Kapitel 14

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Ich wollte zurückweichen, doch hinter mir war nur die Wand. In diesem Moment wollte ich nur noch weg und mich irgendwo vor diesen schrecklichen Worten verstecken, die sich wie Gift durch meinen Kopf schlängelten. Du bringst uns Unglück. Geh zurück. Du hast mein Leben zerstört. Du wirst ihn nie verdienen. Du hast ihn nie geliebt. Du, du, du...Denn als Mary diese furchtbaren Sätze ausgesprochen hatte, kamen alle Erinnerungen an jene Nacht, die ich in jeder Minute so mühsam versuchte zu verdrängen, zurück. Und als ich schließlich aufsah, die Augen von Tränen benetzt, schrie ich vor Schreck fast auf, als ich dieses bösartige Funkeln in Marys Augen sah. Ihre vorher so schönen dunkelbraunen Augen sahen nun aus wie Matsch und strotzten nur so vor Bosheit und Rachedurst. Und ich kannte diesen Blick. Er gehörte einer Person, die ich für tot gehalten hatte, aber sie schien mich in den letzten Tagen zu verfolgen. Zuerst der Kalender, dann die Halluzination in der Schule, dann der Traum-Harry und jetzt auch noch Mary. Und da wurde mir klar, wo ich diesen Blick noch gesehen hatte: Bei David.

Der letzte Rest meines gesundes Menschenverstands befahl mir, nicht überzuschnappen. Sie war schließlich tot. Aber mein Instinkt schrie, dass ich weglaufen sollte und zwar schnell. Ich würde durch die Tür huschen, bevor sie auch nur geblinzelt hätte. Dummerweise wurde daraus nichts, denn ich sah durch meine Tränen nur verschleiert und stolperte über die Bratpfanne. Nachdem ich mich aufgerappelt hatte, hechtete ich zur Tür hinaus auf die Straße. Ich rannte und rannte, bis ich mir sicher sein konnte, dass sie mir nicht gefolgt war. Irgendwie war ich schon überrascht, dass sie mich gehen gelassen hatte. Andererseits- was sollte sie jetzt noch von mir wollen? Sie hatte ihre Botschaft überbracht und damit meinen wundesten Punkt getroffen. Und ich hatte ihr vertraut und ihr mein Herz ausgeschüttet. Erschöpft lehnte ich mich gegen eine Hauswand. Mein Kopf schmerzte von der Bratpfanne. Vielleicht sollte ich einfach nach Hause gehen und mich in meinem Bett verkriechen. Dann könnte ich auch niemandem mehr schaden. Schlag dir diesen Gedanken aus dem Kopf. Meine innere Stimme hatte ja recht. Ich musste über Marys Anschuldigungen stehen.

Langsam ging ich nach Hause. Es nieselte schon wieder und als ich die Wohnung erreichte, musste ich mir erstmal die Haare föhnen. Als ich fertig war, fühlte ich plötzlich Heimweh in mir aufkeimen. Auf meinem Handy waren viele Fotos von früher. Von London hatte ich fast keine Fotos. Nachdem ich es mir mit Kopfhörern in den Ohren bequem gemacht hatte, klickte ich zögernd auf den Fotobutton. So viele Fotos, so viele Erinnerungen. Seit Tagen versuchte ich den Schmerz, den diese Erinnerungen mit sich brachten, zu verdrängen, doch jetzt ließ ich ihn einfach auf mich einstürzen. Jedes Foto ließ ich ein paar Sekunden auf mich wirken und irgendwann rannen die Tränen meine Wangen hinunter. Paris war meine Heimat aber dort erinnerte mich einfach alles an Xavier und Alice, von denen ich auch viele Fotos hatte. Ich vermisste alles und jeden. Sogar als ich ein Foto von meinem Bruder fand, schluchzte ich auf. Paul und ich hatten uns nie vertragen. Ihm war alles egal. Da wurde mir bewusst, dass ich noch überhaupt nicht mit Mum telefoniert hatte seid ich hier war. Als ich noch in Paris gewohnt hatte, hatte ich sie gehasst dafür, dass sie nicht über die Trennung von Dad hinwegkam. Ich hatte nicht verstanden, wie man sich so sehr verlieren konnte. Durch ihr Alkoholproblem hatte sie ihre Famile komplett im Stich gelassen. Seit Monaten hatte ich kaum noch mit ihr gesprochen und hatte sie so gemieden wie das eben möglich war wenn man miteinander in einem Haus wohnte. Aber jetzt glaubte ich sie etwas besser zu verstehen. War ich ihr wirklich egal gewesen? Und was war mit Dad? Wusste er überhaupt, dass ich jetzt bei Holly lebte? Theoretisch konnte mir das egal sein. Er hatte seine Familie im Stich gelassen und war mit Mums Schwester durchgebrannt. Vermutlich verbrachten sie den Sommer in Miami oder Los Angeles und taten Dinge, die ich mir nicht vorstellen wollte. Aber trotz allem war er immer noch mein Vater.

Auf einmal hörte ich einen Knall. Er kam ganz eindeutig aus der Wohnung. Vorsichtig schlich ich aus dem Zimmer- und sah Holly mit Einkaufstüten bewaffnet durch die Tür kommen. Mit einem ihrer Pumps hatte sie die Tür zugeschlagen. Was machte sie denn schon hier? Müsste sie nicht eigentlich mit David diverse Körperflüssigkeiten austauschen? Offensichtlich nicht. Holly unterbrach meine leicht perversen Gedanken: "Was stehst du da rum und starrst mich an als wäre ich ein Alien? Stattdessen könntest du mir ja helfen, aber nein- Corinne ist sich dafür ja zu..." Mitten im Satz hielt sie plötzlich inne und kam zu mir. Besorgt betrachtete sie mein Gesicht. "Was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja schrecklich aus, als hätte dich jemand geschlagen. Und...hast du etwa geweint?" Na toll. Jetzt hatte sie mich wieder an die Sache mit Mary erinnert und prompt flossen die Tränen wieder. Holly kramte währenddessen in einem Erste-Hilfe Koffer herum und kam mir Verbandszeug und einer Salbe wieder. Nachdem sie mich aufs Sofa verfrachtet hatte und meine Verletzungen behandelt hatte, ging sie wieder in die Küche und verkündete: "Ich werde dir jetzt etwas kochen. Ruh dich solange aus."

"Holly?"

"Ja?"

"Was machst du so früh schon hier? Habt ihr Stress? Oder Schluss gemacht?" Ich konnte die Hoffnung in meiner Stimme nicht verbergen. Hoffentlich bemerkte sie das nicht.

"Nein ich muss morgen zur Uni darauf muss ich mich noch etwas vorbereiten. David hatte ja angeboten mir zu helfen, aber ich hatte meine Unterlagen noch hier und außerdem dachte ich dass du mir sonst verhungerst weil du ja offensichtlich selbst nicht in der Lage bist dir etwas zu kochen." Eine Sekunde zuvor hatte ich noch gedacht, sie würde wieder die Holly sein die ich kannte. Aber schon im selben Atemzug wurde ich eines besseren belehrt. Sie war nach wie vor die seltsame, wütende Holly die um die Sonne namens David kreiste. Natürlich war ich nicht der Mittelpunkt ihres Lebens, das war mir schon klar, aber früher hätte sie mich umarmt, mir eine heiße Schokolade gemacht und mich aufgeheitert. Aber jetzt drehte sie einfach alles was ich sagte oder tat in einen Vorwurf. Ich wollte nicht, dass dieser aufgeblasene David aus meiner Lieblingscousine einen anderen Menschen machte.

Ich ging in mein Zimmer und machte Hausaufgaben, aber ich war nicht bei der Sache. Mein Stift flog über das Papier aber mit meinen Gedanken war ich immer noch bei den Ereignissen des heutigen Tages. Mein Kopf war voller unbeantworteter Fragen.

Warum hatte Mary mich mit der Bratpfanne geschlagen? Warum hatte ich offensichtlich ein Schlampen-image? Warum habe ich das ungute Gefühl, dass Alice nicht tot ist? Welches Geheimnis hütet David?...

Langsam bekam ich Kopfschmerzen. Offensichtlich war ich das Mobbingopfer des Schicksals. Keine Familie. Keine Freunde. Und als Krönung litt ich unter Verfolgungswahn der Person, die ich ermordet hatte. Ich musste dringend zum Psychologen. Der Geruch von Fleisch lockte mich zurück in die Küche. Holly hatte den Tisch gedeckt, die Einkäufe ausgeräumt und einen Salat auf den Tisch gestellt.

"Dein Teller steht auf dem Sideboard", erklärte Holly, dann setzten wir uns an den Tisch und aßen. Niemand sagte ein Wort und die Luft war zum Schneiden dick. Holly's Handy lag neben ihr und sie schrieb die ganze Zeit mit... David, wie ich an dem Bildschirm und an ihrem dämlichen Grinsen erkennen konnte. Deshalb war ich auch vor ihr fertig mit Essen und verzog mich ins Wohnzimmer, um den Fernseher anzuschalten. Ich zappte durch die Programme und stoppte bei "Französisch für Anfänger"- natürlich auf Englisch. Plötzlich merkte ich, dass mir Tränen die Wangen hinabliefen. Ich hatte solches Heimweh. Nachdem ich den Fernseher ausgemacht hatte, ging ich in mein Zimmer und checkte mein Whatsapp. Mary hatte mich geblockt und ich fühlte mich verarscht. Ich meine- wer hatte hier wen mit einer Bratpfanne vermöbelt? Andererseits hab ich ihr James ausgespannt. Dieser Gedanke kam irgendwo aus den Tiefen meines Bewusstseins, das war definitiv nicht meine Meinung! Sie war weder mit ihm zusammen gewesen noch hatte ich irgendwelche bösen Absichten gehabt. Trotzdem haben wir uns geküsst. Ähm nein, er hatte mich geküsst. Zu einem Kuss gehören immer zwei. Ich habe meine einzige Freundin hintergangen. 

Diese Stimme in meinem Kopf war nicht mein Gedankengang. Sie schien gegen mich zu arbeiten und welches Gehirn arbeitete schon gegen einen? Ernergisch schüttelte ich den Kopf. Ich wurde wirklich verrückt.

Stimmen der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt