XVII

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Es ist Samstagabend, draußen steht der Mond schon hoch am Himmel, aber hier drinnen bekomme ich nichts davon mit. Arkyn sitzt gegenüber von mir, wir beugen uns beide über ein Buch, dessen vergilbte Seiten im Kerzenlicht blass zu leuchten scheinen.
Gestaltenwandler und ihre Kräfte.
Die heutige Gestaltenwandlerstunde findet im Versammlungsraum statt.
Wie immer ist die Stimmung hier unten leicht unheimlich, aber inzwischen habe ich mich schon daran gewöhnt. Ich erschrecke mich nicht mehr, wenn ich eine fette Spinne an der Wand sehe oder wenn plötzlich eine Kerze ausgeht.
Stattdessen konzentriere ich mich darauf, mir Arkyns Worte zu merken und mir alle wichtigen Informationen einzuprägen, aber das ist schlichtweg unmöglich. Die Gabe der Gestaltenwandler ist so viel komplexer, als ich dachte.

„Okay, noch einmal langsam. Das Wichtigste, was du dir merken musst, ist: Im Schlaf nimmst du deine eigene Gestalt wieder an, ebenso wenn du ohnmächtig wirst. Wenn du getötet wirst, stirbst du und nimmst wieder deine echte Gestalt an. Du kannst die Gestalt von realen Menschen annehmen, aber auch von welchen, die es gar nicht gibt. Du kannst dich allerdings nicht in ein magisches Wesen verwandeln. Und..."
„Was ist mit Tieren?", unterbreche ich Arkyn, „Königin Zinariya meinte, das sei – ihres Wissens nach – nicht möglich, aber das klang nicht nach einem eindeutigen Nein."
Arkyn seufzt. „Das ist kompliziert. Ich müsste ziemlich weit ausholen, um dir das alles zu erklären", winkt er ab, aber jetzt hat er meine Neugier geweckt.
„Reicht denn nicht ein simples Ja oder Nein?"
Arkyn schüttelt leicht den Kopf und fährt sich durch das wellige Haar.
Ich lehne mich demonstrativ in den Sessel zurück und warte, dass er zu sprechen beginnt.
„Nichts im Leben kannst du mit einem simplen Ja beantworten, ebenso wenig wie mit einem Nein."
Schweigend lausche ich seinen Worten, die die Stille des Raumes ausfüllen.
„Wir Gestaltenwandler haben seit langer Zeit das Ziel, hier auszubrechen. Man kann hier zwar leben, aber es ist kein Leben, mehr ein Existieren, ein Verweilen. Doch – selbst wenn wir uns durch den Schattenwald kämpfen würden – könnten wir nicht freikommen. Durch das Tor könnten wir nur, wenn es uns jemand bewusst von außen öffnet."
„Das weiß ich bereits. Aber wieso könnt ihr nicht abhauen, wenn ein neuer Gestaltenwandler in den Wald gebracht wird? Die Wachen, die das Tor schützen, niederstrecken?", schlage ich vor und erschrecke mich, als ich merke, wie grausam das klingt.
Arkyn schüttelt erneut den Kopf, mein brutaler Vorschlag scheint ihn nicht aus der Fassung zu bringen. „Darüber haben wir auch schon nachgedacht, das würde nicht funktionieren. Erstens wissen wir nicht, wann jemand Neues kommt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir genau dann beim Tor sind, wenn ein neuer Gestaltenwandler den Wald betritt, ist ziemlich gering. Und zweitens muss dir jemand das Tor bewusst öffnen, damit du freikommst."
Automatisch wandern meinen Finger zu dem Kettchen um meinen Hals. Meine Karte in die Freiheit.
„Ihr – wir – haben keine Chance auszubrechen. Niemals würden uns die Wachen die Freiheit schenken", werfe ich ein und ignoriere die Tatsache, dass es kein wir gibt.

„Das ist ja noch nicht das Ende der Geschichte", meint Arkyn und fährt fort, „Es gibt eine Ausnahme. Tiere können jederzeit durch das Tor, sobald es offen ist, und sie können auch über die Mauer klettern. Ich habe diese Entdeckung gemacht, direkt an dem Tag, als ich in den Schattenwald geschickt wurde. Während sie mich durch das Tor schoben, ist ein Eichhörnchen an mir vorbeigehuscht. Es kam aus dem Wald. Aus dem Wald nach draußen, ohne dass ihm etwas passiert ist."
Ich stelle mir vor, wie Arkyn in den Wald bugsiert wird. Ob er sich gewehrt hat? Wohl kaum, denke ich, er hat sich bestimmt mit hocherhobenem Haupt seinem Schicksal gestellt.
„Ist deine Entdeckung der Grund, dass du in den Rat aufgenommen wurdest?", frage ich ihn und er lacht trocken.
„Glaub mir, ich kann weitaus mehr, als unschuldigen Eichhörnchen bei der Flucht aus dem Wald zuzusehen."
In seinen dunklen Augen spiegelt sich die tänzelnde Flamme und ich suche vergeblich nach dem tieferen Sinn in seinen Worten.

SchattenmächteWhere stories live. Discover now