1. Jelena - Leseprobe -

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Ich fühlte mich mit meinen roten Haaren wie eine Außenseiterin. Dazu mein blasses Gesicht welches über und über mit Sommersprossen bedeckt war. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, von allen ausgelacht zu werden. Natürlich verletzt es mich noch immer, wenn ich Sprüche wie "Freckleface strawberry" oder "Dreckgesicht" höre, aber ich habe gelernt, sie zu ignorieren. Zumindest augenscheinlich. Ich reagiere einfach nicht darauf und fresse alles in mich hinein. Dass das auf Dauer nicht gesund sein kann, habe ich vor einem Jahr selbst merken müssen. Vor einem Jahr habe ich das erste Mal die Klinge über meinen Arm gezogen. Durch meine blasse Haut fallen die dünnen Narben kaum auf. Das macht es mir leichter, meinem Umfeld vorzutäuschen, dass alles in Ordnung sei.

Mittlerweile ist die Klinge zu meinem besten Freund geworden. Ich halte es nicht eine Woche ohne sie aus. Mein linker Unterarm besteht inzwischen mehr aus Narben als aus normaler Haut. Bis jetzt hat es keiner gemerkt. Und ich hoffe, das wird auch so bleiben. Vor allem vor meinen Eltern muss ich es verstecken. Sie tolerieren keine Andersartigkeit, obwohl dies in der heutigen Welt als normal angesehen werden sollte. Meine Mutter wollte mich sogar in einer Klinik anmelden, als ich mich geoutet habe. Mein Vater konnte sie mit Mühe davon abhalten, auch wenn er mich seitdem genauso verabscheut wie meine Mutter. Ihm ging es nur darum, dass ich besser kochen kann als meine Mutter und den Haushalt schmeißen kann, wenn sie mal wieder einen langen Tag hatten.

Die Zeit danach war der reinste Horror für mich. Jede Woche hat meine Mutter mir neue Jungs vorgestellt, die für mich in Frage kommen würden, um mich wieder auf den "richtigen Weg" zu bringen. Die meisten waren schleimige Typen aus reichen Familien wie unserer. Sie haben kein Geheimnis daraus gemacht, wie sehr sie mich verabscheuen. Zum Glück sind sie nie lange da geblieben, da sie immer einen Grund vorgetäuscht haben, um zu verschwinden. Jedes Mal, wenn wieder einer ging, brüllte meine Mutter mich an, dass ich mir mehr Mühe geben sollte. Dass es meine Schuld sei, dass mich kein Junge will. Wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass ich nicht an Jungen interessiert bin, ist es vermutlich tatsächlich meine Schuld, dass keiner mich will. Seit ich mich vor 2 Jahren geoutet habe, mache ich kein Geheimnis darum, dass ich nicht auf Männer stehe. So etwas macht ziemlich schnell die Runde. Im Nachhinein betrachtet hätte ich es lieber nicht an die große Glocke hängen sollen, doch andererseits hätten meine Mitmenschen auch einen anderen Grund gefunden, für den sie mich fertig machen könnten.

Heute ist der 1. Schultag nach den Sommerferien. Eigentlich habe ich mit der Schule an sich überhaupt keine Probleme. Würden meine Mitschüler nicht ständig über mich herziehen, würde ich sogar gern dort hin gehen. Leider ist dem nicht so. Dementsprechend demotiviert steige ich aus meinem Bett, nachdem mein Wecker pünktlich um halb 7 geklingelt hat. Wie jeden Morgen sitze ich erst einmal 5 Minuten am Rand der Matratze und denke über mein Leben nach. Versuche, wie jeden Morgen verzweifelt irgendetwas gutes zu finden. Irgendetwas, dass mir zeigt, dass mein Leben doch nicht ganz so scheiße ist, wie ich immer annehme. Und jeden Morgen muss ich erneut feststellen, dass es da nichts gibt. Ich habe ja noch nicht einmal Freunde. Keinen einzigen. Aber an dieser Schule ist das auch kein Wunder. Alle da haben ihre festen Gruppen. Wenn man da neu dazukommt und nicht in den Rahmen passt, hat man eigentlich gar keine Chance, irgendeinen Freund zu finden. Geschweige denn sogar eine Beziehung aufzubauen.

Womit wir beim nächsten Thema wären. Der Liebe. Ich war noch nie verliebt. Nie wirklich jedenfalls. Natürlich gab es da immer mal wieder ein paar Schwärmereien, wie das halt so ist. Aber bei keiner davon könnte man wirklich sagen, dass ich mich in diese Frau verliebt hätte. Ein weiterer Punkt, der mich zum Außenseiter macht. Ich wandere vollkommen ungeküsst durch diese Welt. Die einzigen Personen, die ich geküsst habe, sind meine Eltern. Und das auch nur bis ich 6 Jahre alt war.

Wie immer wird mir nach den 5 Minuten bewusst, dass ich ein Leben ohne Liebe führe. Ich habe niemanden. Nicht mal meine Eltern lieben mich. Wäre ich nicht ihre Tochter, hätten sie mich vermutlich bereits vor die Tür gesetzt. Doch da sie keine Probleme mit dem Gesetz wollen und die tolle Vorzeige - Familie sein wollen, haben sie das noch nicht getan.

Du bist es wert - LESEPROBEWhere stories live. Discover now