Kapitel 15

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Zuerst spürte ich den Wind im Haar. Er pfiff so stark als wollte er mich fortreißen. Es war kalt. Schneeflocken fielen vom Himmel und schmolzen auf meiner nackten Haut. Moment mal- nackte Haut? Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich nur Unterwäsche trug und meine Füße nakt waren. Und wo war ich überhaupt? Ich blickte mich um und mir wurde prompt schwindelig. Unter mir erstreckte sich die Skyline von Paris und ich stand auf dem Eiffelturm- so hoch, wie eigentlich kein Besucher hinaufdurfte. Hier oben gab es eine kleine Plattform ohne Geländer und der Eiffelturm war dunkel, nicht hell erleuchtet wie sonst immer. Plötzlich löste sich eine Person aus dem Schatten. Es war Xavier, gutaussehend und lebendig wie eh und je. Er trat auf mich zu, sodass ich seinen wunderbaren Geruch warnehmen konnte. Dann zog er seinen Mantel aus und legte ihn mir um. "Du erfrierst noch", murmelte er. Dann schloss er mich in seine Arme und ich vergaß alles um mich herum. Ich hatte ihn soo vermisst. Während ich mich gegen ihn lehnte, atmete ich seinen vertrauten Duft ein. Er gab mir Halt, das hatte er schon immer getan. Als seine warmen Lippen auf meine trafen, vergaß ich alles um mich herum.

Doch leider war dieses Glücksgefühl nur von kurzer Dauer. Denn auf einmal hörte ich hinter mir eine allzu bekannte Stimme. Ich drehte mich um und sah James auf der Plattform stehen, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben. Aber sein Blick war die pure Entgeisterung. "Ich kann es nicht glauben. Ich kann es einfach nicht glauben. Mary hatte doch recht. Du bist eine verf***** Schlampe und ich hätte dich niemals küssen sollen. Ich habe mich so in dir getäuscht." 

Ich war geschockt. "James, es ist nicht, wie du denkst, ich..."

Aber weiter kam ich nicht, denn James fuhr dazwischen: "Ach nein? Dann klär mich doch bitte auf. Oder wenn du schon mal dabei bist, kannst du ruhig uns beiden mal erzählen, was für ein dreckiges Spielchen du eigentlich mit uns spielst."

Xaviers Blick war die ganze Zeit zwischen James und mir hin und her gehuscht. Aber nun trat er einen Schritt von mir weg und fragte mich: "Ist das dein Ernst? Du betrügst mich die ganze Zeit mit diesem Typen? Das hätte ich nie von dir gedacht." Mit einer abschätzigen Handbewegung deutete er auf James. Er sah so wahnsinnig verletzt aus. 

Mein Flüstern war kaum hörbar: "Es war nur ein Kuss. Es hat nichts bedeutet."

Während James entrüstet rief: "Wie bitte? NUR EIN KUSS? Schön, dass ich dir nie was bedeutet habe. Das beruhigt mich jetzt aber.", wurde Xavier wenn möglich noch wütender und sagte: "Offenbar bin ich dir nicht genug, sodass du dir schonmal einen anderen gesucht hast. Jetzt verstehe ich, warum du wolltest, dass ich sterbe. Du wolltest mich nur aus dem Weg räumen."

Und ich? Ich verstand die Welt nicht mehr. Diese Vorwürfe hatten einfach weder Hand noch Fuß (ich hatte ihn ja schließlich nicht getötet), aber der Schreck hatte mich gelähmt und mich unfähig gemacht, etwas zu erwidern. Ich konnte es nicht fassen. Beide hatte ich unwiederruflich in mein Herz geschlossen, doch nun erkannte ich sie kaum wieder. Aus Xavier, Mr. Charming höchstpersönlich, war eine wütende, eifersüchtige Furie geworden und James...James, der absolut süßeste Streber und verständnisvollster Kumpel dieser Welt war ebenfalls nicht wiederzuerkennen. Und ich sollte Schuld sein??

Vermutlich schon, den plötzlich kamen beide auf mich zu und drängten mich nach hinten. Ihre Mienen waren grausam, ihr Grinsen boshaft. "Du verdienst niemanden, der dich liebt. Du bist der schrecklichste Mensch, den es gibt. Buddel dir einfach ein Loch und dann vergammel!!" Ihre Stimmen wurden immer lauter und immer verzerrter. Meine Gedanken in diesem Moment waren eine Mischung aus Angst und Zustimmung. Vielleicht war das ja wahr was sie sagten. Aber mein gesunder Menschenverstand wollte nichts davon hören. 

Plötzlich verlor ich den Boden unter meiner Ferse. Ich hatte das Ende der Plattform erreicht. Schwankend und mit den Armen rudernd versuchte ich verzweifelt, mein Gleichgewicht zu behalten. Reflexartig griff ich mit der einen Hand nach Xaviers Arm und mit der anderen nach James'. Sie waren beide mein Anker gewesen und ich wartete nun darauf, dass sie mich hochziehen würden. Doch meine Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Im Gegenteil. Auf einmal entwickelte sich ein richtiger Schneesturm, was spärlich gekleidet und am Eiffelturm hängend nicht gerade ein Vergnügen war. Würde mich denn mal so langsam jemand hochziehen??

"Du bist so eine Schlampe, Corinne.", zischte Xavier verächtlich und dann...ließ er meine Hand los!! Er lies mich einfach los. Ich war geschockt. Wieso tat er das? Mein Leben lag nun in James' Händen (wortwörtlich!). Doch dann trat Mary hinter James hervor und umfasste seinen Nacken mit ihren Händen. Was machte sie denn bitteschön hier? Mit rauer Stimme flüsterte sie ihm zu: "Lass sie endlich los, sie schadet dir nur, siehst du das denn nicht?" Flehend blickte ich an, denn ich bemerkte den inneren Kampf, den er gerage focht. Ich vertraute auf seine gute Seele. Die Seele, die mir Rückhalt und Englischnachhilfe gegeben hatte. Aber darauf war wohl heute nicht so viel Verlass, denn er ließ mich schließlich mit ausdrucksloser Miene los. Und ich fiel...und fiel...und fiel... Plötzlich spürte ich einen kalten Atem an meinem Hals und eine dreckige Lache, die ich überall erkennen würde. Insbesondere, als Alice' Stimme, die mir regelrecht Angst machte, festsellte: "Du hast versagt, Corinne." Dann prallte ich auf den Asphalt auf und Schwärze umfing mich.

Stimmen der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt