6. Jamie

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„Schwesterherz, werd mal wach", rief meine Schwester durch die Tür und verschwand so schnell wieder wie sie aufgekreuzt war. 

Ich drehte mich ein paar Mal auf der Matratze, unterdrückte ein Gähnen und schaute nach draußen. Ich erinnerte mich noch genau an die vorherige Nacht, in der ich eine kurze Auseinandersetzung mitgehört und meine neuen Nachbarn bereits zu Gesicht bekommen hatte. In dem Zimmer, in dem der Junge mit seiner Freundin verschwunden war, waren die Jalousien immer noch unten, sodass es noch völlig verschlafen wirkte. Zerknirscht schaute ich auf mein Handy. Als das Display aufleuchtete, zeigte es mir 8:20 Uhr an. Noch nicht einmal ausschlafen konnte ich. 

Ich hatte jedoch Recht behalten, was die Helligkeit des Zimmers betraf. Die Sonne schien mit voller Freundlichkeit durch die Fenster und tauchte es in ein helles Gelb. Ich kugelte mich von der Matratze und schlüpfte in mein unpassendes Umzugs-Outfit. Als ich in die Küche kam, wurde ich mal wieder von oben bis unten von meiner Schwester gemustert. 

„Jamie trägst du schon wieder das hässliche Ding da?", sie zeigte auf meinen türkisfarbenen Pullover, den ich mir damals aus einem Strandladen in Miami mitgenommen hatte. 

Ich stöhnte, setzte mich an den Tisch und nahm mir eine Scheibe Brot. Liebevoll bestrich ich sie mit Buttercreme, goss mir Kakao ein und lehnte mich zurück. Ich mochte Kaffee nicht so gerne und entschied mich einfach lieber für Schokolade. 

„Unten die Zimmer sind schon alle fertig", erklärte mein Vater stolz. 

„Jetzt sind eure Zimmer dran." 

„Und unser Schlafzimmer", erinnerte ihn meine Mutter. Er nickte bestätigend, schnappte sich die Zeitung und blätterte eifrig darin. 

„Habt ihr heute Nacht auch diese dröhnende Musik gehört?", stöhnte Grace genervt und wandte sich ihrem Handy zu. Anscheinend hatte Collin ihr gerade ein Nacktbild oder so geschickt, ihrem Blick zu urteilen hatte man jedenfalls das Gefühl. 

„Grace, bitte pack das Handy weg, wir essen", sagte meine Mom auch schon. Sie packte es weg und biss mürrisch in ihr Brot. 

„Ja, ich hab die Musik auch gehört, es waren unsere Nachbarn", lenkte ich die Unterhaltung auf Graces Frage zurück. 

„Es hat mich voll aus meinem Traum gerissen", meckerte sie, als wäre es meine Schuld, dass sie wach geworden war. 

„Das kann ja schon mal vorkommen, ich erinnere dich nur ungerne an deinen sechzehnten Geburtstag zurück", mischte sich meine Mutter ein und blickte Grace mit strengem Blick an. 

Stimmt, damals war Graces Hausparty eine völlige Eskalation gewesen und endete, indem sich sämtliche Nachbarn aufgrund der plärrenden Musik beschwerten. Ich musste an das vergangene Ereignis denken und grinste. 

„Mr. Nooris, von nebenan ist sehr freundlich. Er hat mir sogar geholfen, den Tisch reinzutragen, bevor er dringend in der Stadt noch einen Termin zu erledigen hatte", freute sich mein Vater und blickte von seiner Zeitung auf. Ich erinnerte mich an heute Nacht zurück und dachte an den Mann, der wütend in der Tür auf seinen Sohn gewartet hatte. 

„Wir sollten sie mal zum Grillen einladen", beschloss er prompt und versank wieder hinter den Bildern und Buchstaben der Zeitung. Die Vorstellung, den Typen an unserem Tisch sitzen zu haben, der wahrscheinlich eh nur mit seiner Freundin beschäftigt war und uns für total bescheuert hielt, bereitete mir einen Würgereiz. 

„Gute Idee", stimmte meine Mutter zu, nahm mir meinen Teller weg und fing an, das Geschirr abzuräumen. 

„Mom ich waw noch ga nisch fertich", nuschelte ich mit vollem Mund. 

True face - Zeig dein wahres GesichtWhere stories live. Discover now