„Sie haben ihr Ziel erreicht"

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Sahra schlug die Augen auf. Es war Sonntag, Zwei Monate später. In ihrem Zimmer war es noch dunkel. Sie tastete nach ihrem Handy und überprüfte die Uhrzeit. 5:34 Uhr. Sie stöhnte auf. Das war viel zu früh! Wieso war sie bitte jetzt schon aufgewacht? Verdammt noch mal, es war Wochenende! Da durfte sie doch so lange schlafen, wie sie wollte. Doch dann merkte sie etwas. Ihr Unterleib drückte ein wenig und ihre Blase meldete sich. Sie musste auf Toilette. Langsam stemmte sie sich aus dem Bett und schaltete ihre Lampe an. Dann stand sie auf und schlich leise ins Bad. Sie betätigte den Lichtschalter und kniff die Augen vor dem grellen Licht zusammen. Sie klappte den Klodeckel hoch und setzte sich auf die Toilette, doch dann sah sie es.
Auf ihrer Slipeinlage war ein großer, dunkelroter Fleck. Sie seufzte. Sie hatte ihre Tage bekommen. Die Slipeinlage wanderte in den Müll und stattdessen klebte sie sich eine Binde in den Schlüpfer. Daher kam also das unangenehme Drücken in ihrem Unterleib.
Zurück in ihrem Zimmer untersuchte sie ihr Bettlaken nach möglichen Blutflecken, aber fand keine. Erleichterung machte sich in ihr breit. Sie war also zum Glück nicht komplett ausgelaufen. Gerade wollte sie sich wieder hinlegen, da fiel ihr etwas ein: Wo sie doch schon einmal wach war, konnte sie sich auch gleich wiegen. Also ging sie leise wieder ins Bad und stellte die Waage auf den Boden. Kurz zögerte sie. War es wirklich sinnvoll sich jetzt überhaupt zu wiegen? Sie hatte ja ihre Periode bekommen, da konnte das Gewicht schon mal sehr stark schwanken. Letzten Monat zum Beispiel, da hatte sie eigentlich 51,5 Kilogramm gewogen, doch als sie dann ihre Tage hatte, waren es plötzlich 52,4 Kilogramm, fast ein Kilo mehr!
„Viertes Gebot Sahra", flüsterte ihre innere Stimme, „du musst dich wiegen." Also stellte sie sich doch auf die Platte. 51,1 Kilogramm. Sie strahlte. Wenn sie den einen Kilo (wegen der Periode) abzog, käme sie auf fast genau 50 Kilogramm! Ihr Gewichtsziel! Sie hatte es geschafft, sie hatte ihr Ziel erreicht. Grinsend stellte sie die Waage zurück und zog ihren Schlafanzug aus. Sie wollte sich vor den Spiegel stellen und nach Veränderungen an ihrem Körper schauen. Freudig trat sie vor den Spiegel und begutachtete sich. Doch langsam schwand das Lächeln aus ihrem Gesicht.
Da war keine Veränderung. Ihr Körper sah noch genauso aus wie vor knapp drei Monaten, als sie das erste Mal vor dem Spiegel stand und sich kritisch anschaute. Ihr Bauch war noch immer gewölbt, ihre Beine noch immer fett und die Arme waren auch nicht besser geworden. Kurz gesagt: Sie sah genauso aus wie vorher. Aber wie konnte das sein? Sie hatte doch ein paar Kilos abgenommen, warum sah sie dann keine Veränderung? Enttäuscht zog sie sich wieder an und trottete zurück in ihr Zimmer. Sie legte sich in ihr Bett und löschte das Licht. Warum war sie immer noch fett?

Ich stehe wieder in dem weißen Raum. Es ist warm und behaglich. Doch dieses Mal ist Ana nicht hinter mir, nein, sie steht genau vor mir. Sie lächelt mich an. „Hey Sahra." Ich lächle kurz zurück, „Hey", doch dann wird mein Gesicht wieder zu einer traurigen Miene. Sie kommt ein paar Schritte auf mich zu und hält vor mir inne. „Möchtest du mir erzählen, warum du so niedergeschlagen bist?", fragt sie mich. Ich seufze. „Das weißt du doch eh schon."
„Das vielleicht, aber ich möchte es von dir persönlich hören." Sie hebt mein Kinn an und lächelt mir aufmunternd zu. Ich fange an zu erklären: „Also, ich habe mich gerade eben gewogen und auf der Waage stand 51,1 Kilogramm. Dadurch, dass ich meine Tage habe ist das Gewicht natürlich verfälscht und deswegen wiege ich bestimmt eigentlich schon knapp Fünfzig Kilogramm. Darüber hab ich mich erst richtig gefreut, da ich ja mein Ziel erreicht habe, aber als ich mich dann im Spiegel betrachtet habe, habe ich keinen Unterschied bemerkt. Ich sehe noch genauso aus wie vorher, noch genauso dick." Betrübt senke ich den Kopf. Ana streicht mir über den Arm. „Keine Sorge, das bekommen wir hin. Zusammen. Du musst einfach noch ein wenig mehr abnehmen. Du wirst sehen, dann bist du auch dünner." Ich blicke wieder auf.
„Wirklich?", frage ich.
„Ja, wirklich", sagt sie und lächelt mich warm an. Jetzt lächle ich auch und umarme sie. Nachdem ich sie loslasse stelle ich ihr eine Frage, die mich schon seit längerem beschäftigt: „Sag mal Ana, wie viel wiegst du eigentlich?" Ihr Lächeln wird breiter. „Ich? Ich wiege Fünfundvierzig Kilogramm, warum fragst du?"
„Nun ja, wenn ich so viel wöge wie du, wäre ich doch vielleicht auch so dünn wie du, oder?" Ihr Lächeln verbreitet sich noch mehr, sodass es schon fast gruselig aussieht. „Das finden wir wohl nur heraus, wenn du es ausprobierst, nicht wahr?" Langsam nicke ich.
Ja, mein Ziel wird Anas Gewicht, Fünfundvierzig Kilogramm, sein, dann bin ich bestimmt auch dünn. Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. „Ich bin stolz auf dich, dass du, obwohl du dein eigentliches Ziel erreicht hast, weitermachen möchtest. Du hörst nicht auf, du gibst nicht auf, du willst weitermachen. Das ist sehr gut Sahra." Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Sie ist stolz auf mich. Darüber freue ich mich sehr.
„Ich will einfach so schön werden wie du. So perfekt wie du. Das ist mein größter Traum." Sie streicht mir über die Schulter. „Das wirst du schaffen. Zur Perfektion ist es ein langer Weg, aber du wirst ihn bewältigen. Zusammen werden wir es schaffen dich zum Ziel zu bringen. Zur Perfektion." Ich umarme sie glücklich. Ana wird mir helfen perfekt zu werden. Ana wird an meiner Seite bleiben. Ana wird mit mir zusammen den langen Weg zur Perfektion beschreiten. Darüber bin ich wirklich froh.
„Sahra", sagt sie und wir lösen die Umarmung wieder. Sie legt beide Hände auf meine Schultern und schaut mir fest in die Augen.
„Ja?"
„Stay strong." Ich lächle und erwidere: „Stay strong."

Als Sahra am Sonntag das zweite Mal aufwachte war es bereits kurz nach 11 Uhr. Sie hörte ihre Mutter, wie sie im Flur staubsaugte und stöhnte auf. Dieses Geräusch war so abgrundtief nervig! Langsam richtete sie sich auf und suchte ihr Handy. Dann schlurfte sie aus ihrem Zimmer, an ihrer Mutter vorbei, ins Bad. Sie ging auf Toilette und wechselte die Binde. Müde kämmte sie sich die zerstruppelten Haare und ging in die Küche um zu frühstücken. Ein Brötchen mit Butter (220 Kalorien) und Zwei Gläser Saft (130 Kalorien). Dann ging sie zurück in ihr Zimmer. Sie würde jetzt ein paar Sit Ups machen und danach konnte sie sich nach Lust und Laune mit Netflix beschäftigen.

Doch heute konnte sie sich nicht so recht auf die Serien konzentrieren. Ihre Gedanken kreisten um ihr Gewicht. Und um ihre Körperfigur. Sie hatte ihr Gewichtsziel von Fünfzig Kilogramm erreicht. Sogar in der Zeit, die sie sich vorgenommen hatte. Alles super, alles gut. Naja, wohl doch nicht. Denn an ihrem Körper hatte sich rein gar nichts getan. Keinerlei Veränderung. Sie sah noch genauso aus wie zuvor.
Missmutig starrte Sahra auf den Bildschirm, ohne das gezeigte Video aber wirklich wahrzunehmen. Sie war noch immer dick. Sie war noch immer fett. Sie war noch immer weit von der Perfektion entfernt. Doch das würde sie ändern. Sie würde an ihrem Körper etwas ändern und dann sähe sie so aus wie Ana. So schlank, so zart, so rein, so perfekt. Das war ihr Ziel. Fünfundvierzig Kilogramm, Anas Gewicht. Das war ihr Ziel. So zu werden wie Ana.
Um sich in ihrem Beschluss zu bestärken machte sie gleich noch einmal Zwanzig Sit Ups. Dann, als sie merkte, dass sie sich noch immer nicht wirklich entspannen konnte, klappte sie ihren Laptop zu und kramte auf ihrem zugemüllten Schreibtisch nach ihrem Notizbuch. Ana hatte ihr vor Zwei oder Drei Wochen dazu geraten ein Ess-Tagebuch anzulegen. Da sollte sie dann jeden Tag ihr Gewicht, ihr Essen, die Kalorien, den Sport den sie gemacht hatte und auch ihre Gefühle aufschreiben.
Sie schrieb das Datum des heutigen Tages hin. Eine Zeile darunter trug sie ihr Gewicht von heute Morgen, 51,1 Kilogramm, ein. Dahinter schrieb sie in Klammern „Periode". Somit wusste sie, dass das Gewicht nicht ganz der Wahrheit entsprach und sie getrost einen Kilo abziehen konnte. Dann vermerkte sie ihr Frühstück. Darunter ließ sie zwei Zeilen frei, für Mittagessen und Abendbrot und noch eine weitere für den Sport, den sie heute gemacht hat und noch machen wird. Jetzt schrieb sie ihre Gefühle auf. Kurz überlegte sie, wie sie sich am besten formulieren sollte, dann setzte sie den Kugelschreiber auf und legte los. Zuerst kam ein „Gefühle Morgens" und dahinter ein Doppelpunkt. Dann schrieb sie los.
„Heute Morgen bin ich schon extremst früh aufgewacht. Es war erst halb Sechs, aber es hatte auch seinen Vorteil. Ich habe meine Tage bekommen und konnte durch das Aufstehen verhindern, dass ich mein Bett voll blute, also Glück gehabt. Ich habe mich danach auch gewogen und ich habe mich riesig gefreut: Ich habe sozusagen mein Zielgewicht von Fünfzig Kilogramm erreicht! Ja ich weiß, oben steht „51,1", aber dadurch, dass ich meine Periode habe, wiege ich ja mehr als normalerweise. Das heißt also, wenn ich den einen Kilo abziehe, bin ich bei fast Fünfzig Kilogramm! Ich habe mich darüber total gefreut, doch als ich dann vor dem Spiegel stand und mich betrachtete, habe ich absolut keinen Unterschied gesehen. Ich bin noch genauso dick wie vorher und das hat mich Stimmungstechnisch wirklich stark runtergezogen. Dann habe ich wieder von Ana geträumt und habe sie nach ihrem Gewicht gefragt. Sie wiegt 45 Kilogramm. Und das habe ich mir jetzt als neues Ziel genommen. Ich will auf 45 Kilogramm, auf Anas Gewicht, kommen, denn dann werde ich doch bestimmt auch so dünn sein wie sie, oder? Nun gut, soviel zu heute Morgen. Mal schauen, ob ich später noch mal etwas schreiben werde. Bis dahin, Adios."
Sie schrieb den letzten Satz zu Ende und schloss das Notizbuch wieder. Sie legte es neben sich auf die Couch und schmiss den Kugelschreiber irgendwohin auf ihren Schreibtisch. Er klapperte laut, rollte ein Stück und fiel zu Boden. Mit einem genervten Seufzen stand sie auf und hob den Stift auf. Dann legte sie ihn in das Chaos auf ihrem Schreibtisch. Gerade wollte sie sich zurück auf die Couch setzen, da klopfte es an ihrer Tür und Marlene trat ein.
„Es gibt Essen", verkündete sie. Sahra folgte ihrer Mutter in die Küche. Es gab Schweineschnitzel und Pommes. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Ihr Lieblingsessen. Doch halt!
„Nicht zu viel essen Sahra, nicht zu viel essen", ermahnte sie ihre innere Stimme. Aber sie hatte Hunger und das war ihr Lieblingsessen! Außerdem hatte sie ihr Ziel erreicht, da durfte sie sich doch wohl mal etwas gönnen. Sie nahm sich das größte Schnitzel aus der Pfanne und tat sich dazu eine große Portion Pommes auf.
„Das hab ich mir verdient", redete sie sich ein.

Einmal Ana, immer Ana.Où les histoires vivent. Découvrez maintenant