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Ich stoße mich vom Boden ab. Fliege nach oben, ohne mich um solche Kleinigkeiten wie Zimmerdecke oder Dach zu scheren. Das zweite Mal an diesem Tag steuere ich die Todesinsel an.

Ich finde Doktor Klischee genauso wie ich ihn zurückgelassen habe. In seinem Käfig sitzend und vor sich hin jammernd. Ich verziehe meine perfekt geformten Lippen zu einem verächtlichen Lächeln. Was für eine erbärmliche Kreatur. Und so jemand hatte die Macht, darüber zu bestimmen, wie ich meine Zeit verbringe. Aber das gehört ab jetzt endgültig der Vergangenheit an.

„Mary Sue!", ruft er entsetzt als er mich sieht. „Was hast du mit deinen wunderschönen Haaren gemacht? Schnell, in meinem Labor sollten noch eine Schere und Haarpflegeprodukte zu finden sein", fügt er drängend hinzu. „Wenn wir uns beeilen, können wir sie vielleicht noch rett-"

„Schweig!"

Ich trete nah an den Käfig heran und beuge mich mit einer grazilen Bewegung zu ihm hinunter. Doktor Klischee weicht unwillkürlich ein Stück zurück.

„Ich bin heute zu einer wichtigen Erkenntnis gelangt: Ich habe es satt, ständig lieb, nett und selbstlos zu sein – die Heldin, die selbst immer zu kurz kommt, weil sie ihre eigenen Wünsche und Interessen dem Allgemeinwohl opfern muss! Es ist Zeit, dass ich mich selbst an erste Stelle setze! Ab heute werde ich tun und lassen, was auch immer ich will – und keiner wird mich daran hindern. Was mich nun zu dir bringt, Klischee", ich schenke ihm ein wunderschönes Lächeln und, als ich weiterspreche, ist meine Stimme ganz sanft: „Ich bin hier, um dich vor die Wahl zu stellen: Diene mir oder stirb."

Angst schleicht sich in Doktor Klischees Gesicht. Ich lächle. Endlich verstehe ich, warum Superschurken immer ihre bösen Pläne erklären wollen. Dieser Anblick von Angst ist einfach unbezahlbar.

„Aber ... aber das darfst du nicht, Mary Sue", widerspricht er mit bebender Stimme. „Du bist doch Mary Sue. Du bist die Gute."

„Nicht mehr", mein Tonfall ist kalt und unbarmherzig. Ich war viel zu lange gut.

„Aber wer wird die Superschurken bekämpfen, wenn nicht du?"

„In Zukunft wird es nur noch einen einzigen Superschurken geben", mein Lächeln ist erbarmungslos, „und sein Name lautet Mary Sue."



Eine Woche später ...

Ich räkle mich erwartungsvoll auf meiner Couch. Aus dem Fernsehen erklingt die Anfangsmelodie einer neuen Folge Game of Thrones. Ich grinse. Das Tolle am Bösesein ist, dass man sich einen feuchten Dreck um Ausleihfristen scheren muss. Wenn sich jemand beschwert, jage ich einfach den ganzen Laden in die Luft.

Doktor Klischee betritt den Raum. Den Kopf respektvoll geneigt. In der Hand hält er eine riesige Tüte Popcorn.

„Herrin." Unterwürfig streckt er mir das Popcorn entgegen. Mit einem huldvollen Nicken nehme ich es an mich, woraufhin Klischee aus dem Raum huscht. Ich widme meine ganze Aufmerksamkeit dem Film. Niemand wird es wagen, mich die nächsten Stunden zu stören. Immerhin bin ich Mary Sue. Kriegerin, Schurkin, Weltherrscherin. Auch wenn ich für Letzteres fast eine ganze Woche gebraucht habe. Ich lächle. Es ist ein wundervolles Lächeln. Das schönste Lächeln der Welt auf dem Gesicht eines Monsters.

Der Gedanke gefällt mir.

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt