XIX

141 15 19
                                    

Am nächsten Morgen weckt mich das Läuten der Glocken. Für einen winzigen Moment weiß ich nicht, wo ich bin und warum es in meinem Magen vor Aufregung unangenehm kribbelt. Dann fällt mir schlagartig alles ein. Der Schattenwald. Arkyn und ich. Unser Auftrag.
Stöhnend ziehe ich mir die kratzige Bettdecke über den Kopf. Ich fühle mich ohnehin schon gerädert, als wäre ich von einer Kutsche überfahren worden.
Schnell schlüpfe ich eine schwarze Hose und einen warmen grauen Pullover, den alle Gestaltenwandler für den Winter bekommen haben. Mein Blick fällt auf den Spiegel an der Wand und ich seufze auf. Dunkle Ringe umrahmen meine Augen, die leicht gerötet aussehen und meine Haare sind eine absolute Katastrophe. Wie ein Krähennest türmen sie sich auf meinem Kopf auf.
Ich versuche das blonde Etwas mit einem Kamm zu bändigen und streiche meine Wellen so gut wie möglich glatt. Dann begebe ich mich in den Speisesaal.

„Guten Morgen", nuschle ich Xanthio zu, der schon seinen Haferbrei in sich hineinschaufelt. Er nickt mir nur mit vollem Mund zu und würgt einen weiteren Bissen hinunter. „Du siehst heute absolut beschissen aus", sagt er und ich lache. Als ich noch ziemlich neu hier war, habe ich Xanthios Verhalten ähnlich wie Arkyns empfunden, aber inzwischen ist mir klar, dass die beiden nicht unterschiedlicher sein könnten. Xanthio reißt gerne blöde Sprüche, aber er ist ein herzensguter Mensch, mit dem man reden und lachen kann. Ich weiß nicht viel über ihn oder seine Vergangenheit, aber das beruht auf Gegenseitigkeit. Wir sind wie zwei Freunde, die sich schon ewig kennen und trotzdem nichts voneinander wissen.
Arkyn ist grundverschieden. Er ist ernst, in sich gekehrt und zeigt fast nie seine Gefühle oder Gedanken. Außerdem sind seine Bemerkungen häufig verletzend, man kann schwer einschätzen, ob er wirklich meint, was er sagt oder ob es nur Spaß ist. Mit Arkyn ist es einfach kompliziert.
„Wie viele Stunden Schlaf hast du bitte gehabt?", fragt Xanthio mich mit vollem Mund und deutet leise lachend auf das Krähennest auf meinem Kopf.
Ich sehe ihn böse an, muss dann aber doch lachen. Seine blonden Locken stehen in alle Richtungen ab und er macht sich über meine Haare lustig.
„Nicht sehr viel Schlaf", gebe ich zu und gähne demonstrativ.
„Also ich habe heute geschlafen wie ein Stein", wirft er ein, „Deine Augenringe reichen ja fast bis zu den Mundwinkeln."

~~~~

Heute ist ein glasklarer Novembertag. Die Luft ist kalt und so frisch, dass es beim Einatmen beinahe schmerzt. Das Gras ist von einer Tauschicht überzogen und auf den Wiesen lösen sich gerade eben die letzten Nebelschwaden in Luft auf, als würden sie am Tag zu Bett gehen, um am nächsten Morgen erneut die Felder zu verschlingen.
Ich umschlinge meinen Oberkörper mit den Armen und bibbere leicht vor mich hin. Arkyn lässt auf sich warten. Um neun sollen wir den Schattenwald betreten und dann einfach nur nicht sterben, bei dem Versuch einen Weg zum Tor zu finden.
Ein Quietschen ertönt hinter mir, als das Eingangstor geöffnet wird, und Arkyn kommt auf mich zu. „Ganz schön kalt, was?", sage ich, um das Eis zu brechen. Arkyn geht nicht darauf ein, sondern kommt gleich zum Wesentlichen. Er ist wirklich nicht der Smalltalk-Typ.
„Gehen wir? Oder willst du lieber noch ein bisschen über das Wetter plaudern?"
Ich verdrehe die Augen und folge ihm zum Tor, wo Rancor schon darauf wartet, uns hinaus in die Freiheit zu lassen. Falls der Schattenwald die Freiheit ist.
Arkyn geht vor mir, die Hände in den Taschen seines Pullovers vergraben. Mir wird warm, als ich daran denke, dass diese Arme mich gestern noch gestützt haben, als ich todmüde in mein Zimmer getorkelt bin.
Ich kann mich kaum noch an den gestrigen Abend erinnern. Nur das Gefühl, gehalten zu werden, hat sich in meinen Kopf eingeprägt. Hoffentlich habe ich nichts Peinliches gesagt.
„Du kannst uns rauslassen, Rancor", befiehlt Arkyn und Rancor dreht den Schlüssel im Schloss um.
„Viel Spaß. Ich lass euch wieder rein, wenn ihr keine Lust mehr auf die Todträgerinnen habt", krächzt Rancor und Arkyn lacht trocken.
Ich schweige. Bei dem Gedanken an die Todträgerinnen und all die anderen grausamen Wesen dort draußen bekomme ich Herzrasen.
„Auf dass wir einen Weg finden", flüstert Arkyn mir leise zu und seine dunklen Augen leuchten wie Bernstein.
„Auf dass wir einen Weg finden", wiederhole ich leise.
Ich werfe einen letzten Blick auf das Anwesen, dessen graue Fassade in warmes Morgenlicht getüncht ist, bevor ich hinaus in den Wald trete.
Vielleicht mein allerletzter Blick.

SchattenmächteWhere stories live. Discover now