XXXII

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Es ist dämmrig im Schattenwald, ich sitze auf einem der gegabelten Äste eines kohleschwarzen Baumes und lasse die Füße baumeln. Unter mir befindet sich nicht braune Erde, sondern schwarzweiße Fliesen, die mir seltsam bekannt vorkommen. Als ich mich nach vorne beuge, um meine gespiegelte Reflexion zu sehen, tropft Blut auf den Boden. Eins, zwei, drei. Ich zähle die Tropfen, die auf einer weißen Fliese landen, bis es so viele sind, dass sie sich zu einem Teich zusammenfügen, der stetig steigt und bald meine nackten Zehenspitzen berührt. Wo kommt das viele Blut her? Ich will mich gerade aufrichten, um auf einen höherliegenden Ast zu klettern, als mein Blick auf den Gegenstand fällt, den ich die ganze Zeit in der Hand gehalten habe. Es sieht aus wie ein Stück Fleisch, das sich zwischen meinen Fingern windet und pulsiert. Blut läuft mir über die Finger und tropft von dort hinab. Als ich erkenne, dass es ein pochendes Herz ist, das ich in den Händen halte, stoße ich einen gellenden Schrei aus.

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Es ist noch stockdunkel draußen, als ich aus dem Schlaf hochschrecke und mit weit aufgerissenen Augen auf meine Finger starre. Erleichtert stoße ich ein Seufzen aus, als ich weder Organe noch Blutbäche erkennen kann. Ich sinke schweratmend zurück ins Bett, doch an Schlaf ist nun nicht mehr zu denken.
Stattdessen klettere ich aus dem Bett, stelle die nackten Füße auf den kühlen Boden und atme ein paar Mal tief durch, bevor ich mich endgültig erhebe. Ich öffne meine Truhe und krame eine Hose und einen weiten Pullover hervor. Meine Mutter wäre wahrscheinlich entsetzt, wie oft ich seit meinem sechzehnten Geburtstag Hosen trage, aber in dem Moment ist mir das herzlich egal. Wer denkt, dass es mein größtes Problem ist, Hosen und Pullover statt Kleidern zu tragen, hat sich gewaltig geirrt.
Als ich aus meinem Zimmer trete, mein nachtblaues Notizbuch fest unterm Arm, lausche ich zuerst in die Stille, um festzustellen, ob das Fest eventuell immer noch in vollem Gange ist. Zum Glück bleibt es ruhig; keine Stimmen, keine Musik und keine Schritte zu hören.
Ich schleiche mich durchs Ganggewirr hinab in die Eingangshalle, die verlassen vor mir liegt. Der Boden glänzt längst nicht mehr so schön wie noch vor wenigen Stunden, an manchen Stellen klebt er ganz eklig von ausgeschütteten Getränken und ein miefiger Geruch hängt in der Luft.

Ich husche zum Thron der Königin und schiebe ihn mit aller Kraft zur Seite, bevor ich die Luke öffne und darin verschwinde. Unten angekommen entzünde ich zuerst eine Kerze und schiebe dann meine Hand unters Regal. Spinnweben bleiben daran kleben, aber es macht mir nichts aus. Ich habe auch größere Probleme, als ein paar mehr oder weniger kleine Krabbeltierchen.
Als ich endlich den Schlüssel zu fassen bekomme und damit die Truhe zu den Drei Büchern öffnen kann, vollführe ich einen kleinen Freudentanz. In meinen Ohren dröhnt immer noch die Musik und ich bücke mich wie eine Tänzerin, um eins der Bücher herauszuheben. Dann wirble ich zum Tisch weiter, ziehe elegant einen Stuhl zurück und sinke darauf nieder.
Jetzt gilt es zu schreiben, bis die Finger bluten. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort. Ich fülle mein kostbares Notizbuch mit Informationen, für die Königin Charis manche Duniyaner bestimmt mit Gold behängen würde. Aber ich bin nicht mancher Duniyaner. Ich bin eine Gestaltenwandler und mein Lohn ist meine Freiheit. Bei dem Gedanken macht sich ein Ansporn in mir breit und ich kratze verbissen mit der Feder übers Papier bis meine Finger schmerzen.
Die Zeit verstreicht. Aus Sekunden werden Minuten, aus Minuten werden Stunden und weil ich befürchte, dass der Morgen inzwischen schon grauen könnte, verlasse ich sicherheitshalber den Geheimraum. Zuerst verwische ich jedoch jegliche Beweise, die meine spätnächtliche Anwesenheit bezeugen könnten, und schleiche dann die Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich nehme gerade die letzte Abbiegung in den Gang, in dem mein Raum liegt, als ich gegen jemanden krache. Ich schreie auf und stürze im nächsten Moment auch schon rücklings auf die harten Steinfliesen. Tränen schießen mir in die Augen, als mein Steißbein auf den Boden knallt.
„Au, verdammte Scheiße", fluche ich wenig damenhaft und versuche mich aufzurichten. Mein Rücken und mein Steißbein senden bei jeder kleinsten Bewegung Schmerzwellen durch meinen Körper, die mich erzittern lassen.
„Clarice, bist du das?"
Als ich seine Stimme höre, halte ich inne, sogar die plötzlichen Tränen in meinen Augenwinkeln versiegen wie durch Zauberhand. „Arkyn?"
„Oh Mann, das tut mir leid. Warte, ich helfe dir auf." Zwei starke Arme schieben sich unter meine Achseln und er zieht mich auf die Beine. Ich winde mich vor Schmerzen.
„Was machst du um die Uhrzeit hier draußen?", fragt er mich, während ich vorsichtig versuche, meinen Rücken durchzustrecken. Es tut höllisch weh.
„Dasselbe könnte ich dich fragen", ächze ich und reibe mit den Fingern sanft über den schmerzenden Punkt an meiner Wirbelsäule.
„Hast du dir wehgetan?", fragt er mich besorgt. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und nun mache ich seine Konturen aus, die sich von der nachtschwarzen Umgebung abheben.
„Geht schon wieder", lüge ich, „Was machst du hier?"
Er zuckt bloß die Schultern. „Kann nicht schlafen." Sein Gesicht verrät nicht, ob er die Wahrheit spricht oder nicht, aber ich hake nicht weiter nach. Meine Lügen könnte er zu schnell entlarven.
„Ich musste nur schnell aufs Klo", schwindle ich, „Nun, ich gehe jetzt wieder ins Zimmer."
Möglichst würdevoll versuche ich trotz meines leichten Hinkens, an ihm vorbeizueilen, aber seine Finger schließen sich um meinen Oberarm und er zieht mich zurück. Ich balle die Fäuste und mache meinen Körper so steif wie möglich. Er soll bloß nicht denken, dass ich mich von ihm herumschubsen lasse.
Seine Stimme ist rau und kratzig, als er zu sprechen beginnt und mein Herz macht gegen meinen Willen einen kleinen Hüpfer als ich seinen vertrauten Geruch nach Wald einatme.
„Clarice, es tut mir leid."
Seine Augen glitzern in der Finsternis wie zwei schwarze Diamanten.
Ich sage nichts, auch wenn ich weiß, dass er nicht von meinem schmerzenden Steißbein, sondern von meinem gebrochenen Herzen spricht. Mein Traum kommt mir in den Sinn und ich löse mich vorsichtig, aber bestimmt aus seinem Griff und schlurfe zurück in mein Zimmer. Die Stelle, an der seine langen, kühlen Finger meinen Oberarm berührt haben, schmerzt, als hätte ich mich verbrannt.
Lass die Finger von Arkyn. Er ist wie Feuer; schön anzusehen, aber nicht zu bändigen. Irgendwann verbrennst du dich.

SchattenmächteWhere stories live. Discover now