26. Kapitel

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Daß vieles in unserem Leben anders kommt, als wir es uns vorgestellt haben, hat den Vorteil, daß wir viel weiter kommen, als wir eigentlich gehen wollten.

Ernst Ferstl

Shamal erwachte nicht aus seiner Bewusstlosigkeit

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Shamal erwachte nicht aus seiner Bewusstlosigkeit. Nicht am nächsten Morgen, nicht am Tag darauf und auch nicht nach fünf Tagen. Vala versuchte verzweifelt, ihn irgendwie aus dieser tiefen Starre zu reißen. Sie schüttelte ihn, redete ihm gut zu und gab ihm einmal sogar eine Ohrfeige, aber alles war vergebens. Er wirkte wie tot und das hätte sie auch gedacht, wenn seine Brust sich nicht heben und senken würde. Sie hatte überlegt, ihm etwas Wasser einzuflößen, doch sie fürchtete, dass er sich verschlucken und sterben könnte. Er war so schon schwach genug. Tief in ihrem Inneren gab sie Hilgard die Schuld für seinen Zustand, aber sie musste sich immer wieder daran erinnern, dass das nicht so war. Shamal war selbst gestolpert und hingefallen.

»Salg«, murmelte Hilgard plötzlich am sechsten Tag und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung der untergehenden Sonne. Vala folgte ihrem Blick, weil sie nicht verstand, was das Mädchen meinte. Seit dem misslungenen Fluchtversuch hatten sie kaum mehr miteinander geredet. In einiger Entfernung erkannte Vala die Umrisse einer großen Stadt. Sie bekam eine Gänsehaut. Wird Vitsak dort Halt machen, um uns zum Verkauf anzubieten?

»Was ist das für eine Stadt?«, fragte sie leise.

»Salg ist die größte Sklavenstadt im Nordland«, antwortete Hilgard mit leicht zitternder Stimme. »Alle kennen sie. Alle meiden sie. Wer sie als freier Mensch betritt, kann leicht für immer dort bleiben. Ob als Sklave oder Besitzer von Sklaven hängt von ihm selber ab. Wenn ich schon eine Sklavin werde, dann auf keinen Fall in Salg. Dort überlebt man vielleicht einen Monat, als Kind noch weniger.«

Vala wollte etwas sagen, doch ihr fiel nichts ein. Stattdessen rutschte sie näher zu Shamal und deckte ihn mit einem dreckigen Stofffetzen zu. Nachts war es immer kälter als tagsüber. Auf einmal ertönte ein spitzer Schrei. Sie fuhr herum und entdeckte Isolde, die sich mit den Händen an den Gitterstäben festklammerte und zur Stadt blickte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie stieß erneut einen Schrei aus und fing an, ihren Kopf immer wieder gegen die Metallstangen zu hämmern, bis Blut ihre Stirn hinab lief. Keiner hielt sie auf. Die restlichen Kinder befanden sich einfach nur in einer Art Schockstarre. Vala wollte aufstehen, um das Mädchen davon abzuhalten, sich selbst weh zu tun, doch Hilgard hielt sie fest.

»Lass sie.«

»Aber warum? Sie verletzt sich doch selber!«

»Das ist ihre Entscheidung«, erklärte Hilgard. »Ich habe dir doch erklärt: Sie ist ein Schwächling, keine Adlige. In Salg ist sie höchstens als Blutopfer für die Felder zu gebrauchen. Als Sklavin wäre sie zu schwach. Niemand würde mehr als fünf Münzen für sie bezahlen. Sie stirbt besser als freies Mädchen als als Opfer.«

Vala konnte nicht hinsehen, aber sie hörte, wie Isoldes Kopf immer wieder gegen das Gitter stieß. Dann gab es ein Knacken, das ihr bis ins Mark ging. Den Rest des Abends wagte sie es nicht, in die Richtung zu gucken, wo Isolde früher gesessen hatte.

Pazifik - VerfolgtWhere stories live. Discover now