Kapitel 1

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Die Skateboardfahrer waren die schlimmsten. Die Skateboardfahrer waren immer die schlimmsten.
Mit eingezogenem Kopf rannte ich die roten Backsteinstufen bis zum Schuleingang empor, während sie mich hinter meinem Rücken auspfiffen. Scheinbar wurde es den Skaterjungs nie langweilig, dumme Witze über mich zu reißen oder auf ihren dämlichen Skateboards wie aus dem Nichts auf mich zugerast zu kommen, um mir meine Schulbücher zu klauen. Aber das war nicht mal das Schlimmste. Denn zu allem Überfluss wurden meine Knie beim Anblick ihres Anführers Marco jedes Mal butterweich. Wie konnte man nur aussehen wie Johnny Depp in jungen Jahren und dann so gemein sein?
"Dawny-Dawn", hörte ich sie jetzt rufen. Immerhin war es nicht Marco. Seine Stimme hätte ich überall erkannt. "Wieso hext du dich nicht einfach schlank, oder hübsch? Lernt man das heutzutage nicht mehr im Hexenunterricht?", rief mir ein Junge im Stimmbruch nach, der sich anhörte, wie ein Frosch im Mixer. Nur wurde diese pubertäre Eigenart, dieser schreckliche Stimmbruch, von der Skaterclique, die die Schule regierte, toleriert. Meine Pickel, die große Nase und leichtes Übergewicht jedoch nicht. Dafür wurde ich tagtäglich mit Hänseleien bestraft. Diese Welt war einfach nicht fair!
Als ich durch die große Flügeltür in die Eingangshalle stolperte, wandte ich mich sofort nach rechts, wo ich mich nach Luft schnappend gegen die Wand lehnte. Dieser Morgen fing ja schon mal gut an. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen. "Liebe Pubertät, wirklich ich habe sehr über deinen Scherz gelacht. Jetzt könntest du mich aber ernsthaft größer und schlanker werden lassen. Nicht mal mein winziger Oberkörper passt zu meiner überdimensionalen Nase!", murmelte ich vor mich hin. Wirklich. Ich sah aus wie Klaus die Kartoffel. Aus der Fernsehwerbung. Die mit der Knollennase.
Zum absoluten Über-Überfluss war heute auch noch der Tag vor Mardi Gras. Und das bedeutete, dass an diesem Montag in der ganzen Schule Perlenketten verteilt wurden. Mit anderen Worten: der schrecklichste Schultag des Jahres hatte so eben begonnen...
Denn das Mardi Gras Festival wurde von den Bewohnern New Orleans gefeiert, wie kein zweites.

Man könnte auch sagen, es war die Antwort der amerikanischen Südstaaten auf den brasilianischen Karneval. Laut singende, tanzende Paraden, die durch die Straßen zogen und überall diese lästigen goldenen, violetten oder grünen Perlenketten aus Plastik. Für mich stellten sie das Sinnbild allen Übels da.
Es war nämlich so: zu dieser Zeit des Jahres, schenkten die Männer der Stadt allen hübschen Frauen, die ihnen über den Weg liefen, bunte Perlenketten. Als Dankeschön für diese Wertschätzung bekamen die Männer danach einen Kuss. Je mehr bunte Perlenketten eine Frau an diesen Tagen um den Hals trug, als desto attraktiver galt sie. Unnötig zu erwähnen, dass ich noch nie in meinem Leben auch nur eine einzige Perlenkette geschenkt bekommen hatte. Die Ironie an der ganzen Sache war, dass die Farben der Ketten - gold, violett und grün - für Macht, Gerechtigkeit und Hoffnung standen. Gerechtigkeit und Hoffnung, ja klar...
Seufzend stieß ich mich mit dem Fuß von der Wand ab. Meine unmodische Kleidung machte die ganze Angelegenheit auch nicht gerade besser, nur leider konnte ich mir absolut nichts anderes leisten.
In einem Fenster überprüfte ich, ob wenigstens mein schwarz glänzender Haarreif an Ort und stelle saß. Er hatte meiner Mutter gehört, als sie noch gelebt hatte und war eins der wenigen Erinnerungsstücke, die mir von meinen Eltern geblieben waren. Tatsächlich tat er auch heute sein Bestes meine schulterlangen roten Haare zurückzuhalten, die man bestenfalls als lasch oder dünn bezeichnen konnte. Und das war schon schmeichelhaft.
Auf dem Weg zu meinem Spind, lief ich unglücklicherweise Carlton Pearl über den Weg, die mit ihren Freundinnen gerade über irgendetwas tuschelte. Man erkannte die Pearl-Clique, wie viele sie nannten, an dem vielen Pink, das sie trugen, den kurzen Röcken und seit kurzem auch an den neonfarbenen Stilettos, auf denen sie bevorzugt durch die Flure stöckelten, wahrscheinlich um bei unterpriviligierten Mitschülern wie mir Augenkrebs zu verursachen. Da hatte ich sie jedenfalls schwer im Verdacht, denn welchen anderen Grund konnte dieser offensichtliche Modeunfall sonst haben?
Selbst als Vierjährige hatte ich mehr Geschmack beim Heraussuchen von passenden Schuhen zu den Outfits meiner Barbiepuppen bewiesen, als die Pearl-Clique.
Letztere kam nun direkt auf mich zu. "Ah Dawn, die kleine Bitch, oh ich meine natürlich 'Witch'." In gespieltem Entsetzen schlug sich Carlton an die Stirn.
Ja- und dieser Joke wurde auch nie alt.
"Wie viele Ketten hast du denn schon abgestaubt? Ojemine, wie ich sehe keine einzige!" Das falsche Mitleid konnte sie sich nun wirklich sparen.
Neben ihr kicherte Brooke, die einzige Brünette in diesem blonden Barbie-Club. "Carlton hat schon 14 Ketten bekommen, wir anderen mindestens 6. Und dabei hat der Unterricht noch nicht mal angefangen."
"Oh da hoffe ich doch für euch, dass ihr kein Herpes gratis mit dazubekommt", erwiderte ich so gelassen wie möglich.
Dass es mich wurmte nie so eine Kette bekommen zu haben, musste die Pearl-Clique ja nicht wissen. Gerade als ich mich mit gesenktem Kopf an den Size-Zero Barbies, die mich alle um mindestens einen Kopf überragten, vorbeiquetschen wollte, packte sie mich am Oberarm. Leider wurde man Carlton Pearl nie so schnell wieder los, wie erhofft. "Mardi Gras und kein einziger Junge möchte einen Kuss von dir? Gut, dass wir für dich vorgesorgt haben!"
Oh oh, das hörte sich gar nicht gut an...
Und da stand ich nun, wie ein Sack Rüben unter Antilopen mit glänzendem Fell und wartete auf die Gemeinheit, die sicherlich gleich über mich hereinbrechen würde.
"Serena hat zufälligerweise einen Schweinekopf für den Biologie-Unterricht mitgebracht. Serena!", forderte sie eins ihrer Barbie-Püppchen auf.
Die Gerufene reichte ihr tatsächlich einen durchsichtigen Müllsack mit einem abgetrennten Schweinekopf. Die Zunge des Schweins hing heraus, als wollte es an einem Eis lecken. Unwillkürlich wurde meine Hals staubtrocken. Ein mehr als nur ungutes Gefühl ergriff mich, als ich verstand, was hier gerade ablief.
Da Serenas Dad Besitzer eines angesagten Grillrestaurants war, konnte sie so etwas besorgen und war augenscheinlich auch an den Anblick eines toten Schweins gewöhnt. Nicht so wie ich. Nachher, beim Sizieren im Bio-Unterricht, hatte ich vorgehabt, einen Schwächeanfall vorzutäuschen.
Jetzt holte Serena das tote Tier auch noch aus der Tüte! Ein Würgen unterdrückend, versuchte ich Carltons Arm abzuschütteln.
Nun da die sprichwörtliche Katze, oder in diesem Fall das Schwein, aus dem Sack war, bildete sich eine Schülertraube um uns - allesamt mit gezückten Smartphones.
"Mr. Piggles sagt, du bekommst eine wunderschöne goldene Kette wenn du ihm einen Kuss gibst!" Serena wackelte an einem Ohr des armen Schweins, damit es so aussah als würde es reden.
Gut, einen Kurs in Schauspielerei hatte dieses Mädchen wohl auch noch nicht von innen gesehen. Jedoch sollte ich mir in diesem Moment wohl eher Sorgen um mich selbst machen. Langsam dämmerte mir, was das ganze Theater und die Anspielung auf die Ketten sollte. Die Pearl-Clique wollte, dass ich dem toten Schwein einen Kuss gab. Denn sowas verstanden sie unter Spaß. Und die pummelige Dawn ärgern, stellte sowieso eins ihrer liebsten Hobbies dar. Wieder zog ich an meinem Arm, diesmal heftiger.
Auf ein Nicken von Carlton hin, ergriff Leonor, oder wie ich sie nannte: "Leoparden-Leo" - denn sie trug fast jeden Tag ein Shirt oder ein Accessoire im Leopardenlook, meinen anderen Arm.
Meine Bücher, fielen mit einem lauten 'Klatsch-Pong-Klonk' zu Boden.
Ich saß in der Falle.
Die Schülermenge um uns herum war inzwischen auf etwa drei Dutzend angewachsen, angeschwemmt in der Hoffnung Augenzeuge eines dramatischen Ereignisses zu werden. Fast erinnerten sie mich an die Schlamm Massen, die sich nach dem Hurrikane Katrina vor ein paar Jahren, hier in den Schulfluren angesammelt hatten.
"Nein wirklich, ich verzichte!" So gut wie möglich versuchte ich das Zittern meiner Knie zu unterdrücken. Doch genauso gut hätte ich einem Justin Bieber-Fanclub ausreden können, die neusten T-Shirts seiner Fan-Kollektion zu kaufen.
"Küss das Schwein!", verlangte nun Carlton. Das boshafte Lächeln in ihrem Gesicht entging mir nicht. "Küss das Schwein!", proklamierte auch Brooke.
"Küss das Schwein!", forderte Marco, Anführer der Skater-Clique, der direkt hinter Serena und dem Schweinekopf aufgetaucht war.
Mein Herz wurde kalt, wie Carltons falsches Lächeln. Oh nein, nicht der schöne Marco. Das musste ein Alptraum sein! Doch ich wusste nur zu gut, dass meine Alpträume nachts weniger schlimm waren, als mein wirkliches Leben an der High School. Von dem Abend-Unterricht in der Voodoo-Hexenschule einmal abgesehen, wo es ähnlich zuging.
"Küss das Schwein, Küss das Schwein!", echote die Menge.
Marco hob eine Faust. "Zungenkuss! Zungenkuss!"
Sämtliche Smartphones waren auf mich gerichtet und ich war mir sicher, dass die Besitzer in den nächsten Minuten Videos mit Titeln wie: "Dawns erster Kuss" auf Youtube hochladen würden. Ach verdammt, ich wusste doch, dass ich den Tag vor Mardi Gras mehr als alles andere auf der Welt hasste!

Teenie Voodoo Queen ~Leseprobe~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt