XXXVII

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Am Abend ist die kurze Lebensdauer des Schnees schon wieder abgelaufen. Weiß wird zu tristem Grau, Grau versickert und ich sehe von meinem Fenster aus zu. Hinter mir befindet sich ein unordentlicher Haufen Klamotten und mein Notizbuch dazwischen. Mehr Besitztümer habe ich nicht. Ich ziehe einem meiner Polster den Überzug ab und zerschneide ein Nachthemd, um einen Henkel daraus zu machen, den ich dann an meiner provisorischen Tasche anknote. Eigentlich wollte ich Arkyn nach einer Tasche fragen, aber schließlich habe ich mich doch dagegen entschieden. Wenn ich ihn schon mein restliches Leben lang nie wieder sehen werde, dann kann ich auch diesen letzten Tag bei den Gestaltenwandlern alleine überleben. Ich lasse mich zwischen meinen wenigen Besitztümern nieder und überlege, was ich mitnehmen soll. Eigentlich bräuchte ich nichts, aber schließlich entscheide ich mich dafür, einen warmen Pullover, eine Packung Streichhölzer und mein Notizbuch einzupacken. Vielleicht sollte ich doch noch zu Arkyn, um mir ein Wurfmesser zu holen, überlege ich. Die Entscheidung wird mir abgenommen, als es an die Tür pocht. Wobei pocht eine Untertreibung ist. Irgendjemand drischt die Tür praktisch mit den Fäusten ein.

„Ich bin's", ertönt Arkyns Stimme von draußen und wie auf Kommando spielt mein Herz verrückt. Ich springe auf die Knie und stürme zur Tür, wobei ich natürlich über ein herumliegendes Kleidungsstück falle und mit dem Ellbogen über die Wand scheuere.
Fluchend reiße ich die Tür auf, bereit Arkyn eine Standpauke über Vandalismus zu halten, doch der verzweifelte Ausdruck in seinen Augen lässt mich verstummen, bevor ich überhaupt den Mund öffnen konnte.
„Was ist denn mit dir los?", frage ich stattdessen und er schlüpft unter mir hindurch ins Zimmer, wo ich schnell mit dem Fuß meine aufgestapelte Unterwäsche zur Seite schiebe.
Arkyn scheint die Unordnung nicht zu stören. Er lässt sich keuchend an der Bettkante nieder und vergräbt den Kopf in den Händen, um sich zu sammeln. Unschlüssig bleibe ich im Raum stehen.
„Verdammt, Clarice", beginnt er dann und verschluckt sich beinahe an seinen eigenen Worten, „Ich glaube, die wissen was."
Mein Herz setzt einen Schlag aus und trommelt dann doppelt so schnell gegen meinen Brustkorb.
„Wovon spricht du?", wispere ich und ein Hauch Panik schwingt in meiner Stimme mit. Ich weiß nur allzu gut, was er mir sagen will, aber mein Gehirn ist nicht in der Lage, seine Worte zu realisieren.
Arkyns Stimme ist dünn und brüchig, als er fortfährt. „Ich habe durch Zufall mitbekommen, dass heute Abend eine Versammlung des Dunklen Rates stattfindet. Zwei Mitglieder haben darüber geredet, dass die Königin eine Notfallsitzung einberufen hat."
Ich atme erleichtert aus. „Aber das ist doch nicht so schlimm. Wir verhalten uns einfach ruhig, unauffällig und sagen nicht viel. Danach kann ich immer noch fliehen und ..."
„Du verstehst nicht, Clarice", unterbricht er mich und ich klappe den Mund zu, „Wir sind nicht auf diese Sitzung eingeladen. Wenn es so wäre, dann hätte uns längst jemand Bescheid gesagt."

Jetzt erst dämmert mir, was das zu bedeuten hat. Wie immer brauche ich doppelt so lange wie Arkyn, um eine faule Situation zu erkennen. „Du meinst, dass die Königin etwas wittert und sich deshalb der Rat versammelt? Und die Sitzung wird vor uns geheim gehalten, damit wir nicht erfahren, dass sie uns auf der Spur sind?", schließe ich mit schriller Stimme.
Arkyn reibt sich über die Stirn, als habe er Kopfschmerzen, und nickt.
„Wenn die etwas wissen, sind wir so gut wie tot. Wir beide, denn ich bin auch nicht zu dieser verdammten Sitzung eingeladen, was bedeutet, dass die Königin auch mich verdächtigt."
„Und was machen wir jetzt?" Mein Kopf fühlt sich wie leergefegt an, während ich versuche, die Vermutung zu verarbeiten. Wie kann die Königin wissen, dass ich nicht die bin, für die mich alle halten? War sie diejenige, die das Notizbuch gefunden hat? Oder jemand aus dem Rat? Aber selbst wenn jemand in dem Buch gelesen hat, erkennt derjenige doch nicht automatisch unseren Plan. Irgendetwas stimmt hier nicht.
„Wir müssen irgendwie in diese Versammlung kommen. Wir müssen erfahren, wie viel sie wissen", erwidert Arkyn und sein ernster Blick trifft meinen.
„Und wie willst du das bitte anstellen? Dort unten kann man sich nirgendwo verstecken."
„Ich habe auch nicht vor, mich zu verstecken. Wozu hat man Gestaltenwandlerfähigkeiten?", flüstert Arkyn und ein halb schelmisches, halb verzweifeltes Grinsen stiehlt sich auf seine Lippen.

SchattenmächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt