt seine Frau sanft an.

"Ja, das kann sie, aber vielleicht ist das einfach nicht der richtige Moment."

Und während mich Anayo loslässt und sich das Ehepaar lachend und gleichzeitig weinend irgendwie in die Arme fällt, verlasse ich völlig überfordert das Studio, beginne hemmungslos zu weinen und erkenne extrem schmerzhaft, dass ich es wieder nicht geschafft habe. Geschafft habe einen Schritt nach vorn zu gehen. Einen Schritt back to life.

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