Kapitel 20

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Ich hatte das ungute Gefühl, dass ich hier in näherer Zukunft keinen Supermarkt finden würde. Ich befand mich irgendwo in einer sehr schäbigen Gegend von London. Vor mir ragte ein Industriegebiet auf und um mich herum in den dreckigen Seitenstraßen wimmelte es von Pennern. Mit ziemlicher Sicherheit hatte die ältere Dame, die ich nach dem Weg gefragt hatte, mich nicht hierhin lotsen wollen. Aber sie hatte so einen seltsamen Akzent gehabt und dabei auch noch wahnsinnig schnell gesprochen. Und jetzt stand ich hier. Vermutlich wäre es die beste Idee, einfach zurück zu gehen. Doch woher war ich gekommen? Shit, ich hatte mich verlaufen. Mal wieder. Allerdings standen diesmal meine Chancen eher schlecht, bei James vor der Haustür zu landen.

Der Himmel war verdächtig grau und es stürmte. Ich hasste diese Stadt! Immer war schlechtes Wetter. Aber was sollte ich jetzt tun? In den Seitengassen kamen böse Erinnerungen hoch.. nein, ich musste mich irgendwie ablenken. Und ich musste hier raus. Nur leider wusste ich den Weg nicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb ich stehen. Mein Atem ging in hektischen Stößen. Ich bekam kaum noch Luft, denn ich hatte plötzlich Angst. Angst, in Londons ekelhaftestem Viertel zu verrecken. Angst, dass Alice aus der Ecke kommen könnte. Bei der Erinnerung an den Brief lief es mir eiskalt den Rücken herunter. 

Dann setzte der Regen ein. Aber ich musste weiter, doch ich sah nichts mehr vor lauter Regen. Immer wieder stolperte ich, doch ich musste weiter. Es könnte schließlich wirklich sein, dass hier irgendwelche Penner oder Mörder lauerten.

Irgendwann gab ich auf. Ich kauerte mich in einer Ecke zusammen und wartete auf den Tod. Okay, ich gebe zu, das war vielleicht ein wenig überdramatisch, aber meine Laune war im Keller und ich hockte hier irgendwo in London und wusste nicht, wo.

Ein lautes Geräusch weckte mich. Ich brauchte einen Moment, um meine Umgebung zuzuordnen. Offensichtlich war ich eingeschlafen. Jetzt war es kalt und dunkel. Der starke Regen hatte sich in einen ekelhaften Fisselregen verwandelt. Aber was war das für ein Geräusch? Ein stetiges Hupen in regelmäßigen Abständen... Ich stand auf und ging in die Richtung, aus der das Geräusch kam, doch dann war es plötzlich weg. Verunsichert ging ich bis zum Ende der Straße und sah die Themse! Ein großer Stein fiel mir vom Herzen, denn immerhin war ich jetzt wieder da, wo Menschen waren. Rechts von mir wurde gerade die Tower Bridge heruntergefahren und in der Ferne sah ich ein großes Schiff. Davon musste das Hupen gekommen sein. Doch zunächst musste ich jetzt einen Supermarkt finden.

Ich ging also am Ufer entlang, bis ich einen kleinen versteckten Lebensmittelladen entdeckte. Er war recht dürftig ausgestattet aber ich war froh überhaupt etwas gefunden zu haben. Schließlich verließ ich den Laden und machte mich auf den Heimweg. Mit der U-Bahn hatte ich mein Ziel verhältnismäßig schnell erreicht, worüber ich sehr froh war, denn ich hatte wenig Lust, mich nochmal zu verirren.

Zu denken, Holly hätte sich Sorgen gemacht, wäre wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Als ich die Wohnung betrat, rannte sie mit dem Telefon am Ohr nervös im Wohnzimmer auf und ab. "Ja, ja, ich habe sie schon mehrmals angerufen...Nein, das kann nicht sein...Heute Morgen,.... Warten sie mal kurz..." Das waren die Gesprächsfetzen, die ich aufschnappen konnte. Offensichtlich hatte sie mich gehört, denn kurz darauf kam sie zur Tür. Erneut nahm sie das Telefon ans Ohr um zu sagen: "Ist schon gut, sie ist gerade aufgetaucht. Danke." Dann wandte sie sich mir zu.

Bei der Art wie sie mich anschaute hatte ich irgendwie ein ungutes Gefühl. Sie war wohl wieder wütend auf mich. Was man auch an ihrer sehr lauten Stimme merken konnte. "Schön das du mich auch mal mit deiner Anwesenheit beehrst. Um 11 Uhr abends. WAS ZUM HENKER HAST DU DA DRAUSSEN GEMACHT? UND WARUM GEHST DU NICHT AN DEIN HANDY? ICH HABE MIR SORGEN GEMACHT VERDAMMT NOCHMAL!!!"

"Ich... mein Akku war leer und ich hatte mich verlaufen."

In dem Moment schien Holly förmlich in sich zusammen zu sinken. Ihre Wut war weg, doch dafür sah sie verzweifelt aus und wahnsinnig müde. Den Kopf vergrub sie in ihren Händen und als sie wieder sprach, war ihre Stimme nicht viel mehr als ein Flüstern.

"Herrgott Corinne, ich hatte dich zum Einkaufen geschickt. Das ist nun wirklich nicht so schwer. Beinahe hätte ich dich als vermisst gemeldet. Wenn du es noch nicht mal schaffst, einen Supermarkt zu finden, weiß ich nicht, wie du hier zurecht kommen sollst. Wie soll ich mich auf dich verlassen können, wenn du nicht mal zu so etwas fähig bist? Ich habe keine Zeit, Babysitter für dich zu spielen. Mir reicht es langsam, echt. So leid es mir tut, ich kann so jemanden wie dich nicht in meinem Leben brauchen. Du bist chaotisch und planlos. Ich muss schon mein eigenes Leben auf die Reihe kriegen, da bist du fehl am Platz." 

Und mit diesen Worten verschwand sie in ihrem Schlafzimmer, bevor ich noch etwas erwidern konnte.

Als ich dann irgendwann in meinem Bett lag, gingen mir ihre Worte nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte mich echt verletzt. Doch am schlimmsten war die Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, dass sie recht hatte. Die mich runterziehende, kritisierende Stimme, die ich bevor das ganze hier begonnen hatte, noch nie gehört hatte. Und nun beherrschte sie einen wesentlichen Teil meines Denkens. Mit diesen Gedanken fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

Stimmen der TotenWhere stories live. Discover now