KAPITEL 28 | SYDNEY

6.1K 544 194
                                    

AM LIEBSTEN HÄTTE ich laut »NEIN!« geschrien, denn ein anderes Wort scheint mein Gehirn in diesem Moment nicht zu kennen. Ich schüttle den Kopf, als mir Tränen in die Augen treten, die nichts weiter als ein Zeichen für Schwäche sind. Ich sollte jetzt stark sein. Für Dean, der meiner Meinung nach viel zu ruhig dafür aussieht, dass die Leute in diesem Raum bereits bemerkt haben, wer er ist, und die Polizei in nur wenigen Sekunden hier sein wird.

Sogar in Peters Augen glänzt es verdächtig. »Kolin liegt falsch. Du wirst nicht ins Gefängnis kommen, hörst du, Dean? Du kommst wieder genau hierher zurück.«

Bronwyn sieht ebenfalls so aus, als wäre sie kurz davor zu heulen, aber sie kann sich zurückhalten und umarmt Dean nur kurz. Danach dreht sie sich schnell von uns weg, aber ich weiß, dass sie es einfach nicht schafft, ihre neutrale Fassade aufrechtzuerhalten.

Dass sie und Peter es ebenfalls so sehr trifft wie mich, macht mich fast schon glücklich, auch wenn das seltsam klingt. Aber es freut mich, dass es Menschen gibt, die zu Dean halten, ihn in kürzester Zeit ins Herz geschlossen haben und nur das Beste für ihn wollen. Etwas anderes verdient er nicht.

Dean wird von so vielen Leuten verurteilt ─ ich gehörte anfangs ebenfalls dazu ─ aber letztendlich ist er in der Nacht, in der Hollyn starb, einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Ich kann nicht sagen, ob er der Mensch sein würde, der er heute ist, wenn Hollyn überhaupt nicht ermordet worden wäre, aber ich weiß, dass ich diesem Menschen hier absolut verfallen bin und nicht mehr ohne ihn sein will.

Ich hatte noch nie Zukunftspläne und mochte einen Kerl auch noch nie so sehr, dass ich ihn in meine Zukunft mit ein integrieren wollte, doch das hat sich vermutlich in dem Moment geändert, als Dean an meine Tür gehämmert hat. Oder als ich mit ihm zu Jeremy, meinem Bruder, geflohen bin und wir die ganze Nacht geredet haben. Oder als er mich zu seinem Lieblingsplatz in den Wald geführt hat und ich ihm quasi mein Herz ausgeschüttet habe. Vermutlich hat es jedes Wort, jedes Grübchen-Grinsen und jede Tat seinerseits gebraucht, damit ich mich in diesem Moment am liebsten wie ein Äffchen an ihn geklammert und nie wieder losgelassen hätte.

»Sydney?« Dean legt seine Hände an meine Schultern und schüttelt mich leicht, damit ich aus meinen Gedanken auftauchen kann. »Du musst mir jetzt gut zuhören.«

Ich nicke, obwohl ich am liebsten stur den Kopf geschüttelt hätte.

»Das Erste, was passieren wird, wenn ich weg bin, ist, dass alle Zimmer, die ich betreten habe, durchsucht werden. Das gilt auch für Peters Zimmer. Geh und hol die Videokamera und schau sie genau durch.« Die nächsten Worte scheinen ihm viel Überwindung zu kosten. »Zur Not kannst du auch Hunter um Hilfe bitten. Vielleicht weiß er, wie wir dieses Video finden.«

Hektisch sehe ich mich nach Kolin um, der auf einmal nirgends zu finden ist. Er wird doch wohl nicht gegangen sein und sich selbst die Kamera schnappen ...

Bronwyn und Peter rennen mit beachtlicher Geschwindigkeit aus dem Raum, da sie wahrscheinlich wie ich eins zu eins zusammenzählen konnten, aber ich denke nicht einmal daran, ihnen zu folgen. Ich muss zuerst etwas tun, das ich viel früher hätte tun sollen.

»Geh, Sydney«, ruft Dean energisch, als ich mich nicht bewege.

Ich schüttle den Kopf und stehe zu meiner Sturheit.

Er fährt sich nervös über das kantige Gesicht. »Was hält dich verdammt noch mal noch hier?«

Ich höre wie jemand gegen die Tür am anderen Ende des Raums tritt und die Leute um uns herum suchen noch mehr Abstand als ohnehin schon. Mich würde nichts hiervon abhalten.

Deans Stimme wird immer lauter und wütender. »Wieso suchst du nicht einfach das Weite so wie jeder andere auch? Warum bleibst du sogar jetzt bei mir, obwohl ich ─«

Bestimmt lege ich die Hände an Deans Hinterkopf, um ihn zu mir herunterzuziehen und ohne den Hauch eines Zögerns meine Lippen auf seine zu legen.

Nicht nur Dean gibt einen überraschten Laut von sich, sondern auch jeder andere in diesem Raum. Es ist mir egal, dass sie mich wahrscheinlich für verrückt halten, weil ich einen ›Mörder‹ küsse. Es ist mir egal, dass die Tür mit einem lauten Geräusch aufgeht und die Schritte der Polizisten näherkommen.

Das Einzige, das mir nicht egal ist, sind Deans Lippen, die den Kuss genauso bestimmt erwidern wie meine. Seine Arme umschließen mich, empfangen mich und halten mich warm, denn mir ist erstaunlich kalt geworden, seit ich die Sirenen gehört habe. Dean küsst mich, als wäre es das erste und letzte Mal und das macht mir Angst. Gleichzeitig prickelt mein ganzer Körper vor Verlangen, als ich den Mund leicht öffne und ich seine Zunge spüre.

Eins steht fest: Wir hätten das hier viel früher tun sollen.

Ich keuche auf, als er den Kuss vertieft, mich vollkommen einnimmt und mir einen der schönsten Augenblicke meines Lebens schenkt. Nichts anderes zählt abgesehen von seinen Lippen, die weich und fest zugleich sind. Ich ziehe leicht an seinen kurzen Haaren, die ich ihm vor ein paar Wochen geschnitten habe, und er seufzt leise. Warum haben wir bloß so lange gewartet? Fest steht, dass ich trotzdem nichts bedaure, denn dieser Moment ist absolut perfekt, auch wenn wir umgeben von verurteilenden Studenten und lauten Polizeisirenen sind.

Dean ist ein unglaublicher Küsser, sogar in einem Augenblick wie diesem. Ich will nicht, dass es aufhört. Meinetwegen kann er mich für immer küssen, wenn das bedeutet, dass er nicht geschnappt wird.

Beinahe in dem Moment, in dem ich das denke, wird er zum zweiten Mal in dieser Nacht von mir weggezogen, nur diesmal von einem Polizisten, der Deans Hände sofort hinter seinem Rücken mit Handschellen versehrt. Es geht unglaublich schnell, viel zu schnell. Ich habe kaum Zeit, um zu blinzeln, dann führen sie Dean bereits ab.

Er versucht sich umzudrehen, noch einen Blick auf mich zu erhaschen, aber er hat keine Chance. Der Officer zwingt ihn mit Gewalt seinen Kopf nach vorne zu richten.

Die Blicke der Studenten blende ich komplett aus. Mich interessieren ihre verurteilenden Augen nicht, die sich in mich brennen. Oder ihr Flüstern und Tuscheln, das nur mir gewidmet ist.

Ich sehe nur Dean nach, auch als ich ihn nicht einmal mehr sehen kann. Etwas in mir bricht, mein Herz wahrscheinlich. Jede einzelne Stelle in meinem Körper tut weh, nur meine Lippen prickeln immer noch. Schweratmend fasse ich mir an die Brust und stoße dabei einen undefinierbaren Laut aus, der die Qual meines Zustands nicht einmal ansatzweise beschreibt. Ich wusste, dass dieser Moment wehtun würde, aber dass er mich innerlich so sehr zerreißt, ist mir nicht klar gewesen. Ich will schreien, aber kein Ton verlässt meine Kehle. Ich will rennen, aber meine Beine bewegen sich keinen Zentimeter. Aber am meisten will ich zu Dean, auch wenn ich tief in meinem Inneren weiß, dass ich ihn so schnell nicht wiedersehen werde.

Dean Walker | ✓Where stories live. Discover now