Back to Life

By _time_to_fly_

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*** WATTYS 2018 GEWINNER *** Nachdem Betty den Kampf gegen den Krebs verloren hat, hinterlässt sie nichts als... More

Prolog
1. Brief
Challenge Nr. 1
1. Antwort
2. Brief
Challengen Nr. 2
2. Antwort
3. Brief
3. Antwort
4. Brief
Challenge Nr. 4
4. Antwort
5. Brief
Challenge Nr. 5
5. Antwort
6. Brief
Challenge Nr. 6
6. Antwort
7. Brief
Challenge Nr. 7
7. Antwort
8. Brief
Challenge Nr. 8
8. Antwort
9. Brief
Challenge Nr. 9
9. Antwort
10. Brief
Challenge Nr. 10
10. Antwort
11. Brief
Challenge Nr. 11
11. Antwort
12. Brief
Challenge Nr. 12
12. Antwort
Epilog
Danksagung

Challenge Nr. 3

63 16 5
By _time_to_fly_




Wie so oft sitze ich auf meiner Fensterbank und starre nach draußen. Das Baumhaus direkt vor Augen. Nach wie vor habe ich es nicht mehr besichtigt. Inzwischen ist es Mai, wärmer als im diesjährigen völlig durchwachsenen April und zum ersten Mal dieses Jahr steht mein Fenster offen. Ich atme die frische, wenn auch nach wie vor kühle Luft ein und fühle wie sie meine Lungen durchströmt. Der Frühling hat nun vollkommen Einzug gehalten. Sogleich fühle ich mich besser. Etwas beschwingt geradezu und vielleicht ist das mit einer der Gründe warum es mir dieses Mal absolut leicht fällt Bettys Challenge zu bewältigen, möglicherweise auch, weil diese Aufgabe so anders ist als all jene zuvor und weil sie meine Kreativität herausfordert.

Ich liebe es, ich liebe es genau jener Kreativität freien Lauf zu lassen, mich in fremde Welten, meinen Fantasien zu verlieren, nicht umsonst bin ich eine kleine Tagträumerin und das weiß Betty, das weiß sie nur zu gut und das ist mit einer der Gründe warum ich sie so gern habe, warum ich ihren Anweisungen folge leiste ohne darüber nachzudenken, weil ich einfach weiß, dass sie es richtig machen wird, weil ich ihr vollkommen vertraue, weil sie eine wundervolle Person ist und mich besser kennt als ich mich selbst.

Zur Abwechslung schreibe ich heute nicht einmal auf meine Mathe Hausaufgaben oder sonst ein zerrissenes Papier, sondern auf einen frischen weißen Bogen – Briefpapier. Gefunden im Schreibtisch meiner Mutter.

Briefe schreiben tut sie sowieso nicht und somit wird sie mir auch nicht böse sein, warum auch, wer schreibt denn heutzutage überhaupt noch Briefe. Außer Betty und ich natürlich, weil wir es lieben von Hand zu schreiben, weil es so viel persönliches hat und weil wir ja gleichzeitig auch noch auf WattsApp schreiben und uns aus guten Grund niemand vorwerfen kann hinter dem Mond zu leben, denn das tun wir sicher nicht. Nur die alten Traditionen wahren, wie Betty so schön sagt und sie schätzen lernen.

Meine Oma als Empfängerin. Darüber muss ich nicht lange nachdenken, nicht nur, weil sie es absolut verdient hat, sondern weil sie seit Bettys Tod meine einzige Freundin ist und weil ich sie liebe – trotz ihren Künsten Auto zu fahren.


***

Liebe Oma,

ich schreibe dir heute einen Brief, der Grund hierfür liegt bei Betty und das selbst nach ihrem Tod. Du hast sie nicht ohne Grund beinahe genauso sehr geliebt wie ich, dennoch möchte ich hier nicht weiter auf meine beste Freundin eingehen, sondern vielmehr auf uns – auf dich und mich, denn Betty braucht uns längst nicht mehr, sie ist glücklich und hat ihren Platz im Reich Gottes endlich eingenommen.

Oma, ich schreibe, weil ich nicht sprechen kann.

Ich schweige, weil ich unfähig bin zu reden.

Ich weine, weil ich trauere.

Ich trauere, weil ich Angst habe.

Ich habe Angst, weil keine Worte meinen Mund verlassen.

Ich bin viel zu peotisch, wenn man bedenkt, dass dies hier lediglich ein Brief ist.

Ich möchte dir dennoch irgendwie verdeutlichen warum ich schreibe und nicht spreche, einfach weil ich es nicht kann Oma. Es geht nicht, wie damals, als sich Mama und Papa getrennt haben. Warum? Das weiß ich tatsächlich nicht.

Und deshalb schreibe ich jetzt. Ich schreibe dir, weil ich dir sagen will wie lieb ich dich habe, wie unglaublich lieb ich dich habe und seit Bettys Tod weiß ich deine unglaubliche Fürsorge immer mehr zu schätzen.

Ich habe mich die ganzen letzten Jahre über nicht allein gefühlt – nie!

Natürlich war ich dennoch oft allein. Ich saß viel in meinem Zimmer, Betty im Krankenhaus, in der Therapie, wo auch immer... aber dennoch habe ich mich nie einsam gefühlt, weil ich es nie war. Weil wir beste Freundinnen waren und im Herzen verbunden waren und weil sie letztendlich doch nicht so weit entfernt war, beinahe jederzeit erreichbar und jetzt? Jetzt kann ich sie nicht einfach mal kurz anrufen, mit ihr skypen, ihr schreiben. Es geht nicht und das tut weh und doch habe ich dich...

Ich kann im Moment vielleicht nicht reden und deshalb fällt anrufen oder skypen raus, aber ich kann schreiben und das will ich.

Ich will dir schreiben wie lieb ich dich habe.

Ich will dir schreiben wie dankbar ich bin, dass es dich gibt.

Ich will dir schreiben, dass ich alles was du für mich tust wirklich zu schätze weiß, auch wenn ich mir das oft nicht anmerken lasse.

Ich will dir auch schreiben, dass du mir hilfst, selbst wenn es kaum bemerkbar ist, du tust es dennoch, auf irgendeiner, nicht definierbaren Ebene.

Dass du die Einzige bist, die Betty auch nur annähernd ein ganz klein wenig ersetzten kann. Ja Oma, du bist im Moment soviel gleichzeitig, meine Oma und meine Freundin und auch mein Vorbild, in so ziemlich allem, mal abgesehen vom Auto Fahren.

Und ganz zum Schluss muss ich noch los werden, dass du in Zukunft doch bitte etwas öfter die Bremse bedienst, wenn wir auf der Straße unterwegs sind, wenigstens wenn ich im Wagen sitze und ein bisschen weniger oft das Gaspedal und mit ein wenig mehr Gefühl fährst, so wie du mir immer begegnest – mit Gefühl und nicht mit etwas zu vielen Aggressionen und dem Kick irgendwie einen Unfall zu bauen.

Bitte, Betty musste ihr Leben lassen, ich will meines im Moment wirklich nicht verlieren, schon gar nicht wegen deinen Auto Künsten und noch viel weniger will ich dich verlieren Oma, weil ich dann ganz allein wäre und weil ich das nicht überleben würde und weil ich dich lieb habe.

Wirklich lieb!

Du bist eine absolut tolle Frau.

Alles Liebe

Deine Leica

***


Fein säuberlich verschließe ich den Briefumschlag und schreibe in Großbuchstaben „FÜR DIE BESTE OMA DER WELT!" darauf. Es fühlt sich befreiend an und gleichzeitig wunderschön einen solchen Brief geschrieben zu haben und deshalb beschließe ich ihn sogleich an den Mann zu bringen. Einen Rückzug kann und will ich mir heute nicht wieder leisten.

Ich danke Gottes, dass er mich begleitet, als ich die Treppen hinunter hüpfe. Ein wenig überspiele ich damit meine Nervosität. Es geht mir dennoch relativ gut.

Die Türe zu Omas Wohnung steht wie immer sperrangelweit offen und ich muss etwas grinsen, weil es so typisch Oma ist und weil es mir zeigt, dass sie mich jeder Zeit recht herzlich willkommen heißt. Mich und jeder andere rein theoretisch auch. Betty war jedenfalls auch immer einfach so hier herein gekommen, meist singend oder tanzend und sicherlich nicht so leise wie ich in diesem Moment. Auf sich aufmerksam gemacht, das hatte meine Freundin definitiv immer.

Ich hasse mich selbst dafür, dass ich schon wieder an sie denke, an Betty und es treibt mir die Tränen in die Augen, weil ich nie wieder gemeinsam mit Oma im Wohnzimmer sitzen und auf Bettys Ankunft warten werde. Wenn sie zum Beispiel von der Therapie kommt und uns im Anschluss direkt einen Besuch abstattet. So laut pfeifend, dass man sie schon kommen hört, als sie noch sich noch zwei Straßen entfernt befindet.

Ich vermisse sie, ich vermisse sie so sehr. Ich bemerkte den Klos, der sich in meinem Hals bildete erst, als ich kurz vor den Tränen stehe.

Tapfer setzte ich meinen Weg fort.

Oma steht am Küchentresen und wäscht den Salat, als ich eintrete. Sie summt vor sich hin und scheint mich nicht zu bemerken. Gerne hätte ich ihr den Brief überreicht, mit ein paar lieben Worten, doch ich will nicht, dass sie mich schon wieder in diesem Zustand sieht und außerdem bin ich unfähig überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen.

Es tut weh. Die salzigen Tränen benetzen meine Wangen. Ich versuche nicht laut aufzuschluchzen. Schleiche ins Wohnzimmer, lege den Brief dort auf den Tisch und mache mich schnellst möglichst aus dem Staub.

Als ich durch die Eingangstüre gehe, denke ich schon wieder an Betty und fühle mich schlecht, als wäre ich abermals gescheitert, an ihrer Challenge, weil ich nicht einmal in der Lage bin, angeforderten Brief persönlich abzugeben.

Ich lasse meine Tränen freien Lauf, als ich mich endlich wieder auf meiner Fensterbank niederlasse. Schluchze was das Zeug hält und kann mich gar nicht mehr beruhigen und das obwohl die Challenge so noch nicht einmal beendet ist und das will ich definitiv. Ich will sie beenden, selbst wenn ich jetzt schon gescheitert bin und es reizt mich, es reizt mich auf eine gewisse Art und Weise einen Brief für eine mir zum jetzigen Zeitpunkt noch vollkommen unbekannten Person zu verfassen, nicht zu wissen wer und ob ihn überhaupt jemand bekommen wird und dennoch das Kribbeln in den Fingern zu spüren, dieses Kribbeln, das mir sagt, dass ich schreiben muss, jetzt sofort, dass meine Kreativität nach außen will, sich meine Gedanken überschlagen und ich für einen Moment diese Brücke schaffen kann, diese Brücke zwischen meinen inneren Gefühlen und der außen liegenden Realität.

Dieses Mal ist es kein fein säuberlich ausgewähltes Briefpapier, welches mit meiner Tinte beschmutzt wird, sondern die Rückseite des Poetry Slams über das Reden, welchen ich nach wie vor noch nicht zerrissen habe. Warum auch immer.


***

Hey du,

ich weiß nicht wer du bist, jedenfalls weiß ich das nicht zu jenem Moment, in dem ich das hier schreibe,... Ich kann nur so viel sagen, wenn du diesen Brief bekommen hast und damit meine ich wirklich persönlich überreicht und nicht irgendwie gefunden, dann bist du eine wirklich tolle und besondere Person.

Ich habe meine Gründe warum ich das hier schreibe, aber ich möchte diese im Moment nicht erwähnen, bitte nehme das einfach hin, aber wenn du wirklich so toll und besonders bist wie ich vermute, dann wirst du dahingehend hoffentlich sowieso keine Fragen stellen.

Es mag absurd klingen,- ist es vielleicht auch, weil ich dich ja nicht kenne,- aber ich würde gerne ein paar Dinge aufzählen, die dich zu einem ganz besonderen und liebenswerten Menschen machen.

Da wären...

Dein Lächeln – weil jedes Lächeln einen Menschen auf eine gewisse Art und Weise charakterisiert und da ein wahres, von Herzen kommendes Lächeln in meinen Augen eines der schönsten Geschenke ist.

Deine Augen – die bei jenem beschriebenen Lächeln strahlen, in was für einer Farbe auch immer, das ist nicht von Bedeutung, aber sie strahlen, das definitiv und sie geben einen Einblick in dein Inneres. An ihnen kann man ablesen was du fühlst, ob du traurig, besorgt oder glücklich bist und in diesem Moment bist du hoffentlich letzteres.

Deine Hände – weil sie Artikulieren und Gestikulieren können, und sind sie dazu nicht in der Lage, ist das auch okay, weil sie dennoch zu deinem Körper gehören.

Ebenso wie deine Beine – die dich durch die Welt tragen, oder vielleicht tun sie das auch nicht und dennoch zeichnen sie dich aus, weil niemand die gleichen Beine hat, wie die deinen – zum Glück!

Dein Mund, deine roten Lippen – zum Worte Formen, Sätze, vielleicht um zu singen oder einfach um zu schweigen. Es ist okay – alles ist okay!

Dein Herz – weil es schlägt, tagein tagaus, mal schneller und mal langsamer, wie schlägt es im Moment?

Deine Vergangenheit – weil sie zu dir gehört. Weil sie dich geprägt und geformt hat und dich zu dem Menschen gemacht hat, der du heute bist.

Deine Zukunft – in der nichts unmöglich ist. In der du alles schaffen kannst.

Deinen Charakter, dein Ich – das was mich überhaupt erst dazu veranlasst hat, dir diesen Brief zu geben. Denn egal wie du tickst, egal was dich aus macht, egal was deine Schwächen und deine Stärken sind, Gott liebt dich genau so wie du bist und ich... Ich mag all diese Sachen scheinbar auch an dir, denn sonst würde ich dir diesen Brief sicherlich nicht überreichen. Du bist toll, so wie du bist!

Dieser Moment, dein Moment – in dem du diesen Brief liest und ich dir sagen möchte wie lieb ich dich habe.

Mein Moment – in dem ich Tränen in den Augen habe, weil ich nicht weiß ob dieser Brief jemals irgendeinen Empfänger finden wird, weil ich solche Dinge normalerweise nur meiner besten Freundin schreibe und ich Angst habe, Angst niemanden mehr zu finden wie sie, niemandem dem ich diesen Brief anvertrauen würde, weil er besonders ist, weil hier nicht ich spreche, sondern mein Herz.

DU bist eine wundervoll einzigartige Person – du kannst nur genau das sein.

Ich habe dich lieb.

Leica

***


Ich schließe die Augen, schlucke den Klos in meinem Hals hinunter, lasse die Tränen einfach fließen. Ich bin zufrieden, zufrieden mit dem was ich da geschrieben habe, ich mag es, ich mag diesen Brief bis zu einem gewissen Grad, nur den Poetry Slam da auf der Rückseite will und kann ich nicht weiter geben und deshalb nehme ich mir einen frischen Bogen Briefpapier und schreibe alles noch einmal fein säuberlich ab.

Jetzt ist es perfekt.

Perfekt bis zu jenem Punkt, an dem es einen Empfänger finden muss und ich habe keine Ahnung wer das sein soll, wenn nicht Betty, aber da ich nur zu gut weiß, dass diese über einen Brief ihrer eigenen Challenge nicht sonderlich begeistert wäre, belasse ich es bei ihrem Ratschlag. Den Brief schiebe ich in das Außenfach meiner Tasche und warum auch immer verschwindet jener mit dem Poetry Slam irgendwo ganz weit nach unten. Unter Schulhefte, Bücher und Stifte, jedoch in jener Tasche in welche auch der andere, abgeschriebene Brief steckt. Mein Herz hängt daran, an dem ersten, dort wo meine Handschrift nicht perfekt ist, das Papier zerknittert und dessen Worte ohne Nachzudenken den Weg aufs Papier gefunden haben.

Ich weiß dennoch, Bettys Challenge ist erst abgeschlossen wenn ich einen Empfänger finde und ich weiß wirklich nicht wo ich den finden soll, wenn aber, dann in der Gemeinde und deshalb mache ich mich am nächsten Tag tatsächlich auf zur allwöchentlichen Jungschar.

Es tut gut wieder nach draußen zu kommen, raus aus meinem Zimmer, weg von meinen Gedanken und all den Poetry Slams der letzten Wochen und Monate, zurück in die Realität.

Ich weiß, dass Gott mich begleitet, überallhin, auch wenn ich aus dem Haus gehe und ich bin motiviert und voller Hoffnung und dennoch holen mich die Gedanken an Betty binnen Sekunden ein. Wieder einmal habe ich mit den Tränen zu kämpfen. Ich hasse es.

Das Ganze beginnt schon, als ich in unseren kleinen Golf einsteige. Omas Angebot zu fahren habe ich abgelehnt, zu groß die Angst vor ihrem Fahrstil und der Tatsache sie verlieren zu können, oder sogar mein eigenes Leben.

Sie hat viel gelernt, meine Oma, aber aus Bettys Tod irgendwie nichts. Seitdem fährt sie gefühlt noch schneller.

Selten fahre ich ganz allein, Betty meist mit mir.

Allein ist es langweilig zu fahren, in meinen Augen sowieso viel zu gefährlich. Betty hat es geliebt.

Mit geöffneten Fenstern sind wir gemeinsam über die Landstraßen gedüst, die Musik so laut wie nur irgendwie möglich, singend und Betty neben mir tanzend, so gut das eben angeschnallt geht. Abschnallen habe ich ihr immer verboten, aus gutem Grund. Dennoch hat sie sich nach draußen gelehnt, anderen Menschen gewunken und manchmal sind wir extra ein Stückchen Autobahn gefahren, nur dann natürlich wenn Stau war, denn in Bettys Augen gab es keine bessere Möglichkeit um von Gott zu erzählen.

Einmal hatten wir die Fenster hinunter gekurbelt und sie hat der Fahrerin neben uns von unserem Glauben erzählt, ein anderes Mal stand Betty irgendwo mitten im Stau, zwischen all den Autos und hat mit massenweise Leute geredet. Alles mitbekommen habe ich leider nicht, mein Los war es im Auto zu sitzen und dieses immer wieder ein paar Meter vor rollen zu lassen, bis sich der Stau dann plötzlich aufgelöst hat, ich angehupt wurde, auf Betty wartete, die nirgends auftauchte und schließlich doch weiter fuhr. An der nächsten Tanke, mindestens 20 Kilometer weiter habe ich meine Freundin wieder auffinden können, sie ist mal kurz mit ein paar Typen mitgefahren, weil mitten in einem Gespräch über den Glauben die Autos plötzlich gefahren sind und aufhören geht natürlich nicht.

Ernsthaft ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht, ohne Grund natürlich, denn Betty kann, wie sie selbst sagt gut auf sich selbst aufpassen, dennoch dieses Mädchen raubt einem noch den letzten Nerv.

Und ein weiteres Mal ist sie auf dem Dach unseres super alten Golfes gestanden und hat gepredigt. Wir standen über eine Stunde im Stau, wegen einem Unfall, es ging nicht vor und auch nicht zurück und ich glaube sämtliche Autofahrer haben sich zum ersten Mal in ihrem Leben, bei einem stundenlangen Stau nicht gelangweilt oder gar die Geduld verloren und wir, wir hatten jede Menge Spaß.

Und in diesem Fall hatte Betty wirklich jede Menge Geduld, im Bezug auf das Predigen sowieso und was den Stau betraf gleich doppelt, weil sie den Kontakt zu Menschen, sowie ein wenig Spaß und Adrenalin verknüpfen konnte.

Plötzlich fühle ich mich allein im Auto. Der kleine Golf ist zu groß für mich allein, oder ich zu klein für ihn. Bettys starke Anwesenheit fehlt. Sie hat den Wagen immer mit Leben gefüllt, nun ist sie nicht mehr da, nur noch diese Stille und meine Tränen, die den Blick verschleiern und...

Die Panik breitet sich in meinem Körper aus, ehe ich es realisieren kann.

Was ist wenn ich wegen der Tränen einen anderen Wagen übersehe?

Was ist wenn ich einen Unfall baue?

Was ist wenn jemand in mich hinein fährt?

Jemand betrunkener vielleicht? Oder jemand wie meine Oma?

Wie fühlt es sich an, wenn ein Auto die Brücke hinab stürzt? Wenn ein Krankenwagen die Brücke hinab stürzt? Alle Insassen tot.

Ich merke wie mir schwindlig wird.

Immer mehr. Alles beginnt sich zu drehen.

Ich schlucke, mein Hals ganz trocken, ich habe Angst zu ersticken, mir fehlt die Spucke und die Luft.

Was wenn man in einem Auto kollabiert, während man fährt? Was wenn man ohnmächtig wird?

Was wenn ein Kind vor mir auf die Straße rennt und ich bremsen muss, so stark, dass ich das Leben des Kindes rette und mein eigenes verliere?

Schweiß auf meiner Stirn, meinen Händen.

Das Lenkrad scheint mir aus den Fingern zu gleiten.

Meine Füße zittern wie Espenlaub.

Was wenn ich nicht mehr rechtzeitig bremsen kann?

Was wenn ich das Kind doch überfahre?

Wenn ich lebe und es stirbt?

Mir wird schlecht, ich muss würgen.

Dann trete ich die Bremse. Die Kupplung habe ich vergessen. Der Wagen hopst. Niemand da.

Der kleine Golf kommt am Straßenrand zum stehen.

Stille.

Ich öffne die Türe und übergebe mich.

Die Sekunden schleichen dahin, als wären es Minuten.

Autos fahren an mir vorbei, schauen mich an, halten nicht an.

Dann stoppt ein Wagen, den ich gar nicht kommen gesehen habe.

Ein Motor geht aus.

Stille.

Jemand hält meine Haare zurück. Jemand streicht mir immer wieder tröstend über den Rücken.

Ich würge und spucke und kann gar nicht mehr aufhören.

Zittere am ganzen Leib. Friere.

Jemand legt mir eine Jacke über die Schultern. Hält mich, damit ich nicht falle.

Ich schmecke die Magensäure, es widert mich an.

Die Tränen verschleiern meinen Blick, nach wie vor, dennoch nehme ich die warmen, braunen Augen sofort wahr, als ich mich umdrehe.

Ein sanftes Lächeln.

Ich weine nur noch mehr.

Ich werde in den Arm genommen. Spüre den ruhigen Herzschlag direkt an meinem Ohr. Auch ich werde ruhiger. Langsam ebbt das Zittern und Würgen ab. Ich werde ganz schlaff.

Schaue wieder auf.

Es ist ein Junge.

Braune, ungekämmte Wellen umrahmen sein Gesicht. Er wirkt müde, niedergeschlagen irgendwie.

Ich würde ihm gerne helfen, doch es geht nicht.

„Ich will nach Hause.", kein Wort verlässt meinen Mund, es sind lediglich die Lippen, die sich bewegen. Mein Hals trocken und einfach eklig.

Er schaut mich an, reagiert nicht.

Ich versuche meine Worte zu wiederholen, scheitere, Tränen in den Augen.

Er scheint nicht zu verstehen, bemerkt immerhin, dass ich ihm etwas mitteilen will.

Er löst sich etwas von mir. Fischt in seiner Hosentasche nach seinem Handy.

Entsperrt es. Ich folge seinen Bewegungen. Verstehe nicht wirklich.

Dann hält er es mir unter die Nase. Ich starre auf das Display.

Ich kann dich nicht verstehen. Du musst schreiben.

Ich nicke, habe nicht einmal die Kraft um nachzufragen. Mit zitternden Händen suche ich die Buchstaben auf seiner Tastatur.

Ich will nach Hause.

Ein leichtes Lächeln und Nicken seinerseits.

Ich bringe dich, in Ordnung?

Ich bejahe und beginne erneut zu weinen, als mir klar wird – ich bin abermals gescheitert, gescheitert im Erfüllen der Challenge und ebenso gescheitert einen Schritt zurück zu gehen, einen Schritt zurück ins Leben – back to life.


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