Back to Life

By _time_to_fly_

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*** WATTYS 2018 GEWINNER *** Nachdem Betty den Kampf gegen den Krebs verloren hat, hinterlässt sie nichts als... More

Prolog
1. Brief
Challenge Nr. 1
1. Antwort
2. Brief
Challengen Nr. 2
2. Antwort
3. Brief
Challenge Nr. 3
3. Antwort
4. Brief
Challenge Nr. 4
5. Brief
Challenge Nr. 5
5. Antwort
6. Brief
Challenge Nr. 6
6. Antwort
7. Brief
Challenge Nr. 7
7. Antwort
8. Brief
Challenge Nr. 8
8. Antwort
9. Brief
Challenge Nr. 9
9. Antwort
10. Brief
Challenge Nr. 10
10. Antwort
11. Brief
Challenge Nr. 11
11. Antwort
12. Brief
Challenge Nr. 12
12. Antwort
Epilog
Danksagung

4. Antwort

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By _time_to_fly_





Bettyyyy!!!

Endlich einmal habe ich ganz viel zu berichten und vor allem habe ich wahnsinnig viel Positives zu erzählen.

Freust du dich? Ich hoffe doch!

Mit deiner vierten Challenge hast du jedenfalls absolut ins Schwarze getroffen, auch wenn ich wirklich mehr Glück hatte als Verstand, aber dennoch möchte ich mich hierfür einmal ganz herzlich bei dir bedanken, denn ich weiß, ohne dich hätte ich diesen Punkt in meinem Leben nie erreicht - niemals.

Ich liebe dich dafür! Ich liebe dich für so vieles. Du bist einfach toll Betty, du bist so unglaublich toll. Ich vermisse dich!

Ich habe Milena besucht und ich hatte sie wirklich noch gut in Erinnerung, aber hat sie tatsächlich schon damals so grausam viel geredet wie jetzt? Das ist ja schlimm, meine Güte Betty, das ist schlimmer als bei dir, noch dazu kommt, dass sie absolute zusammenhanglose Gedankensprünge besitzt, vor denen sie sich nicht scheut, sie in das Gespräch mit einfließen zu lassen. Außerdem kann ich sie ja nicht unterbrechen und das kann einem wirklich auf die Nerven gehen. Sie ist anstrengend, nicht minder anstrengend als du, aber eben anstrengend.

Eigentlich ist es exakt eine Viertelstunde, von der es sich lohnt zu berichten, weil der Rest absolut unspektakulär war, aber in jener Viertelstunde ist vermutlich mehr passiert als seit deinem Tod und ich hoffe ich kann hier nur annähernd realitätsgetreu wiedergeben was vorgefallen ist.

Fangen wir an.

Ich habe ihn wieder getroffen!!!

Ich kann nicht glauben, dass er da einfach so saß, auf Milenas Bett. Ich kann nicht glauben, dass er ihr Bruder ist, ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet dieser Junge mich gerettet hat.

Ich kann es einfach nicht fassen.

Ich glaube ich habe im letzten Brief ganz vergessen zu erwähnen, dass wir uns währen der Rettungsaktion gar nicht unterhalten haben, nicht durch gesprochene Worte jedenfalls, wir haben geschrieben, auf seinem Handy. Ich habe es als unwichtig erachtet, irgendwie verdrängt, bin vielleicht auch davon ausgegangen, dass er diese Maßnahme für mich ergriffen hat. Dem war nicht so, Mensch Betty, dieser Junge ist taubstumm. Er kann nicht hören und nicht sprechen und dementsprechend ist es ihm vollkommen egal, ob ich genau diese Fähigkeiten nun beherrsche oder nicht. Ich habe wahrhaftig einen Menschen getroffen, der nicht verlangt, dass ich mit ihm rede und ich kann nicht in Worte fassen wie dankbar ich dafür bin. Unendlich dankbar.

Jedenfalls hat Doktor Redcliff uns Papier gebracht und wir haben dort eine geschriebene Unterhaltung geführt, während Milena ständig gequasselt hat und gleichzeitig irgendwie mit ihrem Bruder durch Gebärdensprache kommunizierte. Ziemlich schnell haben ihr die Ärzte dann aber ein Beruhigungsmittel verabreicht und sie ist eingeschlafen.

Ein geschriebenes Gespräch hat so einige Vorteile. Wir haben die schlafende Milena nicht gestört und vor allem, habe ich es hier vor mir liegen, wortwörtlich, denn nachdem Philipp, so heißt ihr Bruder, gegangen ist, konnte ich es mir nicht nehmen lassen, das Papier mit unseren Aufzeichnungen mitgehen zu lassen, extra für dich wohl bemerkt und genau aus diesem Grund will ich es dir hier jetzt einfach beilegen.

Mich würde ehrlich brennend interessieren, was genau du zu diesem Gespräch zu sagen hast. Es ist deutlich schwerer sich über das Schreiben kennen zu lernen und erfordert jede Menge Zeit, aber Philipp ist mir nicht nur wegen der Rettungsaktion total sympathisch, ich finde er macht auch durch das was er da schreibt einen wirklich netten Eindruck.

Lese doch selbst...

Philipp: Hey, wie schön dich hier wieder fit und munter zu sehen. Wie Doktor Redcliff gerade sagte, müssen wir hier schreiben, sofern du keine Gebärdensprache beherrscht, denn ich bin taubstumm und kann damit weder hören noch sprechen.

[Ich konnte mich gar nicht konzentrieren, als ich seine Worte gelesen habe, er hat mich die ganze Zeit lächelnd und total aufmerksam beobachtet. Das war irgendwie echt süß und gleichzeitig etwas merkwürdig, aber vermutlich beginnt man, wenn einem ein Sinn fehlt, die anderen viel bewusster einzusetzen, um eben jenen der da fehlt ausgleichen zu können.]

Ich: Hallo! Leider kann ich keine Gebärdensprache, aber schreiben ist vollkommen in Ordnung. Ich würde jetzt sagen, dass es mir leid tut, wegen deiner Einschränkung, aber ich denke, dass musst du viel zu oft hören. Ich heiße übrigens Leica.

[Sein Lächeln ist unglaublich ansteckend und wunderschön. Seine Antwort ebenfalls.]

Philipp: Oh, ich scheine mich noch gar nicht vorgestellt zu haben. Tut mir leid. Ich heiße Philipp, gerne einfach Phil. Das mit dem Mitleid ist so eine Sache. Irgendwann geht einem das furchtbar auf die Nerven. Du hast das aber sehr schön ausgedrückt und das typische „tut mir leid", ziemlich geschickt umgangen. Wie geht es dir eigentlich seit der Panikattacke? Ist dir so etwas noch einmal passiert.

Ich: Oh, na dann, hey Philipp. Danke, das war meine Absicht. Mir geht es den Umständen entsprechend gut. So etwas wie diese Panik, ist mir zum Glück nicht noch einmal passiert, ich halte mich seither vom Auto fahren ehrlich gesagt aber auch fern. Danke das du mir geholfen hast. Wirklich danke. Das tut nicht jeder und ich weiß das sehr zu schätzen. Ich weiß nicht, wie ich dir dafür jemals genug danken kann.

Philipp: Hi, Leica. Du darfst aber wirklich Phil sagen, das möchte ich nur nochmal erwähnt haben. Es bleibt natürlich dennoch ganz dir überlassen. Dann bin ich froh, du sahst ehrlich gesagt nicht gut aus, dennoch ist es keine Lösung jetzt dauerhaft auf das Autofahren zu verzichten... Ich würde dir gerne helfen, aber ich weiß nicht wie. Es gibt nichts zu danken, Leica, wirklich, das ist eine absolute Selbstverständlichkeit und ich weiß wie die Leute ticken, auch ich wünsche mir manchmal etwas mehr Verständnis, betreffend meiner... naja Einschränkung.

[Ich weiß nicht, wie man allein durch Worte so lieb und gleichzeitig so zuvorkommend wirken kann, er hat es aber irgendwie geschafft.]

Ich: Ich... ich tue mich etwas schwer mit Spitznamen, wir kennen uns ja noch kaum. Vielleicht irgendwann, nehme mir das bitte nicht böse. Es ist lieb, dass du mir helfen willst, aber ich zweifle momentan daran, dass mir überhaupt jemand helfen kann. Das verstehe ich, irgendwie verstehe ich es, selbst wenn ich kerngesund bin. Trotzdem nochmal danke!

Philipp: Haha, kein Problem, deshalb bin ich dir sicherlich nicht böse. Es ist wegen Betty oder, dass es dir nicht so gut geht? Ich mag nicht aufdringlich klingen, aber es kommt mir so vor, als ob es dir nicht so gut ginge. Gerne. Ich würde bei einem weiteren Mal keine Sekunde zögern.

[Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung wie er erkennen kann, wie es mir geht. Ich dachte immer, ich habe meine äußere Erscheinung ziemlich gut im Griff. Aber sein Empathievermögen... Betty, du bekommst ernsthafte Konkurrenz.]

Ich: Du hast sie gekannt? Betty? Nein, mir geht es nicht so gut. Ich vermisse sie jeden Tag, ich weiß nach wie vor nicht, wie ich ohne sie leben soll. Sie war meine beste Freundin.

[Er hat immer so unglaublich lieb gelächelt, wenn ich ihm den Zettel gegeben habe. Ich erinnere mich so gerne daran zurück.]

Philipp: Nicht wirklich persönlich. Sie war aber praktisch Dauergesprächsthema in Milenas Erzählungen und kurz vor ihrem Tod, haben wir uns hier kurz getroffen. Sie war nett, ihre Lebensfreude unglaublich. Du bist nicht allein, Leica, du hast Gott, er passt auf dich auf, jeden einzelnen Tag, er lässt dich nicht im Stich.

[Habe ich erwähnt, dass ich seine Schrift für die eines Jungen richtig hübsch finde? Nein? Dann weißt du es jetzt.]

Ich: Davon wusste ich nichts. Ich wusste bis heute aber ja auch nichts von deiner Existenz. Du, du bist Christ?

[Wieder war da dieses unglaublich offene und herzliche Lächeln. Ich würde ihn am liebsten den ganzen Tag zum Lachen bringen, nur um sein Lächeln mit diesen tiefen Grübchen in den Wangen zu sehen.]

Philipp: Na, immerhin weißt du jetzt von mir. Wie alt bist du denn, wenn ich fragen darf? Ich glaube ja... nicht so richtig. Ich habe Betty bei unserem ersten und einzigen Treffen nach ihrem Glauben gefragt, weil Milena mir immer so tolle Sachen davon erzählt und dann hat sie mir eine Bibel hinterlassen. Ich weiß nicht, ob man sich als Christ bezeichnen kann, wenn man die Bibel in den letzten 5 Monaten einmal komplett durchgelesen hat und versucht sein Leben ganz auf Gott auszurichten.

[Betty, ich bin enttäuscht. Warum genau hast du mir nie erzählt, dass Milena einen Bruder hat?]

Ich: Seid wann fragt man ein Mädchen so ganz ungeniert nach ihrem Alter? Du bist definitiv ein Christ. Allein, dass du dein Leben versuchst mit Gott zu gehen, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Bist du denn in einer Gemeinde?

Philipp: Na dann bin ich ja froh, dass ich nicht gefragt habe, sondern lediglich schreibe. Danke, das freut mich gerade sehr zu hören. Nein, du bist die erste Christin (abgesehen von Betty), mit der ich mich unterhalten. Ich hatte die letzten Wochen viel um die Ohren und ich wusste irgendwie nicht so richtig... ich habe die letzten Woche viel zu sehr begonnen an meinem Glauben zu zweifeln.

[Sein Konter ist gut, zu gut! Außerdem verstehe ich selbst nicht, warum ich plötzlich so frech und offen bin, das bin ich von mir gar nicht gewohnt.]

Ich: Ich gebe mich geschlagen. 18 mein Alter und deines? Wenn du magst, darfst du mich gerne in meine Gemeinde begleiten. Du wirktest schon ziemlich niedergeschlagen, als du mich gerettet hast. Magst du erzählen was los ist? Warum du zweifelst?

Philipp: Ziel erreicht! Warum darf mal als Junge ein Mädchen eigentlich nach seinem Alter fragen, weil es anscheinend ja so unhöflich ist und du, als Mädchen hast das Recht dazu? Ich mag nicht darüber reden. Ich muss jetzt nachher los, ich habe versprochen zu Mittag bei meinen Eltern zu erscheinen und es bräuchte ein wenig Zeit und eigentlich eine Stimme, in die man Emotionen legen kann und nichts Geschriebenes. Es tut mir leid. Vielleicht kannst du es dir ja denken.

[Ich habe die Tränen in seinen Augen schimmern sehen und selten ein so großes Mitleid für einen Menschen empfunden, der nicht den Namen Betty trug. Ich wollte ihn umarmen, aber ich war zu schüchter - so wie ich immer zu schüchtern bin. Ich hasse mich dafür. Und mein beschränktes Gehirn ebenfalls. Ich konnte mir darauf wirklich keinen Reim machen. Vielleicht hat es etwas mit seiner Schwester zu tun, aber ich mag nicht spekulieren.]

Ich: Ich frage ja nicht, ich schreibe nur. Das ist unsere Gesellschaft, sie ist merkwürdig, frag mich nicht warum... In Ordnung.

[Ich wusste wirklich nicht was sonst schreiben, ich bin nicht sonderlich gut in sowas, du hättest es deutlich besser gemacht, ich weiß es, ich vermisse dich.]

Philipp: Nicht schlecht, nicht schlecht. Ich bin 21 und gebe mich damit ebenfalls geschlagen. Es ist wie mit dem: Warum muss ein Junge eigentlich den ersten Schritt machen? Ich habe dir noch gar nicht gedankt, dass du meine Schwester besuchen gekommen bist. Das ist wirklich lieb.

Ich: Vielleicht weil Mädchen zu schüchtern sind. Betty war daran beteiligt... mehr oder weniger... aber danke!

Philipp: Und wer behauptet das es keine mindestens genauso schüchterne Jungs gibt?

Ich: Bist du denn schüchtern?

[Ich weiß ehrlich nicht über was genau wir da diskutiert haben. Ich meine immerhin kennen wir uns gerade mal seit ein paar Minuten und normalerweise würde man über seinen Alltag reden, den Beruf oder so und wir? Wir reden darüber wer den ersten Schritt macht und ob Mädchen nun schüchterner sind als Jungs.

Philipp: Schüchterner als Milena oder gar Betty, aber garantiert nicht auf den Mund gefallen. Wobei meine Künste zu reden zu wünsche übrig lassen. Von dem her bin ich schon schüchtern. Es fällt mir schwer mit Menschen zu kommunizieren ohne reden zu können.

Ich: Ich... Ich glaube das ist verständlich. Danke für deine Ehrlichkeit.

Philipp: Leica?

Ich: Ja!?

Philipp: Als du diese Panik hattest, ich weiß nicht ob du dich erinnern kannst, dir ist da deine Tasche in der Hektik runter gefallen und ich habe danach einen Brief in meinem Auto gefunden. Ich habe ihn nicht dabei, aber es ist deiner und ich will, dass du weißt, dass ich ihn habe und ihn dir auch wiedergebe und du ihn nicht suchen musst.

[Mir blieb ehrlich für einen Moment die Luft weg. Mit einem so plötzlichen Themawechsel hätte ich absolut nicht gerechnet und damit schon gar nicht. Und das schien Philipp bemerkt zu haben.]

Philipp: Leica, ist alles okay?

[Dass dieser Brief ausgerechnet so einen Besitzer findet. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.]

Ich: Hast du ihn denn schon gelesen.

Philipp: Um Gottes Willen nein, natürlich nicht, ich lese doch keine Fremden Briefe. Es tut mir schrecklich leid, dass ich dir erst jetzt davon erzähle.

Ich: Du darfst ihn behalten, wenn du magst. Ich schenke ihn dir.

Philipp: Leica, das ist ein persönlicher Brief, ich will nicht etwas lesen was mir nicht zusteht, wirklich nicht. Wenn wir uns das nächste Mal hier treffen, und ich hoffe das werden wir, dann bringe ich ihn dir wieder.

Ich: Nein ehrlich, ich will das du ihn behältst. Er steht dir zu... du musst ihn nur lesen, dann wirst du es verstehen.

Philipp: Das heißt also, ich gebe ihn dir nicht zurück und ich habe damit auch keinen Grund mehr mich mit dir zu treffen?

Ich: Wie wäre es mit einer Antwort?

Philipp: Du bist schlau! Eine sehr gute Idee. Und jetzt muss ich wirklich los, meine Eltern bekommen sonst die Krise.

Ich: Ganz deiner Meinung. Alles klar, bis bald - hoffe ich.

Philipp: Du denkst also auch, dass du schlau bist?

Ich: Nein, so war das nicht gemeint, wirklich nicht, es war auf die gute Idee bezogen.

Philipp: Das ist mir durchaus bewusst. Bis bald!

Ich: Ciau!

Dann ist er aufgestanden, hat mir noch einmal zugewunken und ist aus dem Raum verschwunden.

Ich kann ehrlich gesagt nach wie vor nicht wirklich beschreiben was danach in mir vorging. Ich hatte wirklich noch nie zuvor mit einem taubstummen Menschen zu tun, aber das ist wirklich nicht was mich verunsichert, eher die Tatsache, dass ich mit diesem Jungen Gespräche führe, die ich so mit niemandem jemals geführt hätte und ich weiß um ehrlich zu sein nicht wie er mir allein durch geschriebenen Worte so schnell sympathisch geworden ist, zumal beim Schreiben wirklich das Gefühl und die Emotionen fehlt, jedenfalls ist da ja auch was wir über WattsApp immer bemängelt haben und uns ständig über Skype unterhielten, aber wenn man schreibt und dennoch direkt neben der Person steht, ist das nochmal etwas ganz anderes, einfach weil die angesprochenen Emotionen nicht ganz verborgen bleiben, wenn man ganz genau hinschaut kann man sie sehen.

Man kann sie sehen, wenn man den beschriebenen Zettel hinüber schiebt. Dieses sanfte Lächeln mit den leichten Grübchen.

Man kann sie sehen, wenn der Gegenüber beginnt zu lesen. Wenn er breit grinst, manchmal auch nur ganz leicht schmunzelt oder er mir für einen winzigen Moment tief in die Augen schaut.

Und man kann diese Emotionen ebenso sehen wenn er schreibt und du schließlich den Zettel zurück bekommst. Mit einem aufmunternden und doch spöttischen Lächeln.

Man muss nur genau hinschauen. Man muss den anderen Beobachten und wenn man nicht spricht und auch nicht zuhören muss, hat man dafür jede Menge Zeit.

Es mag absurd klingen, aber Philipp ist der erste Mensch seit deinem Tod, mit dem ich ein wirkliches Gespräch geführt habe, seit ich in meine Depression gefallen bin, ganz einfach weil ich mit ihm nicht reden muss, weil schreiben genügt und weil ich gerne schreibe, weil ich nichts lieber tue als schreiben und ich jetzt genau in diesem Moment so unfassbar glücklich bin, nicht nur weil ich deine letzte Challenge erfolgreich gemeistert habe, sondern die vorherige gleich dazu. Mein Brief hat ganz zufällig einen Empfänger gefunden und jemanden besseren als Philipp kann ich mir da eigentlich nicht vorstellen. Er hat diesen Brief verdient und das obwohl ich so gut wie nichts über ihn weiß. Ich meine Betty, ich kenne gerade mal seinen Namen und sein Alter. Ich habe absolut keinen Plan ob er studiert, eine Ausbildung macht oder gar noch zur Schule geht. Ich bin absolut unwissend. Einzig habe ich ein klein wenig seines Humors kennen gelernt, dass er nicht wirklich schüchtern ist, offen, gerne ein wenig spöttisch, sarkastisch geradezu und wirklich ehrlich. Denn sonst hätte er mir niemals von diesem Brief erzählt und ihn noch dazu nicht geöffnet. Das bedeutet mir wirklich viel. Es ist toll diesen Jungen getroffen zu haben.

So bald wie möglich werde ich Milena wieder einen Besuch abstatten und ihn dann hoffentlich treffen, wo mir gerade einfällt. Wir haben tatsächlich über völlig sinnloses und absurdes Zeug diskutiert, aber kein Wort darüber verloren, wie es seiner Schwester geht, warum sie diesen Kopfverband trägt und vor allem warum sie so lange im Koma lag.

Seien bloße Anwesenheit hat mich so sehr verwirrt, dass ich daran die ganze Zeit über gar nicht gedacht habe und erst jetzt fällt es mir wieder ein, die wichtigste Frage habe ich gar nicht gestellt, jene nach dem Befinden seiner Schwester.

Ich habe ein unglaublich schlechtes Gewissen. Es tut mir so leid. Wie konnte ich das nur vergessen. Ich meine sie lang Monate lang im Koma, ihm muss es grausam gehen, jetzt weiß ich auch, warum er darüber nicht reden will, jetzt weiß ich worüber er nicht reden will... über seine Schwester, denn egal was ihr zugestoßen ist, es muss schrecklich gewesen sein.

Du hättest gefragt. Es wäre das Erste nach dem du gefragt hättest. Warum kann ich nicht du sein, wenigstens ein ganz klein wenig. Warum muss ich immerzu versagen.

Ich weine.

Ich bin definitiv zu nahe am Wasser gebaut.

Ich sende dir all meine Liebe

Leica

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