Der Brief ist beendet

En başından başla
                                    

Sie waren gerade in der fünften Runde, als auf einmal Schwester Juliane den Kopf zur Tür hereinstreckte.
„Sahra?" Sahra blickte auf. „Du hast in Fünf Minuten dein Gespräch bei Frau Zeimer."
„Okay", sagte sie kurz angebunden, da ihr wieder der Brief in den Sinn kam. Schwester Juliane ging und überließ den Jugendlichen wieder sich selbst.
Nach der Runde, Sahra hatte verloren, stand sie auf und verließ den Gemeinschaftsraum. Sie machte noch einen kurzen Abstecher in ihr Zimmer und holte den Umschlag, dann lief sie zu Frau Zeimers Büro. Sie klopfte und wurde hereingerufen. Ihre Psychologin saß auf ihrem großen Bürostuhl hinter ihrem Schreibtisch und schrieb noch schnell etwas auf einem Blatt zu Ende, dann blickte sie auf. Sahra betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. Sie ging zum Schreibtisch und ließ sich auf den für sie vorgesehenen Stuhl fallen. Frau Zeimer sah sie kurz schweigend an, dann eröffnete sie das Gespräch: „Und, wie geht es dir?" Sie sah Sahra durch ihre Brille freundlich mit diesem „Ich-bin-Psychologe-und-will-dir-helfen"-Blick an und wartete auf eine Antwort. Sie holte leise aber tief Luft und brachte ein: „Ganz gut" heraus und schaffte es sogar zu lächeln. Doch das war gelogen. Seit Monaten schon war das eine Lüge. Eigentlich ging es ihr überhaupt nicht gut und trotzdem sagte sie es jedem, der es hören wollte. Sie hätte zwar auch die Wahrheit sagen können, dass sie sich mies fühlte und vor Verzweiflung am liebsten geweint hätte doch schwieg sie. Sie hatte angst, dass man sie sonst nur noch länger hier behalten würde und das war das Letzte, was sie wollte.
Wobei... jetzt gerade war da keine Verzweiflung in ihr. Momentan fühlte sie sich einfach nur... leer. Sie fühlte nichts oder konnte zumindest nicht einordnen, was sie im Moment fühlte. Kein wirklich positiver und auch kein wirklich negativer Gedanke. In ihr klaffte ein großes, schwarzes Loch, dass all ihre Gedanken verschlang und nichts als Leere zurückließ.
Sie lächelte weiter.
„Das ist schön, dass es dir gut geht", sagte Frau Zeimer und lächelte ebenfalls. Sie beugte sich leicht nach vorne. „Bist du mit dem fertig geworden, um das ich dich gebeten habe?"
Wortlos hielt Sahra den prallen Briefumschlag hoch und legte ihn auf dem Schreibtisch vor sich ab.
„Sehr gut", wurde sie gelobt. „Wie war es für dich das alles aufzuschreiben?"
Sie zögerte. Sollte sie wirklich die Wahrheit sagen? Ja, da war nichts schlimmes dabei.
„Also ich habe oft geweint. Es war, als würde ich das alles noch mal durchleben, nur dieses Mal war ich eher ein Zuschauer als die betroffenen Person."
„Aha okay. Und würdest du sagen, dass es dir geholfen hat dir das alles noch mal in Erinnerung zu rufen?"
Wieder zögerte sie. Sie überlegte.
„Ich weiß nicht", sagte sie schließlich. Frau Zeimer nickte. „Okay. Darf ich den Brief behalten? Ich würde ihn dann zu deiner Akte legen." Sahra schob den Brief über den Tisch zu ihrer Psychologin, die ihn nahm und beiseite legte. Sie war sich sicher, dass Frau Zeimer ihn lesen würde, doch das war ihr egal. Sie wusste eh schon alles, sie kannte ihre ganze Geschichte.
„Gut. Also Sahra, du weißt, dass du nächste Woche Montag entlassen wirst. Freust du dich darüber?" Dieses Mal war das Lächeln auf ihrem Gesicht nicht gestellt als sie antwortete.
„Oh ja." Oh ja und wie sie sich freute. Endlich keine Überwachung mehr, endlich wieder ihr eigenes Zimmer, endlich wieder Handy und Computer, endlich wieder ihre Freundinnen. Auch Frau Zeimer lächelte ehe sie weiter sprach: „Ich muss sagen Sahra, du hast dich in deiner Zeit hier sehr gut entwickelt. Du hast zugenommen, dein Zielgewicht erreicht und bist zu einem sehr hübschen Mädchen geworden. Kannst du das auch selber sehen?"
Langsam nickte sie, korrigierte sich dann allerdings schnell: „Also naja, als „schön" würde ich mich jetzt nicht gerade bezeichnen, äh, aber ich weiß was sie meinen." Für einige Sekunden wurde es still im Raum, dann fragte Frau Zeimer: „Hat Ana dich in letzter Zeit wieder besucht?"
Sahra musste schlucken. Ana. Alleine ihren Namen zu hören jagte ihr einen Schauder den Rücken runter. Ana. Der vermenschlichte Name von Anorexia Nervosa. Anorexia Nervosa, Magersucht. Magersucht, das, woran sie erkrankt war. Sie schüttelte den Kopf. Wieder lächelte ihre Psychologin.
„Das ist wirklich gut. Vermisst du sie denn manchmal?" Sahra ließ sich ausgesprochen viel Zeit um zu antworten, dann sagte sie: „Also naja... auf der einen Seite war es schon irgendwie cool, dass sich mein Kopf eine eigenständige Person eingebildet hat, aber auf der anderen Seite war es echt verdammt gruselig wie real sie doch war. Was sie alles wusste, wie selbstständig sie war und wie gemein sie teilweise zu mir war. Also das werde ich auf jeden Fall nicht vermissen." Sie lachte kurz gespielt auf. Frau Zeimer nickte, dann stellte sie die nächste Frage: „Und, was wirst du machen, wenn du wieder zuhause bist?" Jetzt musste sie wirklich grinsen.
„Also vermutlich erst mal alle YouTube Videos nachholen die ich verpasst habe und eine Menge Netflix gucken. Dann auf jeden Fall werde ich mich mit Laila und Maria treffen und versuchen den Schulstoff so gut es geht nachzuholen."
„Und essen?" Ihr Grinsen fror ein und gedanklich biss sie sich auf die Unterlippe. Doch schnell sagte sie: „Ich will versuchen normal zu essen." Frau Zeimer lächelte wieder.
„Das ist super. Okay, von mir war es das soweit. Gibt es noch etwas worüber du reden möchtest?" Sahra schüttelte den Kopf. „Nein."
„Gut, dann darfst du gehen." Sie erhob sich und verließ das Büro. Die Leere die in ihr geherrscht hatte wurde jetzt mit einem kleinen Glücksgefühl gegüllt, wenn sie an ihre Entlassung dachte. Sie würde Alicia zwar vermissen, die beiden hatten sich sehr gut verstanden, aber sie nahm sich vor Kontakt mit ihr zu halten.

Die restlichen Tage, die sie im Klinikum verbrachte flossen schnell dahin. Der Tag ihrer Entlassung rückte immer näher und das kleine Glücksgefühl in ihr schwoll mit jedem Tag der passierte weiter an. Dann endlich am nächsten Montag, dem Fünfundzwanzigsten Mai, stand sie mit gepackten Taschen im Korridor und wartete darauf, dass ihre Mutter kam. Als dann endlich die Tür geöffnet wurde und Marlene eintrat umarmte Sahra sie freudig zur Begrüßung. Sie verabschiedete sich noch lang und breit von Alicia und den anderen ehe sie ihre vollen Taschen nahm und mit ihrer Mutter zum Auto ging. Sie verstauten alles im Kofferraum und begannen eine knapp zweistündige Autofahrt nach Hause. Sie durften nicht so viel trödeln, denn Sahra musste am nächsten Tag, dem Dienstag, direkt wieder in die Schule und sollte deswegen nicht zu spät ins Bett gehen. So fuhren sie die Autobahn entlang, unterhielten sich, hörten Radio und Marlene erzählte ihrer Tochter Neuigkeiten von denen Sahra in der Klinik nichts mitbekommen konnte.
Manchmal schaute sie auch einfach nur aus dem Fenster und freute sich darüber endlich auf dem Weg nach Hause zu sein.

Einmal Ana, immer Ana.Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin