XXII

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Heute Abend brennt die Welt. Sie versinkt in den züngelnden Flammen der Sonne. Die schwarzen Baumstämme scheinen in der Ferne zu glühen und ihre Schatten, größer als sie selbst, kriechen über den Boden. Sein blasses Gesicht ist in Sonnenuntergangsorange getüncht, in seinen Augen funkelt das Feuer. Nur eine Schramme auf seiner Wange zerstört den gemäldeartigen Anblick.
Wir sitzen auf den Steinstufen, die zum Anwesen hinaufführen, schweigend und in Gedanken versunken, während es um uns herum Nacht wird.
„Ich habe noch nie so einen schönen Sonnenuntergang gesehen. Zumindest nicht hier", sage ich; leise, um die Stimmung nicht zu zerstören.
Arkyns dreht seinen Kopf zu mir. Er sagt nichts, aber ich weiß, dass er dasselbe denkt wie ich.
Wie kann es hier zeitweise so schön sein, wenn der Schattenwald doch ein so grausamer Ort ist?
Wir verfallen wieder in Schweigen, warten darauf bis es stockfinster ist und denken nach.
Ich muss an heute Morgen denken. Arkyn und ich waren zum zweiten Mal im Schattenwald. Wir sind relativ gut vorangekommen und diesmal sind wir auf keine Todträgerin oder irgendein anderes Wesen gestoßen, das uns umbringen wollte.
Mein Blick wandert zur Turmuhr, deren Zeiger sich langsam der Sechs nähert; in einer Stunde gibt es Abendessen und um Mitternacht beginnt die Zeremonie. Dann werde ich ein waschechtes Ratsmitglied sein und bei dem Gedanken daran kribbelt es in meiner Magengrube.
„Bist du nervös?", fragt Arkyn, als könnte er meine Gedanken lesen.
„Ein bisschen", gebe ich zu und er zieht seine Mundwinkel ein kleines Stück nach oben. „Brauchst du nicht. Die Zeremonie ist sowas von unspektakulär."
„Solange ich nicht Blut aus einem Kelch trinken muss, ist mir das recht."
Arkyn sieht mich stumm an, in seinen Augen spiegelt sich der Sonnenuntergang.

~~~~

„Gelobst du deine gesamte Kraft in deine Position als Ratsmitglied zu investieren?"
„Ja, ich gelobe."
„Gelobst du alles in deiner Macht stehende zu tun, um uns Gestaltenwandlern die Freiheit zu garantieren?"
„Ja, ich gelobe."
„Gelobst du dem Bund der Gestaltenwandler ewige Treue?"
„Ja, ich gelobe."
Alles, was ich verspreche, ist gelogen.
„Somit bist du in den Dunklen Rat aufgenommen, Clarice Ovun. Mögen deine Taten und dein Mut uns Gestaltenwandlern in tausend Jahren noch in Erinnerung sein."
Als ich den Kopf hebe, blicke ich in Arkyns Augen, die vom Fackellicht erhellt sind und aussehen wie Brunnen aus flüssiger Schokolade. Ich senke mein Haupt, als hätte sein bloßer Anblick meine Augäpfel verbrannt.

~~~~

Vor wenigen Stunden noch stand die Welt in Flammen, jetzt scheint sie in einer Sturzflut meiner Tränen zu versinken. Ich fühle mich fürchterlich, weil ich die Gestaltenwandler betrüge und ich fühle mich fürchterlich, weil ich mich deswegen fürchterlich fühle.
In meinem Kopf herrscht Chaos und ich kann die lauten Schluchzer nicht unterdrücken, während ich zu den zwölf Göttinnen bete, dass die Wände dick genug sind, um mein Weinen den anderen Gestaltenwandlern zu ersparen.
So liege ich in meinem neuen Bett – in einem mir fremden Zimmer – und starre Löcher an die Decke, während Tränen über meine Wangen laufen wie kleine Bäche, um schließlich im Polster zu versickern.
Die Zeremonie war tatsächlich unspektakulär, aber niemals könnte ich die falschen Versprechen vergessen, die ich geben musste. Erneut quellen die Tränen aus meinen Augen.
Auf einmal vernehme ich ein leichtes Klopfen. Irritiert halte ich die Luft an und versuche mein Schluchzer zu ersticken. War das gerade bloße Einbildung oder hat jemand an meiner Tür geklopft?
Ich bleibe wie erstarrt im Bett liegen und lausche in die nächtliche Stille. Meine Tränen sind plötzlich versiegt.
Klack, klack.
Erschrocken sauge ich die Luft ein und springe vom Bett auf. Ich schleiche zur Türe, meine Finger legen sich um die kalte Klinke, und öffne sie. Draußen ist es dunkel und das Licht aus meinem Zimmer fällt in den Gang wie der Schein einer Lampe.
Arkyn lehnt im Türrahmen, die Arme verschränkt, und mustert mich mit gerunzelter Stirn.
„Ich versuche zu schlafen, falls es dir entgangen sein soll."
Entgeistert betrachte ich seine verstrubbelten Haare und die graue Jogginghose mit dem dunkelblauen T-Shirt, das er trägt.
„Ich hindere dich nicht daran", krächze ich schließlich; meine Stimme noch heiser vom Weinen.
„Doch genau das tust du. Man hört dich bis in mein Zimmer."
In diesem Moment ist mir alles zu viel. Ich breche erneut in Tränen aus. Mitten in der Nacht. Ohne jegliche Vorwarnung. Direkt neben Arkyn.
„Ach du heilige Scheiße", zischt dieser entgeistert, völlig überfordert mit der Situation – genau wie ich. „Was ist los? Tut mir leid, was ich gesagt habe, du darfst dir solche Sachen nicht so zu Herzen nehmen, das ist ..." – „Ich heul doch nicht wegen deiner blöden Sprüche", schniefe ich, während ich verzweifelt versuche, die Tränen zu stoppen, „Ich weine wegen dieser ganzen Kacke hier. Weil ich hier bin, weil ich jetzt im Rat bin und weil ..."
Erschrocken halte ich die Luft an. Um ein Haar hätte ich zu viel gesagt.
Und weil ich eine Spionin bin.
Arkyn runzelt die Stirn, vergräbt die Finger in seinen Haaren. Ich glaube, ich habe diesen Jungen noch nie so unsicher gesehen.
„Kacke sagt man nicht", flüstert er schließlich und ich kann nicht vermeiden, dass sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht stiehlt.
„Komm mit", sagt Arkyn; seine Stimme klingt weich und eine seltsame Ruhe breitet sich in mir aus, „Komm mit, ich will dir etwas zeigen."

~~~

„Wohin gehen wir?", frage ich mit rauer Stimme, während wir auf Zehenspitzen durch den Gang schleichen. „Das wirst du schon sehen", kommt es flüsternd zurück.
Meine Traurigkeit weicht in Aufregung.
„Es wird dir gefallen", verspricht Arkyn, als wir über die steinerne Treppe nach unten die große Eingangshalle betreten. Klares Mondlicht fällt durch die Fenster herein und tüncht den Raum in bläuliches Licht. Der Thron liegt verlassen im Schatten und verbirgt wie immer die Luke, die in den Versammlungsraum führt.
Zielstrebig steuert Arkyn eine der Truhen an, die die Wände der Halle säumen. Es ist die Truhe auf der linken Seite, die am nächsten zum Eingang liegt. Arkyn beugt sich darüber und gibt den Code eines rostigen Zahlenschlosses ein, das die Kiste verschließt. Ein Wunder, dass es bei seiner bloßen Berührung noch nicht auseinanderfällt.
Neugierig blicke ich ihm über die Schulter. „Ernsthaft? 1,2,3,4?", lache ich leise, „Das ist kein besonders kreativer Code." „Aber ich merke ihn mir dafür", gibt Arkyn zurück und hebt ächzend den Deckel der Truhe an.
„Willkommen in meinem Geheimraum", wispert er geheimnisvoll und zieht mich vor die Truhe, sodass ich direkt hineinblicken kann. Anstelle des Bodens der Holzkiste, erblicke ich eine steile Leiter, die in einen Kellerraum zu führen scheint.
„Genial", entfährt es mir und meine Blicke folgen Arkyn, der bereits die Leiter nach unten klettert. Wenige Sekunden später flammt unten eine Fackel auf und ich setze vorsichtig meinen rechten Fuß auf die erste Sprosse. Auf der letzten Sprosse angekommen, reicht mir Arkyn die Hand und ich springe auf den harten Steinboden.
Der Raum sieht genauso aus wie der Versammlungsraum, nur viel kleiner.
Die Decke ist gewölbt, an den Wänden entzündet Arkyn gerade weitere Fackeln, deren Flammen warmes Licht spenden. Bis jetzt fand ich den Versammlungsraum immer schon spannend, aber da kannte ich Arkyns Geheimzimmer noch nicht.
Über einem alten Schreibtisch aus dunklem Holz hängt – wie im Turmzimmer der Königin – eine riesige, vergilbte Landkarte Duniyas, daneben zieren kleine Notizzettel und weitere Pläne die Wand.
An der gegenüberliegenden Wand steht ein Diwan mit blasslila Bezug, der aussieht, als stamme er aus dem letzten Jahrhundert. In einem winzigen Regal daneben stapeln sich verschieden dicke Bücher und Kistchen.

„Was ist das für ein Raum?", frage ich und lasse mich auf den Diwan fallen, der ein lautes Quietschgeräusch von sich gibt, als würde er gleich zusammenbrechen.
Arkyn betrachtet mich belustigt.
„Das ist der zweite Kellerraum. Nur die Ratsmitglieder kennen ihn, aber er wird nicht verwendet, da er zu klein ist und außerdem ziemlich unpraktisch zu erreichen. Als ich gefragt habe, ob ich ihn benutzen darf, hat ihn mir die Königin überlassen. Gefällt es dir?"
Ein Grinsen zieht sich über mein Gesicht. „Es ist fantastisch."
Arkyn streckt sich neben mir auf dem Diwan aus und verschränkt die Hände hinter dem Kopf.
„Wieso zeigst du mir diesen Raum?", frage ich leise. Ich ignoriere die spannenden Landkarten hinter mir, auf denen es so viel zu entdecken gebe und blicke direkt in Arkyns dunkelbraune Augen, die im Fackellicht schimmern wie der schillernde Panzer eines Enigmaticus, eines wunderschönen Käfers, der in Duniya heimisch ist.
„Ich dachte, du könntest eine kleine Aufmunterung gebrauchen", antwortet Arkyn, aber ich weiß, dass er noch viel mehr sagen will. Etwas Unausgesprochenes liegt zwischen uns, auch wenn ich nicht sagen kann, was es ist.

Arkyn richtet sich vorsichtig auf, als hätte er plötzlich doch Angst, dass der instabile Diwan unter unserem Gewicht zusammenbricht. Er stützt seine Arme an den Knien ab und legt seinen Kopf in die Hände. „Was ist das für eine Kette, die du da trägst?", fragt er mich.
Automatisch wandern meine Fingerspitzen zu dem olivfarbenen Stein an dem goldenen Kettchen. Er liegt kühl auf meiner Haut und ist vermutlich die einzige materielle Erinnerung, die ich noch an Zuhause habe.
„Sie bedeutet mir sehr viel", beginne ich, „Meine Eltern haben sie mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt."
Arkyn erhebt sich vom Sofa und kniet sich lässig am Boden vor mir nieder.
Da ich auf dem Diwan sitze, begegnen wir uns auf Augenhöhe. Er streckt seine Finger nach der Kette aus und ich spüre, wie er über den Stein streichelt.
„Er ist olivfarben. Meine Lieblingsfarbe", bemerke ich, nur um die Stille zu durchbrechen.
„Sehr schön", sagt er leise und blickt mir direkt in die Augen. Ein warmer Schauer breitet sich auf meinen Armen aus. „Fast dieselbe Farbe wie deine Augen", stellt er fest und ich lache nervös. „Jetzt lügst du aber. Meine Augen sind ein Matsch aus Grün und Braun, aber niemals so zauberhaft olivgrün wie dieser Stein."
Arkyn lacht nicht mit, er sieht mich ernst an. „Das stimmt nicht. Deine Augen sind wunderschön. Sie sehen zu jeder Tageszeit anders aus; mal dunkler, mal heller, mal strahlender, mal düsterer."
„Und welche Farbe haben sie in diesem Augenblick?", flüstere ich, seine Worte lösen eine Welle der Gefühle in mir aus. Erstaunen überwiegt.
„Moosgrün", meint Arkyn schlichtweg, „Meine neue Lieblingsfarbe."


SchattenmächteWhere stories live. Discover now