No. 4

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Sie nippte an ihrer Kaffeetasse.
Beim Absetzten der Tasse rann ein Tropfen Kaffee am gelbfarbenden Porzellan herunter und hinterließ auf dem Holztisch einen hässlich Rand.
Sie nippte an ihrer Kaffeetasse.
Die koffeinhaltige, braune, warme Brühe behielt sie noch für einen Augenblick im Mund, schmeckte die etwas bittere Kaffeenote und schluckte den Schluck runter. Als Nachgeschmack bliebt eine etwas säuerliche Note im Mund.

Sie trug nur einen Slip und ein zu großes Schwarzes T-Shirt.
So saß sie in der Küche an einem offenen Fenster. Sie stand auf, setzte sich in die breite Fensterbank und guckte nach Draußen. Es war ein lauer Sommermorgen. Allerdings ziemlich bewölkte und schwüle Luft.
Vermutlich gewittert es nachher noch.
Sie guckte in die Ferne und wusste nichts, mit sich anzufangen. Sie zog die Knie an sich und legte den Kopf ab.
Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Sie rieb sich den Kopf.
War es ein Kopfschmerz? War es ein kühles, zerreißendes Gefühl der Angst?
Sie konnte es nicht auseinander halten.
Sie fühlte sich unendlich ausgemergelt. Jegliches Leben war fast aus ihr hinaus geglitten.
Sie machte einen langen Arm, griff zum Tisch.
Nippte an ihrer Kaffeetasse.
Dieses verdammte Getränk soll sie jetzt mal endlich wach machen!
Der mittlerweile kühle Kaffee schmeckte überhaupt nicht mehr.
Sie atmete laut aus, ging an die Spüle, wollte den Kaffee auskippen und aus den Augenwinkel sah sie die Handynummer von ihm an einem bereits abgegrabbelten Zettel am Kühlschrank kleben.
Keine Ahnung wer dieser Typ war.
Keine Ahnung wer sie war.

Sie nippte am Kaffee.

Am selben Abend fuhr sie mit dem Bus in die nächst größere Stadt, die zum Glück nur ein paar Kilometer entfernt lag.
Sie wischte sich die Haare aus dem kühl verschwitzten Gesicht und zog sich noch einmal mit einem dunkel rotem Lippenstift die Lippen nach. In der Hoffnung dieser würde ihr Selbstbewusstsein schenken. Nichts geschah.
Sie war groß, hatte lange blonde Haare, rotgeschminkte Lippen und dennoch war sie für andere Leute wie unsichtbar.
Ihre Schultern zog sie in einer Art Schutzhaltung nach vorn und machte einen runden Rücken.
Ausgehen? Was für eine bekloppte Idee!
Kaum war sie in der Stadt angekommen, stieg sie aus, ging über die Straße und wartet auf den nächsten Bus, der sie wieder in ihren ruhig gelegenen, schutzbringenden Vorort manövrierte.

Sie saß wie ein Häufchen Elend auf der Bank an der Bushaltestelle. Die Sonne kam heute tatsächlich nicht mehr raus, aber es gab auch kein Gewitter.
Sie schaute in den Himmel und beobachte die langsam vorbeiziehenden Wolken im Himmel.
Ihr war so unwohl, dass das schwarze Kleid ihr vor kühlem Angstschweiß am Körper klebte.

Sie schloss die Augen. Noch 35 Minuten bis der Bus endlich kam.
Noch 34 Minuten bis der Bus endlich kam. Sie streifte die mittlerweile strähnigen Haare zu einem Dutt. Eine blonde Strähne fiel ihr wieder ins Gesicht. Noch 34 Minuten bis der Bus kam.

Sie schloss die Augen und versuchte in sich hinein zu horchen. Sie versuchte in eine Art Meditation zu kommen, in der sie ihrer Angst ablegen konnte.
Ihr damaliger Psychologe hatte ihr das mal geraten. Schon ewig war sie nicht mehr in der Höhle der Meditation.

Sie hörte eine hübsche Frauenstimme lachen. Sie war angetrunken - das konnte man klar vernehmen.

Sie war fast in ihrer Höhle angelangt, bis sie da, von einer angetrunken, lachenden Frau raus gezerrt wurde. Sie blinzelte und öffnete ihre Augen. Sie saß wieder an der Bushaltestelle und sah auf der anderen Straßenseite eine lachende Frau.

So lernte sie Nancy kennen.
Nancy torkelte um einen Mann herum. Ihre langen schwarzen Haare lagen ihr um die nackten Schultern.
Sie trug hohe rote Schuhe, wodurch ihre Beine noch länger wirkten.
Nancy sah auf die andere Straßenseite und sah die blonde Frau, wie ein Häufchen Elend sitzend auf einer Bank.
Nancy blinzelte sie mit ihren hellblauen Augen an, als wollte sie sie eifersüchtig machen. Nur für einen kurzen Augenblick. Dann widmete sich Nancy wieder den jungen Mann.
Sie hielt sich an seinen Schultern fest und legte ihren Kopf nach hinten. Ihr Hals war gestreckt.
Der Mann, der in Nancys Gegenwart komplett in den Hintergrund verschwand, liebkoste Nancys gestreckten Hals.

Der Bus fuhr vor und so wurde sie unterbrochen, das schönste, was sie je gesehen hat, zu beobachten.
Sie setzte sich in den Bus und klemmte sich hinter das Fenster um Nancy noch einmal zu sehen.

Der Bus roch nach einer Mischung aus altem Sitzen, Menschenschweiß, kaltem Nikotin und hin und wieder kam eine Note scharfes Aftershave in ihre Nase.
Ekelhafter Geruch.

Zu Hause angekommen, goss sie sich ein halbes Glas Merlot ein und dachte an die schwarzhaarige Frau.

Sie nippte am Glas.

No. 1 - Das Ritual Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt