Die Rache der Mary Sue

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Mary Sue: Unter dem Begriff „Mary Sue" versteht man eine idealisierte, vermeintlich perfekte Figur. Diese zeichnet sich durch zahlreiche positive Eigenschaften sowie eine große Anzahl an (unrealistischen) Fähigkeiten und Talenten aus, während es an Schwächen und Charakterfehlern jeglicher Art mangelt. Mary Sues werden von Rezipienten meist als unglaubwürdig und nervtötend empfunden, weshalb sie beim Schreiben einer Geschichte unbedingt vermieden werden sollten.

„Du bist das Licht meines Lebens, Mary Sue. Wenn ich die Augen schließe, kann ich nur an dich denken. Ich kann nicht mehr schlafen, nicht essen. Ich liebe dich, Mary Sue!"

Ich betrachte den Jungen, der vor meiner Haustür steht, skeptisch. Wie sämtliche meiner Verehrer ist groß, muskulös und gutaussehend. Mit schmachtendem Blick starrt er mich an, während er mir selbstbewusst einen Strauß scharlachrote Rosen entgegenstreckt. Wie sämtliche meiner Verehrer langweilt er mich bereits jetzt schon maßlos.

Er kommt einen Schritt auf mich zu. Sein Atem streicht unangenehm feucht über meine Wange, als er sich vorbeugt, um mir ins Ohr zu säuseln: „Wir sind Seelenverwandte – wie füreinander gemacht. Ich liebe dich, Mary Sue! Ich habe dich schon immer geliebt!"

Sein Blick hat bei diesen Worten eine Intensität angenommen, die mir leider nur allzu vertraut ist. Ich erwäge, ihn mir mit meinen Super-Ninja-Karate-Künsten vom Hals zu halten, verwerfe den Gedanken dann aber wieder. Schließlich bin ich Mary Sue und somit die netteste, liebste und verständnisvollste Person, die je existiert hat. Außerdem kann ich ihm wohl kaum einen Vorwurf daraus machen, meinen Reizen verfallen zu sein. Immerhin bin ich auch die schönste Person, die je existiert hat. Also klatsche ich mir stattdessen ein Lächeln ins Gesicht und schiebe ihn sanft und zugleich energisch ein Stück von mir weg.

„Du bedeutest mir mehr als mein eigenes Leben", fährt er unbeeindruckt fort und fasst sich mit einer theatralischen Geste an die Brust. „Nur wegen dir fühle ich mich wieder vollständig."

„Das ist absolut verständlich", sage ich betont freundlich und füge dann rasch hinzu: „Wer warst du nochmal?"

Sein Gesicht kommt mir vage bekannt vor, auf eine Weise wie einem der Postbote oder der Verkäufer im Supermarkt bekannt vorkommt. Nur, dass der Postbote meistens nicht an meiner Tür klingelt, um mir aus heiterem Himmel ein Liebesgeständnis zu machen.

Einen Moment starrt er mich verdutzt an. Dann beginnt er zu lachen.

„Ach Mary Sue, du bist so witzig", sagt er und kommt zu meinem Leidwesen wieder ein Stückchen näher, bevor er mit bebender Stimme fortfährt: „Und so wunderschön. Das strahlende Blau deiner Augen lässt jeden Sommerhimmel vor Neid erblassen; dein golden glänzendes Haar, das sich in perfekten Wellen engelsgleich deinen schlanken Hals entlang ergießt; deine makellose Haut, die – "

„Hör mal", unterbreche ich ihn: „So sehr ich es auch liebe, auf mein zugegebenermaßen unglaublich attraktives Äußeres reduziert zu werden, habe ich heute wirklich keine Zeit dafür. Also wenn du später wiederkommen würdest ... vielleicht so in zwei- oder dreihundert Jahren."

Ich mache Anstalten, die Tür zu schließen. Leider ist er schneller und stellt seinen Fuß in den Weg. Verdammt! Ich hätte meine Super-Geschwindigkeit benutzten sollen. Jetzt kann ich die Tür nicht mehr zu machen, ohne seinen Fuß zu zerquetschen. Und das wäre nun wirklich unhöflich.

„Ich habe dir Blumen mitgebracht", sagt er. Er schenkt mir ein strahlendes Lächeln und setzt diesen belämmerten Gesichtsausdruck auf, den nur Verliebte zeigen. „Als Symbol unserer ewigen Liebe."

Widerwillig nehme ich die Rosen entgegen.

„Danke schön", zwinge ich mich mit einem höflichen Lächeln zu sagen. „Das ist wirklich ... nett ... von dir ... ähm ... Junge ..."

Die Chroniken der durchgeknallten WeltenreisendenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt