30-Kunterbunt

250 22 32
                                    

„SUN", HAUCHT MEIN FREUND ein paar Minuten später in meine Haare. „Hm?", brumme ich ebenso leise. „Hast du Lust, ein bisschen raus zu gehen?" Ich überlege kurz. „Noch ein paar Minuten kuscheln und dann?", schlage ich vor. Ich höre und spüre, wie er lacht. „Sehr gern. Wir können ja auch heute Abend noch ganz viel kuscheln", beruhigt er mich. „Und das restliche Leben lang auch." Seine Stimme ist kaum zu verstehen, doch seine Worte lösen ein riesiges Feuerwerk in mir aus. Ich hebe meinen Kopf, um ihn überwältigt anzuschauen. „Das klingt toll, Love", flüstere ich schließlich, obwohl ich nicht das Gefühl habe, dass dies seiner Aussage auch nur ansatzweise gerecht wird. Aus diesem Grund lehne ich mich herunter, um ihm zusätzlich noch einen so liebevoll wie möglichen Kuss aufzudrücken.

Irgendwie war es dann doch nicht nur ein Kuss, sondern eine romantische, langsame Knutscherei. Mit der Hand meines unverletzten Arms stütze ich mich ab, die andere liegt behutsam auf seiner Wange. Mein Freund hat seine Hände in meinen Seiten abgelegt, wo er ab und zu mit dem Daumen über meine Haut streicht. Ich genieße die Situation in vollen Zügen, obwohl ich nach wie vor immer noch ein ganz kleines bisschen aufgeregt bin, wenn ich Mio küssen darf. Allerdings wird sich das wahrscheinlich so schnell nicht ändern. Zumindest hoffe ich das.

Mein Freund stößt ein tiefes Seufzen aus, als ich mich schließlich wieder von ihm löse. Einen Moment scheint er den Nachklang unseres Kusses noch mit geschlossenen Augen zu genießen, dann gibt er mir den Blick in dieses faszinierende Graublau frei. „Weißt du, was mir grade auffällt?", fragt er mich dann. Seine Hände fahren gemächlich über meinen Rücken. „Was?", will ich wissen. „Diese ganzen Beziehungssachen – kuscheln, langsam küssen, als Paar auftreten, jemanden an seiner Seite zu haben – bin ich ja gar nicht gewohnt. Früher hatte ich einfach immer nur Sex, das wars. Oder ich hab bedeutungslos mit jemandem rumgemacht. Jetzt habe ich keinen Sex, aber ne Beziehung, und fühle mich so viel erfüllter", erklärt er mir.

Ich grinse. „Das können wir ändern, mit dem Sex meine ich. Dann würdest du dich noch erfüllter fühlen", zwinkere ich ihm zu. „Urg, Krissi!", macht Mio mahnend. Lachend weiche ich seiner Hand aus, die mit leichtem Schwung auf meine Wange zugeflogen ist. „Also wirklich, seinen Freund schlägt man doch nicht!", beschwere ich mich gespielt entrüstet. „Nein? Was macht man dann mit ihm, wenn er frech ist?", grinst Mio. Ich lehne mich vor, sodass meine Nasenspitze seine berührt. „Ihn ins Besinnungslose küssen", flüstere ich. Der Dunkelhaarige überlegt einen Augenblick, dann schiebt er mich von sich herunter und steigt aus dem Bett.

„Oder man gibt ihm einfach nicht das, was er will!", ruft er mir über die Schulter zu. Mir hat die Aussicht auf seine nackte Rückseite leider die Sprache verschlagen, was nicht besser wird, als er sich umdreht. „Sag mal, hast du ne Ahnung, wo meine Boxershorts gelandet ist?", erkundigt er sich bei mir, ehe er beginnt wissend zu schmunzeln. „Ne", mache ich abwesend. Heilige Kartoffel, dieser Typ ist ein Traum. „Ach, da ist sie ja!" Mio beugt sich vor und fischt das gesuchte Kleidungsstück neben dem Fußende seines Bettes vom Boden. Schneller als mir lieb ist, schlüpft er hinein. Schluckend richte ich meinen Blick wieder in sein Gesicht, was klar aussagt, dass er mich liebend gern geärgert hat.

„Du.... megaheißer Idiot", versuche ich ihn zu beschimpfen, wofür ich nur ein Lachen ernte. „Steh jetzt auf, du Spinner", bittet er mich mit einem liebevollen Lächeln. „Nur, wenn ich dann einen Kuss kriege", stelle ich eine Bedingung. „Das lässt sich bestimmt einrichten", nickt mein Freund, weshalb ich schnell die Decke wegschiebe und aus dem Bett zu ihm hüpfe. Mio presst seine Lippen vielleicht eine knappe Sekunde auf die meinen, bevor er wieder einen Schritt zurück geht. „Mio! Nicht dein Ern..." Er unterbricht mich mit einem weiteren, längeren, süßeren Kuss.

„Hm, da hast du ja grad noch mal Glück gehabt", brumme ich, als sich unsere Lippen voneinander trennen. Mein Freund blickt mir aus nächster Nähe tief in die Augen. „Da hast du recht. Ich habe riesiges Glück gehabt", flüstert er, doch seine Stimme klingt so bedeutungsschwer, dass mir klar ist, dass er seine Aussage ganz anders meint als ich meine. Wieder bin ich unfassbar fasziniert davon, wie süß er ist.

Zehn Minuten später radeln wir nebeneinander durch die Straßen. Mio hat einen mit Spraydosen gefüllten Rucksack auf dem Rücken und führt mich zu einer Wand, bei der es wohl keinen interessiert, wie sie aussieht. Tatsächlich stehen wir kurz drauf neben einer Mauer, die Mitten auf einer Wiese am Stadtrand steht. „Was zum Teufel war das mal?", wundere ich mich, doch mein Freund zuckt nur mit den Schultern, indessen er mir eine Maske reicht. „Hier, setz die auf, dann atmest du den Dampf nicht ein", bittet er mich. Über seine niedliche Besorgnis den Kopf schüttelnd ziehe ich mir die Bänder ebenso wie er über den Kopf.

„Sind hier schon Kunstwerke von dir?", will ich wissen, wobei ich an der Mauer entlanggehe und er seinen Rucksack auskippt. „Oh ja, einige. Clemens und ich sind relativ oft hier. Manche wurden aber auch schon von anderen Leuten übermalt, damit Platz für neues ist. Das ist so ein ständiger Wandel hier, find ich eigentlich ganz schön", erklärt er, während er ein paar Schritte zurücktritt und konzentriert eine halbwegs freie Fläche anstarrt. Lächelnd beobachte ich ihn dabei.

Eine knappe Stunde später hat mein Freund eine wunderschöne kunterbunte Fläche geschaffen und mir dabei mehrmals ebenfalls eine Dose in die Hand drücken wollen. Allerdings habe ich jedes Mal mangels Vertrauen in meine künstlerischen Fähigkeiten dankend abgelehnt. Stattdessen habe ich mich darauf beschränkt, Mio schlicht und ergreifend zu bewundern und eventuell das ein oder andere heimliche Foto zu schießen.

Mittlerweile hat sich der Himmel leicht rötlich verfärbt und die umliegenden Bäume werfen einzelne lange Schatten. Mio hat auf seinen Hintergrund ein künstlerisches Love is Love gesprüht, welches er gerade noch ausfüllt. Schließlich scheint er fertig zu sein, denn er macht einen Schritt zurück und lässt seine Hand sinken. Vorsichtig trete ich auf ihn zu, um sein Kunstwerk mit ihm zusammen zu betrachten. Da er seine Maske abnimmt, tue ich es ihm gleich.  Liebevoll lege ich einen Arm um seine Taille. Er lässt die Sprühdose fallen und schlingt seinen Arm um meine Schultern.

„Gefällt es dir?", will er leise wissen. „Was ist das denn für eine Frage?", lache ich leise. „Es ist wundervoll." Mio zieht mich noch ein Stückchen näher an sich. „Freut mich", murmelt er. Langsam drehe ich den Kopf zur Seite, um sein hübsches Profil bewundern zu können. Einen Augenblick später wendet er sein Gesicht ebenfalls mir zu. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Mundwinkel, als er sich das kleine Stückchen zu mir herunterbeugt. Erwartungsvoll schließe ich meine Augen, um kurz drauf seine Lippen auf meinen zu spüren. Zärtlich küsst er mich eine kurze Weile, dann löst er seinen Mund von meinem und drückt mir einen sanften Kuss auf die Stirn.

Und wenn Clemens genau in diesem Moment zufällig aufgetaucht ist, wenn Mios Profilbild ein paar Stunden später zu einem Foto von zwei sich im Sonnenuntergang vor einem kunterbunten Graffiti küssenden Jungs wechselt, wenn sein Status zu Ich wollte mich bedanken, dafür, dass du mir zeigst, dass ich etwas gut finden kann, du bist der Beweis – KUMMER umgeändert wird, wenn beim nächsten Campus-Tag ein weiteres stolzes Mitglied der lgbtq+-Community hinter dem Queer-Stand steht, dann ist es wunderbare Zukunftsmusik, zu der wir in diesem Augenblick überglücklich Rumba tanzen. 

KunterbuntWhere stories live. Discover now