Kapitel 6

36 7 3
                                    

Ich schrecke hoch und reibe mir die Augen. Gerade hatte ich so einen schrecklichen Albtraum. Ich habe geträumt, dass ich mit Eric in einem Dschungel gefangen bin und alle unsere Klassenkameraden gestorben sind. Uns würde das auch passieren, wenn wir nicht innerhalb zwei Wochen wieder entkommen. Was für ein Schmarrn!

Doch als ich mich kurz umsehe, erblicke ich nur Bäume um mich herum. Ich bin in einem Wald und habe eben auf einem Laubhaufen geschlafen. Aber wieso nur? Gerade geht die Sonne auf und eine Gruppe Papageien fliegt über mich hinweg. Seit wann gibt es die in Deutschland? Vielleicht bin ich gar nicht da. Aber wo bin ich dann?

Plötzlich erinnere ich mich wieder. Es war kein Traum, es war alles real. Eric und ich sind hier gefangen und müssen ums Überleben kämpfen. Ein kalter Schauder läuft meinen Rücken hinunter und mein Herz pocht immer schneller. Ich habe die größte Angst meines Lebens. Außerdem wärmt das trockene Laub, auf dem ich liege, nicht sonderlich und es ist kalt hier. Wo ist meine Jacke? Und ich habe Durst und Hunger. Auf die Toilette muss ich auch ganz dringend.

Oh nein! Es fehlt noch etwas. Genau genommen jemand. Eric. Wieso ist er nicht da? Wo ist er? Vielleicht hat er sich doch dazu entschieden mich sterben zu lassen und alleine zu flüchten, weil ich nur ein Hindernis darstelle. Ich hätte netter sein sollen. So ein Mist! Jetzt bin ich alleine. Egal, ich schaffe es auch ohne ihn. Eric kann mich mal. Aber er hat meine Sachen, er hat alles in seinem kleinen doofen Rucksack, der aus seinem T-Shirt entstanden ist. Vielleicht hat er mir die Sachen ja weggenommen, weil er will, dass ich sterbe. Ich habe ihn immer gehasst, es könnte auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich bin viel zu naiv, jetzt habe ich es davon.

,,Hey, bist du endlich wach?", ruft Eric mir entgegen und hüpft mit einem aus Ästen geflochtenen Korb auf mich zu. Ich atme erleichtert aus. Er wollte mich doch nicht alleine lassen. Ein schlechtes Gefühl umgibt mich, weil ich ja ernsthaft geglaubt habe, dass er mich wollte sterben lassen. Das war gemein von mir.

Sein Korb ist voller verschiedener Pilze und sofort läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Wir haben gestern gar nichts zu essen gekriegt.

,,Ich habe mir einen Korb gebastelt und habe kurz Pilze gesammelt. Bist du schon lange wach?", fragt Eric. Ich schüttele den Kopf. Ich bin noch voll überfordert von der Situation. Gestern hat mich der Alkohol beruhigt, doch ab heute werde ich für ganze zwei Wochen frei davon sein. Ich werde essen und trinken in der Natur suchen müssen und ich werde große Strecken laufen müssen, um es zu schaffen ans Ziel zu kommen. Eine gesunde Ernährung und Sport werden mir sicher gut tun.

Fast schon freue ich mich jetzt hier mit Eric zu sein. Entsetzt über mich selbst schüttele ich den Kopf. Ich brauche Damion und meine anderen Freunde, Drogen, Alkohol, Zigaretten, Partys... Auf gar keinen Fall ist eine gesunde Ernährung, Sport und Zeit mit Eric nötig. Oder rede ich mir das nur ein?

Plötzlich weiß ich gar nicht mehr, was ich will. Obwohl es hier bisher ja nicht gerade schön war und ich ja auch noch nicht so lange hier bin, kommt es mir vor wie im Paradies. Ich fühle mich wohl hier, irgendwie wie zuhause. Noch nirgendwo habe ich mich zuhause gefühlt und es kommt mir plötzlich vor, dass mein ganzes Leben in der Stadt nur Verschwendung war. Es scheint so, als hätte ich nie so richtig gute Freunde gehabt. Nie habe ich jemandem vertrauen können, so wie ich es gestern bei Eric getan habe. Er hätte mich wirklich alleine lassen können, doch ich war mir sicher, dass er das nicht tut und bin sogar auf seinem Rücken eingeschlafen. Ich schaue zu ihm und lächele. Er lächelt schüchtern zurück.

In dem Moment ändert sich meine Meinung wieder. Er ist schüchtern, unbeliebt und uncool. So etwas wie ihn kann ich gar nicht gebrauchen. Ich muss so schnell wie möglich raus hier und wenn das nur mit seiner Hilfe geht, dann ist es eben so. Ich darf ihn auf gar keinen Fall anfangen zu mögen und noch weniger darf ich mich mit ihm anfreunden. Ich muss daran denken, dass wir wieder zurück kommen. In unserem normalen Leben passen wir einfach nicht zusammen. Irgendwie bin ich hin und her gerissen und weiß gar nicht, was ich denken soll. Wie soll ich das nur zwei Wochen lang aushalten?

Bevor ich länger nachdenken kann, meldet sich meine Blase zu Wort. Ich muss ganz dringend aufs Klo, aber hier gibt es keines. Ich kann doch nicht zwei Wochen nicht aufs Klo gehen. Das wäre tödlich. Aber was sonst?

Es ist mir furchtbar peinlich, aber ich sage Eric Bescheid. Er meint: ,,Natur?" Ich verziehe angeekelt mein Gesicht. Ich bin doch kein Tier! Das ist voll unhygienisch. Außerdem kann ich meine Hände dann nicht waschen. Wo ich grad ans Händewaschen denke, wo gibt es hier etwas zu trinken? Ich erinnere mich an die Wasserflaschen.

,,Ich habe Durst. Gib mir meine Flasche.", befehle ich Eric und er beginnt in seinem Rucksack zu kramen. Als er die Flasche herauszieht, nehme ich sie hastig entgegen. Noch nie habe ich mich so über eine Flasche Wasser gefreut. Ich trinke den Inhalt komplett leer, obwohl das Wasser eigentlich nicht so gut schmeckt. Ich weiß, Wasser kann nach nichts schmecken, aber ich bin irgendwie schon der Meinung. Mir persönlich schmeckt nur Volvic Wasser, obwohl ich eher Cola oder Energy-Drink trinke, wenn ich kein Alkohol habe. Nachdem ich meinen Durst so halbwegs gelöscht habe, muss ich nur noch dringender auf die Toilette.

Ich kann es nicht länger aushalten, also erkläre ich Eric, dass ich jetzt doch mal irgendwo hinter einen Busch gehe oder so. Ich mache mich auf den Weg. Der Baum ist definitiv zu dünn. Dieser Busch? Ne, von hinten könnte man mich sehen. Ich laufe weiter und weiter in den Wald hinein und schaue mich nach einem geeigneten Platz um. Hier schaut es echt aus wie im Urwald. Meterhohe, dicke Bäume stehen dicht an dicht. Lianen hängen von ihnen hinunter und ich muss mich durch Sträucher hindurch kämpfen. Irgendwann bleibe ich inmitten eines Kreises, bestehend aus Büschen stehen und verrichte dort mein Geschäft.

Als ich wieder aufblicke, rutscht mir das Herz in die Hosentasche. Vor mir steht ein Leopard und faucht mich an. Scheiße! Die Raubkatze ist riesig, hat lange Zähne und schaut so aus, als würde sie sich schon darauf freuen mich als Frühstück zu verspeisen. Mit geweiteten Augen schaue ich mich nach einer Möglichkeit zu entkommen um, doch ich stehe hier mitten im tiefen Dschungel alleine mit einem wilden Tier. Weglaufen lohnt sich nicht, denn ich glaube mich zu erinnern, dass Leoparden die schnellsten Tiere der Welt sind und selbst die flinksten Antilopen nicht davonkommen können.

Ich sehe mein Leben plötzlich an mir vorbeiziehen. In dem Moment wünsche ich mir, ich hätte vieles anders gemacht. Ich bin doch erst so jung. Muss ich jetzt wirklich schon sterben? Tränen überströmen mein Gesicht und ich gebe alle Hoffnung auf. Jetzt ist es vorbei. Wenn doch wenigstens Damion und meine Freunde zu meiner Beerdigung hätten kommen können. Hier wird mich der Leopard wahrscheinlich mit Haut und Knochen verschlingen. Ob er meine Knochen wohl so essen wird, wie ein Hund seinen Kauknochen aus der Tierhandlung? Die Vorstellung ekelt mich.

Ich könnte Eric um Hilfe rufen, aber damit würde ich nur auch ihn noch in Gefahr bringen. Das will ich auf gar keinen Fall, denn zugegebenermaßen mag ich ihn eigentlich. Ich werde eh gleich sterben, also darf ich jetzt endlich an ihn denken. Er ist so hübsch, schlau und talentiert. Es war so behindert von mir, gemein zu ihm zu sein und mit meinen angeblichen Freunden sogar über ihn zu lästern und ihn auszulachen. Ich wünschte ich könnte die Zeit zurückdrehen und dann vieles anders machen.

Nicht nur bei Eric. Ich hätte netter zu meinen Eltern sein sollen, ich hätte mich in der Schule etwas mehr anstrengen sollen, ich hätte nicht so scharf auf verbotene Sachen sein sollen, ich hätte nicht so viel feiern dürfen und vieles mehr. Aber jetzt ist es zu spät mich zu verändern und die Zeit zurückdrehen kann man auch nur in Filmen.

Ich schaue dem Leoparden in die gelben Augen und warte darauf, dass er seine Zähne in meinem Hals vergräbt.

Mit Eric durch die Wildnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt