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Fünf Minuten später räkle ich mich wieder zufrieden auf meiner Couch. Das Popcorn ist kalt geworden, aber das ist jetzt nebensächlich. Ich habe es tatsächlich rechtzeitig geschafft! Wenn ich ohne Pause durchschaue, kann ich die komplette Staffel schaffen, bevor ich sie wieder zurückgeben muss. Vergnügt drücke ich auf die Fernbedienung und lasse die Serie weiterlaufen. Während ich nebenher Popcorn mampfe, genieße ich Krieg, Verrat und Mord auf dem Bildschirm. Ich seufze wohlig. So sollte mein Leben immer aussehen!

Gerade als eine besonders grausame Folterszene gezeigt wird und ich vor Spannung fast platze, reißt mich ein verhasstes Geräusch zurück in die Wirklichkeit: Das Klingeln an der Haustür! Ich springe auf die Beine und fauche wütend. Das kann doch nicht deren Ernst sein! Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich einen Klang so sehr verabscheut. Wütend pausiere ich den Film, stampfe zur Haustür und reiße sie auf.

Auf meiner Türschwelle steht eine abgemagerte Frau in exotischer Kleidung, die ein kleines Kind auf dem Arm hält.

„Mary Sue, du musst uns helfen", erklärt sie ohne Umschweife. „Wir sind die letzten Überlebenden eines antiken Volkes, das sich dem Schutz der Natur verschrieben hat, und – "

„Das ist jetzt ein schlechter Witz, oder?", brülle ich sie an. „Ist es wirklich zu viel verlangt mich in Ruhe zu lassen? Nur ein einziges Mal? Nur für einen einzigen Tag?!?"

Die Frau schrumpft unter meinem zornigen Blick zusammen und das Kind auf ihrem Arm beginnt zu weinen. Aber ich bin noch lange nicht fertig!

„Was habe ich eigentlich verbrochen?", fauche ich. „Ständig wollen alle etwas von mir. Mary Sue tu dies, Mary Sue tu jenes. Glauben die Leute wirklich, ich habe nichts Besseres zu tun, als ständig die Welt zu retten?!? Ich habe auch ein Leben! Ich will doch einfach nur in Ruhe meine Serien schauen!"

„Aber Mary Sue, du musst uns helfen", fleht die Frau mit Tränen in den Augen.

„Ach ja?", ich funkle sie wütend an. „Muss ich das? Ich bin Mary Sue! Ich kann mit dem kleinen Finger einen Blauwal anheben und mit einem einzigen Blick eine ganze Armee auslöschen. Ich bin die beliebteste, schönste und mächtigste Person auf dieser Welt. Wieso um Himmels Willen muss ausgerechnet ich immer springen, wenn irgendjemand etwas will?"

Ich halte inne. Erst nachdem ich diese Worte ausgesprochen habe, wird mir bewusst, wie wahr sie doch sind. Wieso habe ich noch nie zuvor darüber nachgedacht? Ich bin Mary Sue! Niemand kann mich zu irgendetwas zwingen. Ein Grinsen schleicht sich in mein Gesicht. Es muss ziemlich unheimlich aussehen, denn die Frau zuckt vor mir zurück, als hätte sie sich verbrannt. Gut so!

Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um und schmeiße die Haustür hinter mir zu. Vor dem Spiegel in der Diele bleibe ich stehen. Ich fahre mit der Hand sanft durch meine Locken. Wie schön sie sind. So lang und geschmeidig. Wie sie mir perfekt über die Schultern fallen. Ich grinse. Dann feuere ich aus meinen Augen einen Laserstrahl ab, der vom Spiegel reflektiert wird. Verkokelte Haarsträhnen fallen zu Boden; ein ekelerregender Gestank steigt mir in die Nase.

Ich lache, als ich meine neue Frisur sehe. Der Laserstrahl hat meine Haare ungleichmäßig abgeschnitten. Auf der einen Seite gehen sie mir noch fast über die Schulter, während sie auf der anderen Seite nun knapp unter meinem Ohr aufhören. Die Spitzen sind verkohlt. Es sieht fürchterlich aus. Nicht wie die Haare eine Mary Sue.

Ich grinse erneut.

Zeit der Welt eine neue Mary Sue zu präsentieren.

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt