III. saligia

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Es war ein grauer Tag (alle Tage waren grau, verdammt) und Jim hatte keine Lust auf Chemie.

Sein Privatlehrer, Mr Williams, versuchte über dem Laptop auf Jims Schoß seit einer halben Stunde diesem den Unterrichtsstoff näher zu bringen und schon vor einer halben Stunde hatte er Jims Interesse und Aufmerksamkeit verloren.

Jim hasste es, Privatunterricht zu bekommen. Dabei waren Mr und Mrs Williams, das junge Ehepaar, das ihn im auf Auftrag von Jims Mutter in allen möglichen Fächern unterweisen sollte, verhältnismäßig nett. Mr Williams war für alles zuständig, das irgendwie mit Naturwissenschaft oder Mathe zu tun hatte, während Mrs Williams ihn in gesellschaftlichen und sprachlichen Fächern unterrichtete. Die beiden waren geduldig und ertrugen sogar Jims Launen und sie schrieben keine Arbeiten mit ihm, sondern führten ein neues Thema ein, wenn Jim das alte verstanden hatte, aber Jim hasste den Privatunterricht über die Videokamera seines Laptops trotzdem, denn er machte alles nur noch schlimmer.

Es war, als würde Jim in einer gläsernen Glocke leben: Er sah und hörte alles, konnte aber unmöglich daran mitwirken. Es war, als wäre er in allen Aspekten seines Lebens von der Außenwelt isoliert. Und manchmal war er sich nicht sicher, ob er sich vor der Welt oder die Welt sich vor ihm verschloss.

Was er wusste, war, dass er gern zur Schule gehen würde. Zu einer öffentlichen oder privaten, einem Internat oder einer Ganztagsschule, ganz egal. Hauptsache er wäre nicht mehr der einzige Schüler, der Unterricht von den immer gleichen zwei Lehrern bekam, übers Internet, weil Jim immer zu weit weg war und seine Lehrer immer dort blieben, wo sie waren.

Von der Fensterfront im Wohnzimmer lieferten die Regentropfen sich Rennen und Jim verfolgte jede einzelne ihrer Bahnen mit seinen Augen.

Er fragte sich, ob Sebastian jetzt in der Schule war, wie es Jim so, wie es war, niemals möglich wäre, oder ob er erneut auf dem Dach lag, schlafend oder lesend oder wartend.

Ob er sich wohl, würde er in eine normale Schule gehen, mit Sebastian angefreundet hätte? Würde ihm der unweigerliche Abschied in einigen Wochen oder Monaten dadurch dann schwerer fallen? Oder wäre es genauso leicht gewesen wie all die Abreisen aus den Ländern zuvor? Immerhin hatte Jim gelernt, sich nie zu sehr an Menschen zu binden, gerade, wenn er wusste, dass er sie wieder verlassen würde.

Unweigerlich fragte er sich, ob er sich im Gegenteil je daran gewöhnen könnte, die immer gleichen Menschen um sich zu haben. Immer am gleichen Ort zu sein, sein ganzes Leben dort zu leben, so wie viele Leute es taten.

Die Regentropfen flossen immer schneller die Scheibe herunter und Jim konnte den Blick einfach nicht abwenden.

Wenn ich irgendwo für immer bleiben würde, dachte Jim, dann sicher nicht in Liverpool.

Er würde einen weitaus besseren Ort finden, der nicht zu heiß und nicht zu nass und nicht zu hell und nicht zu voll war. Und dann würde er dort Wurzeln schlagen oder doch zumindest aus seiner Glasglocke treten und frische Luft schnappen und den Regen spüren.

Nicht, dass es ihm verboten wäre, jetzt auf den Balkon hinauszugehen und sich vom Regen durchweichen zu lassen. Doch zum einen würde das einen seltsamen Eindruck auf Mr Williams machen und zum anderen ging es Jim ja nicht darum. Es ging ihm um Freiheit oder wenigstens der Illusion davon. Es ging ihm darum, selbst zu bestimmen. Es ging ihm darum-

„Jim!", riss ihn Mr Williams leicht erhobene Stimme plötzlich aus seinen Gedanken. „Jim, hörst du mir überhaupt zu?"

Jim blickte noch kurz auf einen besonders dicken Wassertropfen und wandte sich dann dem Laptop zu, auf dessen Bildschirm Mr Williams ihn streng hinter seiner Brille ansah. „Natürlich."

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