Teil 6- Nelke

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So ging es nunmehr als sechs Wochen lang, es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Jede Nacht bekam ich nicht mehr als eine Handvoll schlaf. Ziellos lief ich in meiner Wohnung auf und ab, suchte Zerstreuung in schlechten Serien oder wälzte mich einfach auf dem Bett hin und her. Langsam aber sicher machte mich das alles aggressiv. Jede Kleinigkeit brachte mich aus dem Konzept. Erst gestern hatte ich Damjans Assistentin so angefahren, das ihr jegliche Farbe augenblicklich aus dem Gesicht gewichen war. Im Nachhinein musste ich ihr zugutehalte, dass sie nicht geweint hat, so verängstigt sah sie ausgesehen hatte.
War ich sonst absolut Gleichgültig, rastete ich jetzt umso mehr aus. Am Anfang war es noch relativ harmlos gewesen, ich ärgerte mich einfach über Sachen, die mich sonst nicht im geringsten interessierten. Doch seit wenigen Tagen war ich eine Furie, bereit die ganze Welt in den Abgrund zu reißen inklusive mir selbst. Besonders hasste ich die Nächte und ganz besonders meine Gedanken.

Kontinuierlich, immer stärker, fing ich an, mir einzubilden etwas zu übersehen, etwas nicht deuten zu können. Wieso träumte ich ständig von diesen grünen Augen und vor allem, warum glaubte ich, es ging in meinen Träumen um Eloise? Ich hatte nicht das geringste mit dieser Frau zu tun, sie war wie eine störende Figur in einem schlechten Film, der von Szene zu Szene immer schlechter wurde. Eloise schien es nicht anders zu ergehen. Sie achtete penibel darauf, ja keine Minute zu viel mit mir verbringen zu müssen.
Jeden Morgen fand ich einen Stapel mit Aufgaben für den Tag auf meinen Tisch, inklusive eines zweiten mit abgezeichneten Ideen, Skizzen und Vorschlägen vom Vortag. Meist kritzelt sie in einer akkuraten Handschrift an den Rand und schrieb ihre eigene Idee dazu. Auf meine Anrufe reagierte sie nicht und auf Fragen per E-Mail kam nur ein „Ja" oder „Nein" zurück. Ihr Büro war so gut wie immer leer, wenn ich daran vorbeiging. Zur Krönug, ignorierte sie mich in der Universität ignorierte komplett. Es sollte mir egal sein, doch ich wollte wissen, was ihr Problem war. Sie führte mich regelrecht vor, neben meinen tagtäglichen Aufgaben, hatte sie zudem damit angefangen mir irgendwelchen Mist zuzuschieben. Anrufe bei potenziellen Klienten, Auswertung von Statistiken. Alles samt absolut nicht mein Aufgabenbereich und den Gipfel davon hatten wir heute erreicht.

Ich hatte nur eine Stunde schlaf bekommen, ein neuer Höhepunkt in meiner momentanen Odyssee, meine Laune war dementsprechend auf ihrem Tiefpunkt angekommen. Als ich die Tür zu meinem Büro aufschob, sah ich es direkt. Vier riesige Kisten, die sich neben meinem Tisch stapelten, ganz, oben, wackelig platziert, thronte ein Ordner. Ich nahm ihn herrunter und blätterte ihn durch. Außer Excel-Tabellen waren Aufkleber eingeordnet, fein säuberlich nach Jahreszahlen sortiert. Der Deckel der obersten Kiste war nicht ganz geschlossen, lag fast nur auf ihr, so voll war sie. Beim Öffnen flogen mir Blätter entgegen. Zwei fischte ich vom Boden auf, es waren uralte Rechnungen. Auch der Rest der Kiste war vollgestopft mit Rechnungen. Die zweite Kiste war ebenfalls überfüllt mit alten Unterlagen aus den 80er- 90er Jahren. In der dritten Kiste fand ich einen grünen Post-it.
„Schnellst möglich archivieren. Rheinfolge der Tabellen entnehmen. Statistik der letzten fünf Jahre über PR-Kosten erstellen. E. Lumiere"
Mein rechter Arm fing an zu zucken, meine Brust schnürte sich zu. Ich glaubte jeden Moment zu ersticken, obwohl ich wusste das es unmöglich war. Vor meinen Augen verschwamm alles. Ein unangenehmes Piepen übertönte das Rauschen zwischen meinen Ohren. Ich zerknüllte das Post-it und warf es auf den Boden. Der Versuch zu atmen misslang mir und meine geballte Faust landete auf dem Holztisch, ein tiefer Riss zog sich durch die massive Kirschholzplatte.
Wie konnte sie es wagen? Wie konnte diese Person es wagen? Bebend vor Wut riss ich die Tür auf, alle vier Kartons auf meinen Armen gestapelt. Zwei Schritte, mehr brauchte ich nicht, bis ich gegen ihre Tür klopfte.
„Bitte!", kam eine genervte Stimme von drinnen zurück. Es war pures Pech für sie, das sie gerade da war, es gab kein entkommen mehr für sie. Ich öffnete ihre Tür und ließ sie mit meinem Fuß hinter mir ins Schloss krachen.
„Was wollen," setzte sie verblüfft an, doch ich ließ es nicht zu, dass sie redete. Schmetternd kamen die Kisten auf den Boden zu stehen und ich überbrückte die wenigen Meter zwischen uns. Mein Verstand hatte nicht komplett ausgesetzt, denn ich blieb auf der anderen Seite des Tisches. Wenn ich direkt vor ihr gestanden hätte, hätte ich sie wohl Möglich an dem Kragen ihrer Bluse gepackt und gegen die Wand geschleudert.
„Was erlauben Sie sich? Ich hab genug, endgültig! Ich bin nicht ihre verfickte Assistentin! Ich mache nicht ihre verfluchte Drecksarbeit und ich lasse verdammt noch mal nicht so mit mir reden. Wer meinen Sie sind Sie? Mir solchen einen Scheiß hinzustellen und noch nicht mal den verfickten Anstand zu besitzen mir etwas persönlich zu sagen?" ich schrie nicht, nein, ich brüllte und krallte meine Hände in die Platte des Tisches. Ich spürte das ich aufhören musste, sonst würde ich auch ihren Tisch zerstören.
„Wagen Sie es nicht, ich schwöre bei Gott, wagen Sie es nie wieder mich so zu behandeln!" Fauchte ich sie an.
Es war totenstill, jeder Atemzug war unnormal laut zuhören. Eloise starte mich an. Sie legte den Stift, den sie eben noch zwischen ihren Fingern hielt hin auf den Tisch und lehnte sich vor.
„Was denken Sie sich dabei so mit mir zu reden?", fragte sie ruhig und fixierte meine Hände mit ihren Augen. Meine Nägel bohrten sich weiter in das Holz und meine Finger knacksten unter dem druck. Ich spürte, wie ich gleich jegliche Kontrolle verlieren würde.
„Mira, Sie können mir auch einfach sagen, dass es ihnen zu viel ist. Sie müssen hier nicht so ein Theater machen. Es tut mir leid, das diese Arbeit unter ihrem Niveau ist. Oder wo liegt ihr Problem?" die letzten Worte sprühten vor Hohn.
„Ich könnte Sie dafür entlassen." Ihre Hände spielten jetzt wieder mit dem Stift auf dem Tisch.
„Dann tun Sie das doch. Wissen sie was? Ich vergesse mich gleich. Wo liegt dein beschissenes Problem? Seit deinem ersten Tag hier lass ich mir deine Attitüde bieten. Diese dummen Zettel jeden Tag, was denkst du wer ich bin? Leg dich nicht mit mir an!" langsam machte ich einen Schritt nach vorne und lehnte mich vor. Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
„Ich denke, Sie haben sich im Moment nicht unter Kontrolle, Mira. So hätte ich Sie nicht eingeschätzt."
Ich schnaufte verächtlich. „Glaub mir, du willst nicht wissen, wie es ist, wenn ich mich unter Kontrolle habe."
Wir funkelten uns an, jeden Moment würde sie mich feuern, das spürte ich.
„Nun, dann zeigen Sie es mir doch." Was sagte sie da? „Ich werde Sie nicht entlassen, das wäre doch wirklich zu einfach." Ihr Lachen halte hohl im Raum wieder. Noch ein Wort und ich vergesse mich.
„Zeig es mir", flüsterte sie und ich schellte nach vorne. Ihr Tisch brach sofort unter meinen Sprung. Ich kam auf dem Tisch zu stehen. Ein Knurren, tief und dunkel, kam aus meiner Kehle. Erneut zum Sprung breite schoss ich los und nahm sie mit mir. Mit meinem ganzen Körpergewicht und all meiner Kraft flogen wir regelrecht an die Wand. Ihr Kopf knallte als Erstes gegen die Wand und der Putz bröselte wie Regen von ihr herab. Meine Hand legte sich gegen ihren Hals, jeden Moment würde ich zudrücken. Alles passierte in weniger als fünf Sekunden, den erst jetzt brachen ihre Knochen als auch ihr Körper endlich aufprallte und ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzehrt. Sie leckte dich über die Lippen und lachte wieder ihr kaltes, dumpfes Lachen.
„Gut! Gut so!" hauchte sie mir ins Ohr und ihr heißer Atem verursachte eine Gänsehaut auf meiner Haut. Ich schloss die Augen. Sie hatte es zu weit getrieben, gleich würde ich meinen ersten Menschen töten.

Als ich meine Augen wieder öffnete, stand ich inmitten meines Büros.

Taumelnd kam ich auf dem Sofa an der Wand zu sitzen. Meine Sachen klebten an mir, der Schweiß ran mir den Nacken entlang und hinterließ einen kalten Schauer. Die Kisten standen akkurat neben meinem Tisch, der tatsächlich einen massiven Riss in der Mitte zeigte. Es war aber auch das einzige, der Raum war erfüllt von einer toten Stille. Ich sah den grünen Post-it am Boden liegen. Wie konnte das sein? Was hatte ich tatsächlich getan? Was war Fiktion? Es konnte kein Traum gewesen sein, ich spürte ihren heißen Atem an meinem Ohr als wäre sie direkt hinter mir. In die Luft schlagend, versuchte ich einen Geist zu vertreiben. Immer wieder holte ich aus und wedelte die Luft neben mir weg. Meine Handflächen waren gerötet, ich sah die Abdrücke meiner Nägel ganz klar, wie sie einen Halbmond aus roten Schlieren bildeten. Es nütze nichts, ich brauchte Gewissheit.
Vorsichtig öffnete ich die Tür, es war ruhig bis auf das übliche Gewusel. Ihre Tür lag angelehnt auf der anderen Seite des Flurs, ich hörte sie telefonieren. Ein Schritt noch... Vielleicht ruft sie ja gerade die Polizei? Meinen Kopf streckend, krallte ich mich an den Türrahmen, als ich mich vorbeugte. Eloise saß an ihrem Tisch, seelenruhig tippte sie auf ihrer Tastatur. Nichts war verwüstet. Vergeblich suchte ich nach Zeichen eines, meines, Angriffes. Und auch sie machte einen unversehrten Eindruck. Sie bemerkte mich nicht und ich zog mich leise wieder zurück.
„Lichtung, jetzt." schrieb ich Damjan.

Als ich wieder auf meiner Maschine saß, hämmerte das Adrenalin in meinen Adern, wie im Rausch flog ich an den Häusern der Stadt vorbei raus in den Wald hinein. Es war niemals passiert, es war niemals passiert, es war niemals passiert, war der einzige Gedanke, den ich fassen konnte.

SEELENWANDERERWo Geschichten leben. Entdecke jetzt