Illusion

77 8 2
                                    

5. K A P I T E L ║ Illusion

»Du bist verrückt. Aber ich liebe dich. Aber du bist verrückt!«


Touko sah sich um. Es war still. Es patrouillierten weder Soldaten hier, noch schlichen sich andere Gestalten in diesem Teil des Schlosses herum. Sie atmete erleichtert aus und öffnete den Schreibtisch von G-Cis. Dort versteckte er seine Tagebücher. Touko schnappte sich das erste Werk, vor lauter Neugier auf der Unterlippe herumbeißend, und begann zu lesen:

25. Juni 1998

[...]Er kann weder vernünftig laufen noch sprechen, ist völlig verwildert, abgemagert und verwirrt. Nicht einmal die Spur eines gesunden Verstandes scheint noch in ihm zu stecken. Sein Anblick erfüllt mich mit Ekel und Mitleid. [...] Er muss nun fünf Jahre alt sein. Ein Wunder, dass er überlebt hat. [...]

29. Juni 1998

Er kommuniziert noch immer mit Pokémon. Er ist eine wertlose, ekelhafte Kreatur, unwürdig für diese Welt. Doch ich darf mich nicht von meinen Gefühlen kontrollieren lassen. Für die Zukunft werden mir seine unmenschlichen Fähigkeiten nützlich sein.

[...] Obwohl er sich Menschen gegenüber noch immer ängstlich zeigt, scheint er Interesse an mir zu haben und lässt sich auf Geschenke ein. Vielleicht erkennt er mich. [...] Kleidung trägt er nur ungern. Er zieht sich ständig wieder aus und zerreißt sie. Seine Sozialisation schreitet nur sehr langsam voran. [...]

02. August 1998

Sein Zustand verschlechtert sich. Heute saß er den ganzen Tag in seinem Zimmer, bewegte sich nicht und aß nichts. Ich ließ wie immer die Pokémon zu ihm, die von ihren Trainern misshandelt wurden, damit er mit ihnen spricht. Langsam scheint er eine emotionale Bindung zu ihnen aufzubauen. [...]

02. Februar 1999

Er erinnert sich schneller an das Sprechen, als ich erwartet habe. So langsam bereue ich es, dass ich es ihm gelehrt habe. Dieses ständige Geplapper... [...] Egal was ich ihm sage, er saugt es auf wie ein trockener Schwamm, ohne es zu hinterfragen. Er ist ein leeres, seelenloses Gefäß und dafür bestimmt, mit meinen Idealen genährt zu werden. [...] Er scheint abhängig von meiner Zuwendung zu sein. [...] Minna und Elfriede bauen langsam Kontakt zu ihm auf.

17. November 1999

Ich hätte niemals gedacht, dass so viel Potenzial in ihm steckt! Es hätte ewig in ihm geschlummert, wenn ich ihn nicht nach meinen Vorstellungen erzogen hätte. [...] Unter meiner Anleitung wird er lernen, seine Fähigkeiten für den richtigen Zweck einzusetzen. [...] Mathematik scheint ihn am meisten zu gefallen – die Eigenschaften der Zahlen, ihre bloße, unumstößliche Existenz... [...] Natural Harmonia Gropius. Ein Name, der der außergewöhnlichen Intelligenz des Kindes gerecht wird. [...]

07. Januar 2002

Natural entwickelt großen Hass auf Trainer. [...] Mit ihm als Führer der Drachen wird es mir möglich sein, über Einall zu herrschen und eine Welt nach meinen Idealen zu erschaffen. Weder die Liga noch andere Trainer werden uns aufhalten können. Wir sind dafür bestimmt, über die Menschen zu herrschen, denn sie sind minderwertig.

Touko schlug das Buch zu. In ihrem Hals hatte sich ein Kloß gebildet. Es war also wahr, was über ihn gesagt wurde.

ナチュラル


Ein penetrantes, piependes Geräusch riss Touko aus ihrem traumreichen Schlaf. Noch mit geschlossenen Augen fuchtelte sie mit ihren Armen herum und versuchte nach dem Klingeln zu greifen. Dann krachte sie von irgendwo herunter und landete unsanft auf ihre prall gefüllte Tasche. Wie das passierte, war ihr egal. Sie wollte nur, dass das Geräusch aufhörte und tastete sich deshalb halb blind voran. »Oh shit!« Sie rieb sich die Schläfen und realisierte, dass sie von ihrer Mutter angerufen wurde. Immerhin hatte sie noch ein Wörtchen zu sagen, nach diesem plötzlichen Geständnis.

ℕatural Numbers  [ Pokémon Schwarz / Weiß ]Where stories live. Discover now