II. invidia

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Eine Woche nachdem Jim in sein neues Zuhause eingezogen war, hatte er wieder diesen Traum.

Er besaß weder Handlung noch Sinn, noch bestand er aus mehr als aus Eindrücken, die wie ein Hagelsturm auf Jim niederprasselten. Diese Eindrücke waren Farben; Farben, die Jim eigentlich nicht sehen konnte.

Seit seiner Geburt schon war er farbenblind und er war damit aufgewachsen und kannte keine andere Welt als die graue, in der er lebte. Durch eine grausame Fügung des Schicksals war es ihm jedoch noch möglich, kurzwelliges Licht zu erkennen und, hatte er es anfangs noch als Geschenk empfunden, dadurch zumindest Blautöne - den Himmel, das Meer, Jeans - zu sehen, war es mittlerweile beinahe wie Folter, weil es Jim einen Blick durch das Schlüsselloch gewährte, in die Welt, aus der er selbst ausgesperrt war. Eine Welt voller Farbe, voller Leben und Bewegung. Es wäre leichter für ihn, wäre einfach alles schwarz und weiß und grau, denn dann würde er nichts vermissen, das er nicht haben konnte.

Und trotz dessen, dass das Blau ihn verspottete, konnte er nie aufhören, es zu betrachten. Weil es alles war, was Jim bekommen würde, weil er sich damit zufrieden geben musste.

Was er manchmal tat. Viel öfter aber träumte er von all der Buntheit, die man ihm genommen hatte, ohne, dass er sie je besessen hatte. Natürlich sah er keine wirklichen Farben, denn egal, wie oft er versucht hatte, sie sich vorzustellen, er hatte sie eben doch nie gesehen. Als Jim klein gewesen war, hatte seine Mutter versucht, ihm die Farben, die sie sehen konnte, zu beschreiben. Schnell war sie jedoch an ihre Grenzen gelangt, als sie versucht hatte, ihm die Farbe Rot mit dem Adjektiv rot zu beschreiben. Danach hatte sie es einige Tage lang darauf beruhen lassen und war dann irgendwann wieder auf ihn zugekommen, nachdem sie einen Ratgeber für Eltern von blinden Kindern gelesen hatte, in dem es gehießen hatte, man könne diesen Farben am besten mit Sinneseindrücken, die sie bereits kannten, erklären. Grün war das kühle Gras, der glitschige Frosch im Garten, die scharfe Pfefferminze. Rot war die Wärme einer Kerze, die Hitze in den Wangen, der Geschmack von warmen Traubensaft. So hatte seine Mutter ihm die Farben einen ganzen Tag lang erklärt, immer wieder waren ihr neue Beschreibungen eingefallen (das war damals gewesen, als sie noch Zeit für ihren Sohn gehabt hatte). Und Jim hatte zugehört, hatte die Farbbegriffe den ihm bereits bekannten Wahrnehmungen zugeordnet, hatte versucht, Farbe ans Innere seines Verstandes zu projizieren.

Aber Jim war nicht blind, nicht vollständig, er konnte sehen (verschwommen und nicht weit, aber er konnte es). Manchmal dachte er, dass er lieber wirklich blind wäre, weil dann seine anderen Sinne geschärft wären. So aber konnte er die Zitrone in die Hand nehmen, sie berühren, schmecken und sehen - und wusste doch nicht, wie sie aussah.

Dennoch, die Beschreibungen seiner Mutter begleiteten ihn oft in den Schlaf. Und dann träumte er von all den Farben, die er sich nicht vorstellen konnte und obwohl es niemals genug war, kam es ihm im Traum vor, als wäre die Welt tatsächlich nicht mehr grau-blau. Aber dann wachte er auf und alles, was blieb, war der Geschmack nach Minze und die Wärme der Kerzen und die weiche, punktierte Schale einer Zitrone.

In dieser Nacht wurde er ruckartig aus ebendiesem immer gleichen Traum gerissen. Einen Moment konnte er nicht sagen, was es war, das ihn geweckt hatte, aber dann hörte er, fern und leise, eine schrille Stimme.

Blinzelnd setzte er sich auf und tastete auf dem kleinen Nachttischchen neben seinem Bett nach seiner Brille. Die half aber auch nicht viel in der Dunkelheit, also schaltete Jim zusätzlich seine Lichterkette an und stolperte in dem kühlen Licht zur Tür.

Auf dem Flur konnte er das Geschrei bereits deutlich lauter hören - und das war es: Geschrei. Eine Person, der Stimmhöhe nach eine Frau, schrie irgendjemanden an.

Jim folgte dem Lärm durch das Wohnzimmer, in der die Stehlampe eingeschalten war und Jims müde Augen sogleich attackierte, und in den kurzen Flur bis vor die Haustür, vor der seine Mutter bereits in ihrem Nachthemd stand, die Lippen verärgert zusammengekniffen und mit einem Ohr an der Tür.

Everything is BlueWhere stories live. Discover now