V. luxuria

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Die nächste Woche verging in einer verschwommenen Abfolge von Nächten ohne Schlaf und Gesprächen auf dem Dach.

Jim glaubte nicht, jemals in seinem Leben so viel gesagt zu haben - schon gar nicht zu einer einzigen Person. Doch die Worte fielen ihm geradezu von den Lippen (ebenso wie der Regen, an dessen kalte feuchte Finger, die ihm über Haut und Kleidung fuhren, Jim sich mittlerweile gewöhnt hatte) und es war, als könnte er endlich jemandem von all diesen Sachen erzählen, die er nur mit sich selbst hatte teilen können, weil es nie jemand anderen gegeben hatte.

Dabei waren seine Gespräche mit Sebastian nicht einmal tiefgründig oder sonderlich ernst; viel öfter rissen sie schlechte Witze oder spaßten auf andere Weise. Alles andere war Subtext. Alles andere, das Jim nicht ganz greifen oder erkennen, kaum beschreiben konnte, weil diese ... Bindung, die er zu Sebastian hatte, eine ganz neue Erfahrung für ihn war.

Eine Erfahrung, die ihm unglücklicherweise wichtige Stunden an Schlaf raubte, weil Sebastian gern zu gottlosen Stunden auf dem Dach saß und in die Nacht sah und Jim sich nicht recht dazu bringen konnte, ihre nächtlichen Treffen einmal ausfallen zu lassen.

So war es kein Wunder, dass Jim am Freitagmorgen mit leerem Blick in sein Müsli starrte und mehr im Traum als in der Realität wandelte. Letzte Nacht hatte Sebastian ihn lachend in sein Bett geschickt, als Jim während ihres Gesprächs beinahe zur Seite weggekippt und eingeschlafen wäre. Jim wusste genau, dass Sebastian nach seinem Gehen noch Stunden auf dem Dach verbracht hatte und irgendwie behagte ihm dieser Gedanke nicht.

„Jim?", sprach seine Mutter ihn an. Sie saß ihm gegenüber und hatte eisern geschwiegen, nachdem Jim nur schlecht gelaunt auf ihre Versuche reagiert hatte, ein Gespräch zu führen. (Schlafmangel.) (Und außerdem war sie seine Mutter und verstand sich bestens darauf, ihn zu nerven.)

„Hm?", brummte Jim und die Haferflocken klatschten auf halbem Weg zu seinem Mund vom Löffel zurück in die Schüssel, sodass die Milch überschwappte und auf den hölzernen Esstisch kleckerte. Gereizt schob Jim seinen Stuhl zurück, um einen Lappen zu holen, wobei er gegen den Tisch stieß und noch mehr Milch auf dem Tisch landete. Am liebsten hätte Jim seine Schüssel gegen eine Wand geschleudert. Stattdessen machte er seinem Frust schnaubend Ausdruck, während seine Mutter unbeeindruckt zusah, wie er in die Küche marschierte.

„Ich wollte mit dir reden."

Jim hielt inne und runzelte die Stirn; das bedeutete normalerweise nie etwas Gutes. „Worüber?", fragte er dementsprechend misstrauisch.

„Ich werde noch einmal nach London reisen müssen. Dieses Mal für eine Woche. Und dieses Mal würde ich dich auch gern mitnehmen."

Jims Stirnrunzeln vertiefte sich. „Wieso?" Erwartete sie tatsächlich, dass Jim ihr schon wieder hinterherdackelte und das auch neben abgesagten Theaterbesuchen und ständigen Landeswechseln? Jim hatte wirklich genug davon, immer nach ihrer Pfeife zu tanzen, immer am metaphorischen Nacken gepackt und mitgeschleift zu werden, wenn es seiner Mutter gerade passte und aus demselben Grund immer wieder irgendwo abgesetzt zu werden. Er war doch kein Hund, zur Hölle nochmal!

Seine Mutter hob die Augenbrauen, als wäre sie über Jims genervten Tonfall tatsächlich erneut überrascht. „Ich dachte, es hätte dir dort gefallen."

Hatte es ja auch. Und trotzdem grollte irgendwo in seinem Inneren Wut wie ein wildes Tier und vielleicht war es tatsächlich der Schlafmangel, der ihn dazu veranlasste, damit herauszuplatzen, was er schon so lang dachte: „Aber darum geht es dir gar nicht, richtig?" Er bedachte seine Mutter mit einem abschätzigen Blick, dass ihre Miene ganz finster wurde. Jim ließ sich davon nicht beeindrucken. „Merkst du eigentlich, dass du mich wie eine Handtasche und nicht wie einen Sohn behandelst?!"

Everything is BlueWhere stories live. Discover now