Kapitel 10

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Ich zog mir ein kurzes Sommeroutfit bestehend aus Top und Shorts an und öffnete das Fenster, um etwas Luft reinzulassen. Dann ließ ich mich auf mein Bett sinken und schloss für einen Moment die Augen. Es war Samstag und Holly hatte David eingeladen. Zum Glück musste ich das Geturtel der beiden nicht miterleben, weil Mary mir London zeigen wollte. Hoffentlich würde mich das etwas von dem gestrigen Zwischenfall ablenken. Trotz allem war ich schon ein wenig gespannt auf London und ich freute mich auf den Ausflug. Es klingelte und ich hörte die Stimmen von Holly und David in der Wohnung. Ich hoffte, dass Mary bald kommen würde, denn man konnte das Geturtel der beiden durch die geschlossene Zimmertür hindurch hören.

Doch meine Sorgen waren relativ unbegründet, denn schon 10 Minuten später klingelte es wieder. Als ich am Wohnzimmer vorbei zur Tür ging, lagen meine Cousine und ihr Freund seltsam ineinander verhakt und wild knutschend auf dem Sofa. Als David Holly ihr Top hochzog, wandte ich meinen Blick schnell ab und war froh, ein Alternativprogramm für den Samstagnachmittag gefunden zu haben. Ohne Verabschiedung (mich würde eh keiner wahrnehmen) zog ich die Tür hinter mir zu und ignorierte Marys leicht verwirrte Miene. Wortlos zog ich sie mit mir aus dem Haus.

2 Stunden später hatte ich das Gefühl, jeden Fleck von London zu kennen. Mary war die perfekte Stadtführerin, sie kannte sowohl interessante Fakten über Sehenswürdigkeiten, als auch wichtige Insidertipps. Nachdem wir herumgelaufen waren, saßen wir nun gemütlich in einem Straßencafé an der Westminster Bridge mit Blick auf die im Sonnenschein glitzernde Themse. Ich war gerade dabei, mich etwas zu entspannen, als Mary das Schweigen brach: "Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?" Shit! Ich drehte mich zu ihr und antwortete scheinbar gleichgültig: "Was soll schon sein?" Innerlich war ich jedoch in höchster Alarmbereitschaft und Mary konnte man eh nichts vormachen, denn sie entgegnete: "Jezt tu nicht so, man merkt doch, dass irgendwas mit dir nicht stimmt! Vielleicht checken die anderen das nicht, aber meine Mum ist Psychologin, ich sehe das Gewicht, was du mit dir herumträgst! Und wie willst du dir den Vorfall von gestern Mittag erklären?" Jetzt musste ich wohl antworten und ich wollte meine einzige Freundin nicht anlügen, also erzählte ich ihr meine Geschichte. Ich erzählte ihr von der Trennung meiner Eltern und von Holly, meiner einzig wirklichen Familie. Ich redete über meine Freundschaft mit Alice und wie Xavier in mein Leben kam, wie er meine große Liebe wurde. Dann kam jene Nacht: Der mysteriöse Anruf, die Gasse, die Ermordung meines Freundes, wie ich meine Freundin daraufhin erstach. Holly nahm mich mit nach England und hier war ich jetzt. Doch eine Sache verschwieg ich ihr, nämlich die Sache mit Jane und diesem...Harry, oder so. Und Mary fragte nicht nach, was mich irgendwie wunderte.

Eine Weile flanierten wir noch durch London, Mary schwieg. Irgendwann sagte sie: "Das ist wohl mit Abstand die krasseste Story, die ich je gehört habe. Hast du keine Angst, wegen Mordes an deiner Freundin angezeigt zu werden?"

Darüber hatte ich ehrlich gesagt selbst noch nicht nachgedacht. Sofort versuchte Mary, eine Strategie auszuklügeln, sodass ich nicht ins Gefängnis müsste. Aber ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, denn in Gedanken ohrfeigte ich mich für meine eigene Dummheit. Wie hatte ich nur einen Moment lang denken können, dass ich hier in Sicherheit wäre?

Da hielt Mary mich am Arm fest und zwang mich so zum stehenbleiben. "Hey Corinne, es wird schon alles gut werden, glaub mir. Du musst nur dir selbst verzeihen und bereit sein, dein altes Leben hinter dir zu lassen. Du schaffst das und ich bin immer für dich da." Mit einer Mischung aus Sorge und Euphorie blickte sie mich eindringlich an. Und dann nahm sie mich einfach in die Arme. Zum ersten Mal, seit ich in London lebte, fühlte ich mich geborgen und war davon überzeugt, dass nun endlich alles gut werden würde. Ich musste nur herausfinden, was es mit den ganzen Mysterien um Jane und Harry auf sich hatte. Ich würde versuchen, David zu akzeptieren und Alice und Xavier endlich zu vergessen.

Ich sah Mary an. "Danke! Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde."

Sie winkte ab. "Ach, für so was sind Freundinnen doch da, oder?" Wenig später fragte sie: "Läuft da eigentlich was zwischen dir und James?"

Diese Frage überraschte mich. "Nein! Wir sind Freunde, mehr nicht. Ich werde mich nicht mehr verlieben. Xavier war meine große Liebe und nochmal würde ich diesen Schmerz nicht ertragen."

"Gut", sagte sie nur. Stand sie etwa auf James? Aber sie schien keine Lust zu haben, ihre Antwort weiter auszuschmücken. Also beließ ich es dabei und fragte, ob sie mir hier in London noch irgendwas zeigen wolle. Daraufhin beschlossen wir, shoppen zu gehen.

Nachdem wir noch etwas Zeit im Shoppingcenter verbracht hatten, verabredeten wir uns für den nächsten Tag bei ihr. Einigermaßen fröhlich machte ich mich auf den Weg nach Hause. Meine gute Laune verflog jedoch, als ich eine halbe Stunde durch den strömenden Regen laufen musste. Als ich dann zu allem Überfluss den Weg nicht mehr wusste, hätte ich am liebsten geschrien. 

Ich sah mich suchend nach einem Orientierungspunkt um, doch alles sah fremd aus. Ich stellte mich in einen Hauseingang, um wenigstens etwas Schutz vor dem Regen zu haben. Was sollte ich nur tun? Am besten wartete ich erst mal, bis der Regen aufhörte. Ich holte mein Handy aus der Tasche - Akku leer! Mittlerweile war ich komplett durchnässt und ich fror. Auf einmal ging die Tür auf.

Stimmen der TotenWhere stories live. Discover now