Der Untergang der Mary Sue

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„Das ist alles deine Schuld, Mary Sue."

Ich seufze und verdrehe meine wunderschönen Augen.

„Zum letzten Mal", erkläre ich Amora, die mich durch ihre Brillengläser hindurch wütend anfunkelt, „ich bin Mary Sue. Ich bin per Definition nicht dazu in der Lage, Fehler zu machen."

Es ist wirklich unglaublich, wie ignorant manche Menschen sind. Amora darf sich schon seit über einem Monat meiner Gesellschaft erfreuen und trotzdem hat sie immer noch begriffen, was es bedeutet eine Mary Sue zu sein. Nämlich unter anderem, dass ich eine Ausgeburt der Perfektion bin. Deswegen kann es gar nicht meine Schuld sein, dass wir bis zum Hals in tödlichem Treibstand stecken. Das ist simple Logik.

Amora schnaubt verächtlich.

„Ach so, verstehe", meint sie sarkastisch. „Uns in den sicheren Tod zu führen, war alles Teil deines genialen Masterplans."

Sie will eine Hand heben, um ihre Brille zurechtzurücken, aber ihre Arme sind fest vom Treibsand umschlossen. Also beschränkt sie sich darauf, mich stattdessen erneut wütend anzufunkeln. Ich schenke ihr ein wunderschönes Lächeln.

In diesem Moment spüre ich, wie sich etwas spitzes in mein Bein bohrt. Ich aktiviere meinen Röntgenblick und stelle leicht verärgert fest, dass sich im Treibsand zahllose Schlangen befinden und eine davon sich in meinem Bein verbissen hat. Ich schnalze ungehalten mit der Zunge und vernichte die Schlange durch einen gezielten Schuss meiner Laseraugen, bevor ich mich wieder unserem Gespräch zuwende.

„Du kannst doch sowieso jederzeit in eine andere Welt wechseln", merke ich an. „Ich verstehe nicht, weshalb du dich beschwerst."

Mein Bein fühlt sich plötzlich für einen kurzen Moment lang taub an. Ich horche in mein Innerstes hinein und stelle leicht amüsiert fest, dass die Schlange wohl ein tödliches Gift in meinen Körper injiziert haben muss. Niedlich. Weiß sie denn nicht, dass eine Mary Sue viel zu toll ist, um an Gift zu sterben?

„Aber ich kann niemanden mitnehmen, solange wir uns nicht berühren", entgegnet Amora zornig, „und ich kann Kass nicht einfach dem Tod überlassen."

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Dass sie auch immer gleich so dramatisch sein muss. Als würde das bisschen Treibsand oder die minimal tödlichen Giftschlangen darin einen gleich umbringen.

„Was ist mit mir?", fragt Kass und blinzelt. Sie steckt einige Meter von mir und Amora entfernt im Treibsand und wirkt ein wenig abwesend. Sand klebt an ihren dunklen Haaren.

„Tut mir leid, ich habe gerade meinen heimlichen Beobachter um Hilfe gebeten und deswegen nicht zugehört", sie lächelt entschuldigend und zieht dann eine Grimasse. „Er hat mich natürlich ignoriert. So wie immer."

Ich grinse. Ich mag Kassandra. Seit sie vor einer Woche zu uns gestoßen ist, um in einer anderen Welt nach ihrem unsichtbaren Stalker zu suchen, hat sie es tatsächlich geschafft, mir noch kein einziges Mal auf die Nerven zu gehen. Ich kenne nicht viele Leute, denen das bisher gelungen ist. Ich werfe Amora, die gerade mit aller Kraft dagegen ankämpft, weiter einzusinken, einen säuerlichen Blick zu. Kass weigert sich im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten auch nicht, meine unumstrittene Überlegenheit anzuerkennen. Außerdem lacht sie über meine Witze.

„Du wirkst erstaunlich ruhig angesichts der Tatsache, dass wir alle sterben könnten", meint Amora stirnrunzelnd an Kass gewandt.

Kass zuckt mit den Schultern oder versucht es zumindest, denn mittlerweile ist sie schon bis zum Kinn eingesunken.

„Ich bin immer noch nicht gänzlich davon überzeugt, dass das alles hier keine Halluzination ist", erklärt sie und lächelt milde. „Nach allem, was ich weiß, sitze ich möglicherweise immer noch in Doktor Linders Wartezimmer und bilde mir das alles hier nur ein. Es ist dumm, Angst zu haben, wenn sowieso nichts real ist", sie nickt zufrieden. „Ist es nicht sogar viel wahrscheinlicher, dass ich halluziniere, als dass ich von einem bösen Rattenkönig in eine Treibsandgrube geworfen worden bin, nachdem meine unnatürlich schöne und mächtige Freundin seinen Schnurrbart beleidigt hat?"

Unnatürlich schön und mächtig. Ich grinse geschmeichelt. Habe ich schon einmal erwähnt, dass ich Kassandra mag?

„Genau, Mary Sue", wendet sich Amora, die Kassandras Worte natürlich völlig fehlinterpretiert hat, an mich, „wie kann man nur so dumm sein, sich über den Schnurrbart des einzigen Herrschers dieser Welt lustig zu machen, der uns bisher noch nicht umbringen wollte?"

Ich ziehe einen Schmollmund.

„Er hat doch als erstes meine Haare kritisiert", rechtfertige ich mich. Zugegeben, ich habe etwas empfindlich reagiert, als der Rattenkönig mir eine magische Tinktur angeboten hat, die meine Haare innerhalb kürzester Zeit nachwachsen lassen könnte; aber ich habe es so satt, dass alle immer an meiner Frisur rummeckern müssen. Ich fahre mit einer Hand liebevoll durch meine engelsblonden Locken bis hin zu den angekokelten Spitzen. Obwohl Treibsand an meinen Fingern klebt, bleibt nichts davon an meinen Haarsträhnen hängen. Immerhin bin ich Mary Sue. Dass meine Haare immer perfekt sitzen, ist eine Art Naturgesetz.

„Außerdem war unsere Mission doch ein voller Erfolg", fahre ich fort. „Jetzt wissen wir mit Sicherheit, dass Kassandras gruseliger Stalker sich nicht in dieser Welt aufhält."

Was, wenn ich genauer darüber nachdenke, wirklich seltsam ist. Nachdem wir Kass kennenglernt haben, haben wir drei unsere Kräfte kombiniert, um in die Welt ihres Stalkers zu reisen. Aber jetzt, eine Woche, mehrere verbrannte Städte und einige versehentlich ausgelöste Aufstände später, müssen wir uns wohl eingestehen, dass er nicht hier ist. Irgendetwas ist schiefgelaufen, aber an welcher meiner Gefährtinnen das liegt, kann ich trotz meiner überragenden Talente beim besten Willen noch nicht sagen.

„Großartig", Amora verzieht das Gesicht. „Dann kann ich ja jetzt beruhigt sterben."

Ihre Stimme klingt seltsam hoch, da sie mittlerweile den Kopf in den Nacken legen muss, um zu verhindern, dass sich ihr Mund beim Sprechen mit Sand füllt.

„Autsch", schreit sie im nächsten Moment auf. „Irgendetwas hat mich gestochen."

Ich aktiviere erneut meinen Röntgenblick und sehe gerade noch, eine Schlange von Amora davonhuschen.

„Also gut", ich klatsche in die Hände. „Mir wird langweilig. Lasst uns etwas anderes machen."

Ich würde jetzt viel lieber einen Film anschauen, als im Treibsand zu versinken und – wie der Zufall es will – wartet in meiner Tasche eine brandneue DVD geradezu darauf, von mir konsumiert zu werden. Den Film habe ich mir aus der persönlichen Sammlung der Hamsterkönigin „ausgeliehen", woraufhin wir ein klitzekleines bisschen aus dem Hamsterkönigreich verbannt worden sind. Lange Geschichte.

Ich freue mich schon wahnsinnig darauf, endlich mal wieder einen Filmeabend einzulegen, auch wenn der Film wahrscheinlich nicht besonders gut sein wird, denn – seien wir ehrlich – Hamster sind nicht gerade die begnadetsten Schauspieler zwischen den Welten. Außerdem sollte ich mich vermutlich darum kümmern, das Gift, das Amora durch den Schlangenbiss injiziert worden ist, aus ihrem Körper zu entfernen, ehe es Schaden anrichtet. Ein weiterer Grund, nicht länger hierzubleiben – auch wenn mein Filmeabend natürlich Priorität hat.

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt